Inhaltshinweis: In diesem Artikel werden physische, psychische, sexuelle Gewalttaten beschrieben.
Was haben die Berichterstattungen und politischen Debatten als Reaktion auf die sexuelle Gewalt in Köln und anderen Großstädten mit #ausnahmslos gemein? Die Betroffenen selbst, ihre Geschichten kommen nicht zu Wort. Was an #ausnahmslos nicht reicht, wurde ja schon geschrieben und dass #ausnahmslos Opfern der kommerziellen sexuellen Gewalt wie eine Farce vorkommt, hat Zora kurz und prägnant zusammengefasst. Nein, es geht mir nicht um ein Bashing oder das Nichtanerkennen einer solchen Aktion. Jede Aktion, die sexuelle Gewalt in die Öffentlichkeit pusht, ist wichtig. Kritisieren darf man sie dennoch.
Also: Betroffene. Wo sind sie? Wo sind die Statements wie zur #aufschrei-Debatte von vor drei Jahren? Ich lese sie nicht. Dabei hätten gerade Menschen mit entsprechender Publicity und einem gewissen Standing im hiesigen Feminismus und der Medienlandschaft die besten Voraussetzungen, diese Geschichten, statt sich selbst, in den Fokus zu rücken. Das hat sogar die Huffington Post begriffen.
Meine Gedanken kreisen derzeit mehr als sonst um jene Menschen, ausnahmslos Frauen, denen ich begegnet bin und die mir ihre Geschichten, ihre Biografien offenbart haben. Aber die scheinen, gemessen an den Reaktionen in der Öffentlichkeit, niemals da gewesen zu sein. Jedenfalls erweckt das Gros der medialen Berichterstattung den Eindruck, als sei sexuelle Gewalt ganz was Neues, etwas nie Dagewesenes. Komisch, ich scheine auf einem anderen Planeten zu leben: Ich selbst habe seit der Kindheit Gewalt jedweder Form erfahren und diese Frauen im Laufe meines Lebens kennengelernt:
Annes Vater hatte ihre Mutter vor ihren Augen verprügelt und vergewaltigt und sie als kleines Mädchen erst sexuell belästigt, mit 6 Jahren das erste Mal vergewaltigt. Wutanfälle waren genauso an der Tagesordnung wie permanente Herabwertungen und die körperliche und sexuelle Gewalt. Ihre Mutter wusste von der Gewalt, die er auch gegen die Tochter ausübte, es gelang ihr jedoch erst viele Jahre später, da war Anne 16, sich und ihre Tochter zu schützen und sich aus dieser Gewaltbeziehung zu befreien. Sie lernte einen neuen Mann kennen, mit dem auch Anne sich sehr gut verstand. Ihre Mutter und sie blühten auf. Das ertrug der Vater respektive Ex-Mann nicht. Er bedrohte und belästigte die Mutter und Anne weiterhin. Er fing sie ab auf Schulwegen, Wegen zum Sport und dgl., um sie weiterhin massiv zu verprügeln und zu vergewaltigen. Alle Bemühungen, gerichtlich gegen diese Taten vorzugehen, schlugen fehl, weil sie entweder schlicht und egreifend eingestellt wurden oder in allen Befragungen mit alt-bekannten Mythen hantiert wurde. Anne und ihre Mutter und ihr neuer Mann zogen – mal wieder – weg. Das war ihre einzige Möglichkeit, sich zu schützen. Einmal traf ich sie noch im Zug, sie strahlte, ihre Arme: übersäht mit Narben. „Es geht mir sehr gut“ sagte sie und unsere Wege trennten sich wieder.
Nina wuchs mit einer Schwester in einer sehr katholischen Familie auf. Der Vater war cholerisch, er warf seine Tochter regelmäßig an die Wand. Aus einer der Misshandlungen resultierte eine komplexe neurologische Folgeerkrankung. Die Vergewaltigungen begannen mit ca. 5, eine daraus resultierende Schwangerschaft konnte aufgrund der katholischen „Werte“ nicht durch eine Abtreibung beendet werden, ein Kind durfte aber natürlich auch nicht her, also versuchte der Vater selbst „irgendwas“, damit sich das Problem erledigt. Nina kam mit massivsten Verletzungen in ein Krankenhaus und wäre fast daran gestorben. Die Folge: Das hysterische Kind musste erstmal in die Psychiatrie. Wer sich sowas antut, der kann kann ja nicht ganz dicht sein. Der Vater hatte mit all dem natürlich nichts zu tun. Obwohl es in Ninas Fall zu einer Strafverfolgung wegen sexueller Gewalt gekommen war (Ergebnis: Bewährungsstrafe), also die sexuelle Gewalt – auch beim Jugendamt – aktenkundig wurde, sah man daran nichts Problematisches, den Vater mit der kleinen Schwester in eine Villa auf Madeira zu schicken. Seine Freunde aus der Kirchenarbeit fuhren mit in den Urlaub.
Lydias Stiefvater (der leibliche war gestorben) fixierte sie und ihre Schwester jeden Abend mit Gürteln ans Bett, damit sie nicht so stören und weil er es so lustig fand, wenn sie durch die Enge der Fixierung kaum Luft bekamen. Wenn sie aufgrund der Unmöglichkeit, eine Toilette aufzuschen, einnässten, dachte er sich weitere sadistisch motivierte Maßnahmen aus. Sexuelle Gewalt war an der Tagesordnung. In einer Klinik empfahl man ihr, sich an das das Zentrum für Folteropfer zu wenden, die würden sich auskennen mit solchen Formen der Gewalt. In Kliniken wurde sie jahrelang fehl-diagnostiziert und entsprechend nicht adäquat behandelt und stattdessen mit Hochdosen Psychopharmaka vollgestopft, unter deren Nebenwirkungen (Dyskinesien) sie zeit ihres Lebens litt. Lydia wurde berentet. Heute lebt sie nicht mehr, sie beging Suizid.
