Graue Gesichter vor grauen Plattenbauten in natürlich grauem Nieselregen – Bilder von Ostdeutschland in Medien und westdeutschen Köpfen

(ein kleiner Rant von Anneli Borchert)

Letzten Winter hat mich eine Bekannte aus Westdeutschland in Dresden besucht. Sie fahre, äußerte sie, zum ersten Mal in den Osten und hoffe, dass trotz der 5 Grad minus „alles klappe, mit Strom und so“. Als ich daraufhin witzelte, sie habe Glück, diesmal seien die Rohre nicht eingefroren und wir hätten deshalb sogar mal fliessend Wasser, hat sie das erschreckenderweise nicht als Witz verstanden. Das hat mich schon irritiert.

Noch verstörter war ich, als ich ihr Dresden zeigte und sie immer wieder äußerte „Das hätte ich ja nicht gedacht, ihr habt ja hier richtige Häuser!“ (… what) und „Das ist ja voll schön hier, wirklich schön, ich bin erstaunt!“ Auf die Frage, warum sie das überrasche, dass es in Dresden schön sei, meinte sie: „Ich dachte halt, ihr wohnt hier alle in Plattenbauten, weil ihr doch alle arbeitslos seid.“

Für den Moment war ich wirklich geflasht davon, dass eine gebildete, kulturell interessierte Person nicht nur derart vorurteilsbehaftet ist, sondern sich nicht mal dafür schämt, derartige Blödigkeiten auch noch rauszuhauen (statt nur still zu denken).

Zunächst mal, 30 Jahre nach der Wende immer noch „nie im Osten gewesen“ zu sein ist halt doch eigentlich schon peinlich, oder? Ich meine hallo, das ist Ostdeutschland und nicht Südamerika jetzt. Man braucht kein halbes Jahr oder so, um herzukommen und sich zu vergewissern, ob wir nun nur Plattenbauten (etwas, dass  es im Westen ja so überhaupt nicht gibt) haben oder doch vielleicht auch paar schöne Landschaften (die Chefin einer Freundin neulich zu ihr ganz erstaunt: „Ich habe ja gehört im Osten soll es sogar auch ein paar schöne Ecken geben?“ – really…) und eventuell sogar Kulturstädte. Ich meine, hallo, Dresden zum Beispiel, das ist nicht Hinterhermsdorf, jedeR hat schonmal vom Zwinger gehört, und man kennt doch die Bilder von der Brühlschen Terrasse, von der Gemäldegalerie und der Semperoper, oder nicht?

Leider ist meine Bekannte da nicht die einzige Person, die es noch nie für nötig gehalten hat, sich Ostdeutschland mal anzuschauen, weil es da eh nichts zu sehen gibt außer halt Plattenbauten, in denen ungebildete, kulturlose Menschen wohnen.

Aber wer ist eigentlich der kulturlose, ungebildete Mensch hier, wenn die Person noch nie von Dresdens Bauten gehört hat?

Und dann der Soli, natürlich. Wir standen gerade vor der Frauenkirche, als es in ihrem Gesicht langsam dämmerte: „Das haben ja eigentlich alles wir bezahlt, ne, mit unserem Soli.“ Nee, sag ich, die Frauenkirche wurde garantiert nicht vom Soli bezahlt, sondern mit grösstenteils privaten Geldern, und davon mal ab fliesst auch nur ein Drittel des Soli in den Osten, und wir zahlen den Soli übrigens auch, aber egal, egal, wen interessieren schon Fakten, wenn er oder sie sich mal richtig als was Besseres fühlen kann?

Dazu kommen, gerade nach der letzten Wahl, die unerträglichen Berichterstattungen in den Medien, reihenweise Artikel und Reportagen, in denen „tapfere Reporter“ sich „aufmachen um zu erfahren, wie die Ostdeutschen ticken“. Man könnte jetzt sagen, weisste, wenn Du 30 Jahre nach der Wende immer noch nicht weisst, wie Ostdeutsche so drauf sind (anders, auf jeden Fall ganz ganz ganz anders als alle anderen Menschen, eigentlich ja schon fast keine Menschen mehr), dann stell doch in Deinem Scheissmagazin einfach mal paar ostdeutsche Menschen in der Redaktion ein, aber nein. Da wird lieber die hunderttausendste als Reportage getarnte Expeditionsreise geschrieben, überall auch diese demonstrativ zur Schau gestellte Aufgeregtheit „hach, wir wissen auch so gaaar nicht, was uns erwartet“, grad noch, dass die ReporterInnen ihren Tropenhelm nicht mitgenommen haben. Jedes Mal dieses Getue, als reise man in eine Kolonie, fremder, fremder Dschungel, was für Stämme wohl dort wohnen, und ob diese kulturlosen Menschen, deren Sprache man nicht spricht, vielleicht sogar schon über das Stadium der Menschenfresserei raus sind, eventuell gar in „richtigen Häusern“ wohnen? Wir wissen es nicht, aber wir werden es erfahren.

