Die Brille, die eine trägt

Klatschmohn

Klatschmohn [Public Domain], via PIxabay

Wir wollen den feministischen Diskurs beleben und unterschiedliche Ansätze zur Diskussion stellen. Deshalb erscheinen bei uns regelmäßig Gastbeiträge, die nicht zwangsläufig die Haltung der oder aller Störenfriedas wiedergeben, aber wichtige Impulse für die feministische Debatte geben können.

Abschalten. Das war mein erklärtes Ziel, als ich in den Flieger gestiegen bin.

Einfach mal andere Dinge ansehen und lesen. Konzentrieren auf das Schöne, das Unbelastete, das Schwerelose. Weg von Patriarchat, Kapitalismus, Ausbeutung und der Beschäftigung damit.

Das eigene Trauma irgendwo parken, wo es keine Gelegenheit hat, mitzureisen.

Eine schöne Utopie.

Der Radikalfeminismus hat mich verändert.

Der Radikalfeminismus hat mich be- und gestärkt. Er hat mich erfüllt, mein Herz erweitert, meinen Geist befüllt und belebt. Mit dem Packen des Patriacharts an der Wurzel konnte ich wieder erstarken.

Und vom Objekt zum Subjekt werden.

Mit jeder Erweiterung und Veränderung des Wissens sehe ich die Welt und die Gesellschaft weiter. Klarer. Deutlicher. Großflächiger. Analytischer. Anders.

Ich trage diese feministische Brille und durch diese sehe ich die Welt und die Gesellschaft in einem anderen Licht. In diesem Licht steht unsägliches Leid: Das Patriarchat und seine Nutznießer. Vergewaltigung. Sexuelle Gewalt. Die sexuelle Versklavung und Ausbeutung von Frauen und Kindern. Folter.

Tagtägliche Angriffe auf die Menschenwürde.

Im Urlaub, so dachte ich, setze ich diese Brille einfach ab.

Ich laufe durch die Flughafen-Halle, diese unendlich langen Flure und frage mich, wieviele Frauen und Kinder hier schon gewaltvoll durchgeschleust wurden und gerade werden.

Ich frage mich auf dem Rollband, ob das Mädchen und der Mann da vor mir Vater und Tochter sind. Oder misshandelnder Vater und Tochter. Oder Menschenhändler und Mädchen. Oder Pornograph und Mädchen: Folter möchte von und für Sadisten dokumentiert werden. In Film und Ton und Bild.

Ich frage mich, ob dieses Mädchen vor mir, ich habe ein komisches Gefühl, in seinem jungen Leben schon vergewaltigt wurde. Und wie oft.

Feministisches Ur-Misstrauen als logische Konsequenz auf die alltägliche Hölle.

Meine Brille sitzt fest auf der Nase.

Wieso sollte ich mich diese Dinge auch nicht fragen?

Wieso sollte ich mich diese Dinge auch nicht fragen, wenn ich weiß, wie viele Frauen in ihrem Leben sexuelle Gewalt erfahren?

Wenn ich weiß, dass mein Heimatland das Bordell Europas (geworden) ist: Ein florierendes, lukratives Zentrum für Menschenhandel und kommerzielle sexuelle Ausbeutung. Der perfekte Ort für bezahlte Folter, die ein Milliardengeschäft stellt. Und für Drahtzieher, die in Deutschlands Kameras grinsen.

Wenn ich weiß, dass ausnahmslos diejenigen dafür herhalten, die die
Schwächsten sind, bezogen auf Geschlecht, race und Klasse. Bezogen auf dysfunktionale, ausbeuterische Kindheiten. Bezogen auf gehabtes Pech, dem Deutschland die Absolution für rücksichtlose Ausbeutung erteilt. Denn Pech ist ein wichtiges Mittel zum Zweck.

Wenn ich weiß, dass die Negation dessen Omnipräsenz genießt.

In der Innenstadt der Großstadt ist reges Treiben. Menschen in Hülle und Fülle; TouristInnen, VerkäuferInnen, Einheimische, sie alle teilen sich die Straßen, die schönen Gebäude, die Lichter und das Gesicht der Stadt. Ich weiß, dass dieses fröhlich-laute Treffen und die vielen in der Luft liegenden Wörter ein stolzer und selbstbewusster Teil dieser Stadt sind. Ich weiß auch, dass dieser Teil der Riesenmund ist, in dem die Schwächsten verschluckt werden.

Ich weiß, wo die „Rotlicht-Viertel“ sind. Wie viele Prostituierte die Stadt hat. Ob Prostitution „reguliert“ ist. Welche Unterschiede es zu Deutschland gibt. Und Gemeinsamkeiten.

Woher weiß ich das eigentlich? Im Reiseführer steht nichts darüber. Ganz selbstverständlich hat sich diese Recherche in mein hektisches Leben zu Hause geschummelt. Weil mein abolitionistisches Selbstverständnis ein Teil meiner Lebens- und Handlungswirklichkeit geworden ist.

Ich stehe auf diesem großen Markt, auf dem das Obst und das Gemüse in prächtigen Farben strahlt. Ich sehe handelnde Menschen. Menschen, die mit Lebensmitteln handeln. Ich atme auf. Sie handeln nicht mit Menschen. Was für ein Glück. Woher weiß ich das? Ich weiß es nicht. Ich sehe Scheine von Hand zu Hand wandern. Und Tüten. Was passt in Tüten?

Gedankenfeuerwerk.

Dieser Markt wird nachts zum Straßenstrich. Ich weiß es. Warum eigentlich? Im Reiseführer steht darüber nichts. Die Verkäuferin weiß es. Alle wissen es. Sie beklagen den Schmutz und Müll an jedem Morgen. Benutzte Kondome, die sie wegräumen müssen, bevor ihre Wägen dort die Klappen öffnen.

Ich habe mich von meinem Freund weggestohlen, um diese wenigen Sätze zu wechseln, die nicht alles, aber viel sagen.

Der Markt ist nachts ein Folterfeld. Ganz real.

Das hier ist keine Theorie. Keine liberal-feministische Abstraktion.

Dieses Folterfeld ist direkt neben uns. Neben mir. Neben den anderen.

Es liegt aus: Entrechtung. Erniedrigung. Verdinglichung.

Egal, wo ich mich aufhalte. Jeder Urlaub hat mich das gelehrt.

Die feministische Brille als stets präsentes Analyse-Werkzeug. Absetzen geht nicht. Verdunkeln manchmal.

Ich trage diese feministische Brille und sie trägt mich.

Denn mit dem Packen des Patriarchats an der Wurzel konnte ich wieder erstarken.

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