Lisa beging mit 11 ihren ersten Suizidversuch, ein Suzidversuch im Alter von 20 leitete die Ära vieler und langer (und unnötiger) Klinikaufenthalte in Psychiatrien ein. Niemand wusste, was ihr eigentlich fehlt. Sie verstümmelte sich mit Rasierklingen, verabreichte sich Medikamente und Hormone, um Krankheiten zu induzieren und hatte Bulimie. Im Kontakt mit einer versierten Therapeutin konnte die sexuelle Gewalt, die sie seit frühester Kindheit durch den Vater und Freunde vom Vater erlitten hatte, thematisiert werden. Der Einbezug ihres Bruders in dieses Wissen führte dazu, dass er sie anhielt, über die Vorfälle (weiter) zu schweigen. Und dass das ohnehin nicht stimmen könne, False Memory-Syndrom, Täterin: die Therapeutin. Also machte man weiter wie bisher. Der Kontakt zum Elternhaus und vermutlich auch die sexuelle Gewalt blieben bis zu ihrem Suzid bestehen. Sie war berentet.
Susanne wurde ab dem Kleinkindalter von ihrem Vater und Freunden der Familie sexuell, physisch und psychisch gefoltert und in einer satanischen Sekte sadistischen Ritualen unterzogen. Sie entwickelte eine dissoziative Identitätsstörung als Überlebensmuster, die jahrelang nicht erkannt wurde und entsprechend fehl-diagnostiziert wurde. Sie wurde jahrelang mit Psychopharmaka (zwangs)behandelt. Sie ist erwerbsunfähig und bezieht Grundsicherung.
Christina wurde von ihrem Freund vergewaltigt, als sie ihm gegenüber Trennungsabsichten äußerte.
Tanjas Cousin zwang sie über einen Zeitraum von 2 Jahren zum Oral“sex“. Als es anfing, war sie 7. Als sie im Erwachsenenalter ihren Eltern davon erzählte, fingen diese an zu weinen und baten sie, das Thema in der Familie nicht publik zu machen sprich den Täter nicht zu outen.
Das sind die Geschichten von Frauen, die in Deutschland bereits vor der Silvesternacht 2015/2016 stattgefunden haben und von unseren ach so zivilisierten aufgeklärten weiß-deutschen Männern verübt wurden. Und es sind längst nicht alle, die ich kenne.
Viele dieser Frauen leben, ja, wenn sie noch leben muss man ja zynischerweise sagen, in prekären Verhältnissen, haben chronische Krankheiten, Schmerzsyndrome, Panikattacken, Depressionen, Suchterkrankungen, verletzen sich selbst, finden keine Therapieplätze und/oder keine Möglichkeit, die Therapie zu finanzieren. Ihnen wird nicht geglaubt, sie re-inszenieren die erlebten Traumata und können gesellschaftlich nicht partizipieren.
Street Harassment, sexuelle Belästigung, am Arbeitsplatz, Antatschen im öffentlichen Nahverkehr: stinknormaler Alltag für Frauen in Deutschland. Jede Frau, die ich nach ihren Erfahrungen gefragt habe, wusste mir eine oder mehrere Vorfälle dazu zu berichten.
Gewalt gegen Lesben: Alltag, niemand spricht darüber. Nichts scheint für Männer einen so großen Affront darzustellen wie die Tatsache, dass Frauen ihr sexuelles Begehren ohne Männer und ihr Heiligtum Penis ausrichten. Zeig dich an den falschen Stellen in Deutschland offen lesbisch und du erntest die mehr oder weniger in Humor verpackten Vergewaltigungsandrohungen á la „komm, du musst nur mal ordentlich gefickt werden, dann weißt du auch (wieder), wie geil wir Typen sind“. „Ah geil, gleich zwei auf einmal. Lesbenporno. Lust?“. „Ey guck mal – Fingerzeig auf Hosenstall – ist das nicht besser?“ Tausendmal gehört. Beleidigungen, Belästigungen und Gewaltandrohungen gegen Lesben verüben: überwiegend Männer (und nicht unsere biederen Mitmenschen und Omis, die mit dem Zeitgeist nicht mitgekommen sind oder sich moralisch empören).
Ich kann es nicht mehr hören und es tut mir weh: Ich fühle mich mit meiner eigenen Gewaltgeschichte und im Hinblick auf die Schicksale, denen ich begegnet bin, schlichtweg nicht gesehen und ernst genommen, wenn die Kölner Vorfälle suggerieren, wir hätten da plötzlich ein ganz neues Phänomen zu bewältigen.
Richtig und wichtig finde ich, die sexuelle Gewalt, die Frauen jetzt angetan wurde, die ihnen immer angetan wurde, in den absoluten Fokus zu rücken und die Antirassismus-Arbeit nicht über den Kampf gegen sexuelle Gewalt zu stellen. Richtig und wichtig finde ich, das Patriarchat zu adressieren, die männliche Gewalt und den Frauenhass, der von Männern ausgeht, zu benennen. Denn die Täter sind in der überwiegenden Mehrheit: Männer. Und die haben zur Verantwortung gezogen zu werden: #ausnahmslos.
Es ist wichtig, eine breite Debatte über sexuelle Gewalt zu führen. Dafür müssen wir Betroffenen zuhören, ihren Geschichten Raum geben und unsere uneingeschränkte Solidarität zeigen – mit allen Konsequenzen: #ausnahmslos.
Bei den Erfahrungsberichten wurden quantitative Angaben verändert, um die Anonymität der Frauen sicher zu stellen.