Diese Artikel enden regelmäßig an Orten wie dem Bautzner Marktplatz, wo sich die ReporterInnen dann zu den „merkwürdigen Dialekt sprechenden“ (merke: in Ostdeutschland sprechen nämlich alle sächsisch) „abgehängten Männern“ setzen, die dort Bier aus der Flasche trinken, allgemein sehr hoffnungslos sind und wo alle immer „graue Gesichter“ haben, denn das haben in Ostdeutschland ja alle, graue Gesichter. Sorry, euch eure Illusionen zu nehmen, aber Ostdeutschland besteht nicht nur aus der Ecke am Bautzner Marktplatz, an der die abgehängten Typen saufen (es gibt übrigens auch eine Burg und ein Museum, da könnte man auch mal reingehen und Leute treffen, aber egal). Ich fahre doch auch nicht auf „Expedition“ in den Westen, setz mich in Köln-Porz vor den Lidl zu den Säufern und schreibe dann „das ist der Westen“. Ich bin erstaunt, dass eine solche Berichterstattung keinem peinlich zu sein scheint. Aber nee, der Osten besteht ja nur aus Hoffnungslosigkeit, grauen Gesichtern und Pegida. Womit wir beim nächsten Punkt sind.

Ich hab neulich einen Typen kennengelernt, der kommt eigentlich aus Hamburg. Er ist wegen der Arbeit hierhergezogen (ja, man höre und staune, hier sind nicht alle arbeitslos, krass, ne?) und hat mich ziemlich angenervt mit seiner Leier von „Oh Gott, es ist ja alles so schlimm hier, mit der AfD und Pegida und alles, das geht ja mal gar nicht, diese Entwicklung ist ganz schlimm, wenn das so weitergeht ziehe ich wieder zurück nach Hamburg, das ist ja nicht zum aushalten hier“. Laberlaberrhabarber. Das von einem jungen, weißen, heterosexuellen, nichtbehinderten Mann, man fragt sich: was hält der bitte nicht aus hier? Wo hat der hier bitte was zu leiden? Wenn sowas von einer schwarzen Frau käme, vollste Zustimmung, aber mit welchem Recht jammert einer, der per definitionem das Privileg an sich verkörpert hier über Diskriminierung rum? Wo bitte wird der hier in seiner Selbstverwirklichung auch nur irgendwie tangiert? Der passt doch, vor allem in seiner nichtvorhandenen Selbstreflektion, ganz super in die rechte Stimmung hier.

Und zweitens, woher kommt das eigentlich, herkommen, sich nirgendwo einbringen, nix dazutun – auch nix dagegentun, nie auf einer Antipegidademo gewesen sein (denn ja, die gibt es auch, oh, nein, Fehler, sorry, ich vergass, es gibt hier NUR Pegida, wir bestehen quasi aus Pegida) und dann rumheulen wie ein Kolonialherr, der sich das ungebildete Stammesvolk anschaut, schlimm, schlimm, nicht zum aushalten hier, und eine Heizung haben sie auch nicht.

Mich kotzt dieses demonstrativ zur Schau gestellte Leiden am Osten dermaßen an. Der Begriff „besorgte Bürger“ hat sich bereits etabliert, aber was mich genauso nervt wie die „besorgten Bürger“ sind die „über besorgte Bürger besorgte Bürger“. Alle sind immer ganz besorgt. Besorgt über die „Entwicklung im Osten“. Weil die ganz schlimm ist. Als gäbe es in Westdeutschland keine „besorgten Bürger“, nee, die wohnen alle im Osten. Komisch nur, dass ich, wenn ich in Westdeutschland bin und meine feministische Bubble mal verlasse, dieselben ekelhaften Sprüche über die „Zigeuner, die in den Fussgängerzonen betteln und stehlen, das Pack“ höre wie wenn ich in Dresden bin.

Die ganzen Nazis, die AfD´ler und Rechten, sie wohnen nämlich im Osten.

In Hamburg gibt es keine AfD-Städtegruppen, in Stuttgart kein Pegida, rechts wählen nur abgehängte Ostdeutsche in Plattenbauten, in süddeutschen Kleinstädten mit nahezu Vollbeschäftigung gibt es ja quasi keine rechten Wahlerfolge, existiert nicht, nie, kommt einfach nicht vor. (Welchen Grund bzw. welche Ausrede haben die dafür eigentlich, für ihre AfD-Erfolge? Der ostdeutsche graue Nieselregen kann es in der süddeutschen Kleinstadt ja nicht sein.)

Es ist ja nicht so, dass viele MünchnerInnen froh sind, dass sie in der Enklave München leben und nicht in Restbayern, es ist nicht so, dass bayerische Männer auf dem Land dieselben Stammtischparolen raushauen wie man sie hier in Ostdeutschland hört (nur dass die Bayern dabei Leder- statt Jogginghosen tragen und ihr Bier nicht aus der Flasche trinken), nein nein. Es ist nicht so, dass das, was die CSU so raushaut, dasselbe ist wie das was die AfD sagt, auf gar keinen Fall ist das dasselbe nur in grün, nee, gibt’s nicht, und außerdem, in Bayern und anderswo hat das ja Traditiohooon und ist ja Kultuhuuur, was bei uns in Ostdeutschland dann eben KulturLOSigkeit ist. Spannend. In Herne und anderswo gibt es auch keine von Neonazis kontrollierten Gebiete, nein, No-Go-Areas gibt’s nur im Osten und nirgendwo sonst, wir haben alle von der netten Dortmunder Willkommenskultur gehört, dort ist es Brauch, den Flüchtlingen Licht zu machen, indem man Asylantenheime anzündet, aber hey, immerhin Feuer, schön warm und hell, ganz anders als im kalten, kalten Dunkeldeutschland.

Aber vielleicht vertu ich mich auch grad, ich ungebildetes Ostkind, vielleicht liegt Dortmund ja im Osten, das würde einiges erklären, mal schauen, gibt es da Plattenbauten und graue Gesichter? Dann wäre der Fall immerhin wieder klar.

Dieses demonstrative „Besorgtsein“ über „all die Nazis in Ostdeutschland“ hat viel zu oft die Funktion, von den eigenen Nazis (egal ob AfD, „besorgter Bürger“, Stammtischheinz, CSU oder „traditionell bayerischer Konservatismus“) abzulenken. Diese Projektion, fällt mir auf, ist fast schon pathologisch. Wer all die Rechten gedanklich nach Osten (Verzeihung, nach Sachsen, denn „der Osten“ IST ja quasi Sachsen) abschieben kann, der muss nicht mehr vor der eigenen Haustür fegen und sich auch nicht mehr damit auseinandersetzen, dass viel zu oft Sprüche, die nach ostdeutscher AfD klingen, von westdeutschen FDP-lerInnen oder CDU-lerInnen kommen.

Davon mal ab, es gibt sowas wie „Sozialrassismus“, gebildete Kulturmenschen können das ja mal nachschlagen, bevor sie zu ihrer nächsten Ostexpedition aufbrechen und darüber erstaunt sind, dass es in einer der schönsten Städte Europas, Dresden, hübsche Gebäude gibt, ja, wir haben hier „richtige Häuser“ (und Strom! Und fliessend Wasser!), habt ihr gedacht wir campieren alle in Bautzen auf dem Markplatz, oder was?

Naja, das sind halt wir, mit unseren grauen Gesichtern, lasst doch noch bissl Soli rüberwachsen bitte, unsere ostdeutschen Männer müssen sich ja auf dem Marktplatz vor den Plattenbauten besaufen und Bier ist teuer, wenn man arbeitslos ist, und das sind wir hier alle, weil wir alle so hoffnungslos sind. Ich geh jetzt mal mitsaufen, weil von nüscht kommt nüscht, und so ein graues Gesicht muss hart erarbeitet werden, so isses hier, alles grau, graue Gesichter, graue Plattenbauten, grauer Nieselregen, ein Leben in den verschiedensten Grautönen. Aber wenigstens sehen wir in all dem uns umgebenden Grau noch ein paar Grauabstufungen – und das ist mir immer noch lieber, als nur Schwarz und Weiss zu sehen. In diesem Sinne: tschüssi und bis bald.

 

© Anneli Borchert, April 2018

 

 

 

11 Kommentare

  1. Gabypsilon

    Ich musste zwischendurch noch mal zum Anfang zurückgehen, um nochmal zu lesen, wen Anneli Borchert da zu Gast hatte. Eine „Bekannte“, keine gute, vertraute Freundin also. Das hat mich etwas beruhigt beim Weiterlesen dieses toll geschriebenen Artikels. Meine Güte, womit befassen sich manche Menschen eigentlich, wenn sie jemanden zuhause besuchen? Vielleicht bereisen sie aber auch ferne, ihnen fremde Länder so? Im Rucksack eine Menge Vorurteile, Halbwissen oder gänzlich uninformiert. Kann ich auch im Frühjahr eine Scheibe Dresdner Stollen haben, bitte. Oder wird der etwa nur zur Adventszeit verkauft? 😉

  2. Diese Vorurteile und Projektionen werden eifrigst von den Medien bedient und immer wieder neu aufgekocht und serviert. Wir leben in einem „Alle gegen Alle“, wobei der/das „Schlechtere“ immer (IMMER! ) der/das Andere ist. Das ständige Urteilen, Vorverurteilen, Projizieren, und sich selbst dann „erhöhen“ erlebe ich jedoch eigentlich zwischen ALLEM und ALLEN. Ehefrauen gegen Geschiedene, Junge gegen Alte, Männer gegen Frauen, Reiche gegen Arme, etc. etc. Sich von allen andern zu Distanzieren und seine eigenen Vorurteile zu Pampern und zu pflegen scheint das neue „Intelligent“ zu sein. Like oder Nicht-like, das ist hier die Frage. Sich abgrenzen und sich selbst erhöhen (auf Kosten der andern) ist ein Kennzeichen von Narzissmus. Kein Wunder wird diese Epoche als „die Narzisstische Generation“ in die Annalen eingehen.
    Der Artikel ist ausgezeichnet. Die Ignoranz und die Vorurteile treffen jedoch eben nicht NUR auf den Osten Deutschlands zu, sondern scheint DER Gesprächsstoff überall zu sein. Keine echte Neugier, kein Wissen wollen; dafür ein Riesen-Koffer voller (Vor)-Urteile und Kritik.

  3. Ähnlich ist es auch mit der Berichterstattung zu Osteuropa. Wobei es natürlich sehr wichtig ist, über autoritäre Entwicklungen in Polen, Ungarn usw. zu berichten. Aber manchen scheint nicht klar zu sein, dass das nicht mehr „der graue Ostblock“ ist. Der Rechtsruck in der EU wird auch oft dort verortet, während die Rechten in Italien, Frankreich, Österreich oder Schweiz doch schon viel länger existieren und genauso gefährlich sind.

  4. Das ist schon traurig, dass nach so vielen Jahren noch immer solche Ignoranz vorhanden ist! Das hat mich damals in den 90igern schon wütend gemacht…
    Interessanter Artikel.

  5. DAS war jetzt sowas von klasse, sauber und intelligent geschrieben ohne in die „Hau drauf“ Falle zu laufen und nimmt allen den Wind aus den Segeln. Yvonne’s Kommentar war ebenso gut.
    Hat mir echt sehr viel Freude gemacht das zu lesen.
    Uuuuund du kennst dich als Ostdeutsche ja richtig gut aus in Westdeutschland, hast du das deine Bekannte wissen lassen?
    Sie hätte den Mund bestimmt nicht mehr zubekommen.

  6. Liselotte

    Guter Artikel 🙂
    Yvonnes Kommentar finde ich auch super!

  7. Anne Süss

    Herzerfrischend! Hätte es besser nicht schreiben können!

  8. Angelika

    Danke Danke Danke Danke Danke
    sooo gut geschrieben und beobachtet *herz*

    genau und überhaupt, das mit den fakten und so, das stört ja nur, bei der pflege und verbreitung der (eigenen) wessi-vorurteile, dem rassismus, der misogynie usw. usf. (ironie off)
    und nur nebenbei als fakt und beispiel, die meisten idiotären, und mit waffen, hocken im reaktionären bayern !1!!!
    und diese (wessi-)medien-macher, auch nur nebenbei, die weiterhin in sog. antik-kaiserlicher-tradition dieses divide-et-impera / teile-und-herrsche betreiben sind in dld., nachgewiesen, zu je ca. 80% menner („old, pale and stale“)
    #metoo
    solidarische grüsse

  9. R. Bücker

    Dieser Artikel tat richtig gut. Ich bin geborene Ostdeutsche und fühle ostdeutsch. Ich wohne schon Jahrzehnte im Westen und fühle mich dieser Großkotzigkeit und Ignoranz immer wieder ausgesetzt. Ich sage dann immer: baut die Grenze wieder auf, dann bin ich ganz schnell wieder drüben. Leider habe ich nicht die Wahl, wenn ich diese hätte, würde ich wieder Ostdeutschland wählen. Ich finde mich in diesem verlogenen, oberflächlichen, von Männern dominierten Land nicht wohl und fühle mich in meinen „Frauen“ – Menschenrechten fast täglich verletzt.

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