Angriff auf die Weiblichkeit: Salafismus in Algerien

By Steve Evans from Bangalore, India (Flickr) [CC BY 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/2.0)], via Wikimedia Commons

By Steve Evans from Bangalore, India (Flickr) [CC BY 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/2.0)], via Wikimedia Commons

Man kann es nicht mehr verleugnen, der Salafismus hat in den letzten Jahren in Algerien rasant an Fahrt aufgenommen. Gerade in den letzten Monaten häuften sich Vorfälle, die ganz klar eine sehr beängstigende Entwicklung aufzeigen, die vielen Angst macht. In Algerien und in Europa breitet sich dieses Unbehagen immer weiter aus.

Nach dem „schwarzen Jahrzehnt“ in den 90er Jahren schien wieder Stabilität und Ruhe eingekehrt zu sein. Das „schwarze Jahrzehnt“ war eine Zeit des Bürgerkriegs zwischen Islamisten und Regierungstruppen. 150 000 Menschen starben und über 6000 werden immer noch vermisst. Leider scheint die Zeit der Stabilität vorbei.

Insbesondere Frauen, die nicht dem gewünschten Bild der Frau im Salafismus entsprechen, werden Opfer der neuen Entwicklung in Algerien, auf verschiedene Arten und Weise. Das war früher so und ist es heute wieder.

Im September 2018 wurden mehrere Frauen (und wenige Männer) in ihrer Wohnung angegriffen, da vermutet wurde, dass sie sich prostituierten. Fünf Frauen lebten zusammen in einer Wohnung. NachbarInnen beobachteten sehr viel Kommen und Gehen von verschiedenen Männern in dieser Wohnung. Nachbarn stürmten dann die Wohnung, verprügelten die Frauen und zerstörten ihr Mobiliar, alles unter den Freudenrufen von benachbarten Frauen.

Die Erinnerung an Hassi Messaoud wurden wieder wach. 2001 wurden arbeitende Frauen in der Stadt Hassi Messaoud von einem Mob von 300 Männern angegriffen, nach einer Predigt eines islamistischen Imams. Der Angriff war nicht organisiert, sondern folgte seiner Hassrede. Die Frauen waren alle angestellt bei ausländischen Ölfirmen und kamen aus anderen Landesteilen, verarmt, um dort Geld für die Ernährung ihrer Familien zu verdienen. Sie wurden der Prostitution beschuldigt und als das „Böse“ beschimpft. Hassi Messaoud repräsentiert, wie mit Frauen umgegangen wurde, die nicht der gewünschten Norm der Hausfrau und Mutter entsprachen. Ebenso zeigt es, wie einfach es war und ist Menschen (Männer in diesem Fall) zu manipulieren und aufzuhetzen. Ich denke Deutsche haben eine vage Erinnerung daran, wie einfach dies sein kann, wenn es „professionell charismatisch“ durchgeführt wird und es gab sicherlich einen Grund für ein Propagandaministerium im dritten Reich……Es funktioniert, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort.

Eine nackte Frauenstatue in einem Brunnen, Ain Foura, in der Stadt Setif, geschaffen vom französischen Skulpteur Francis de Saint-Vidal, wurde im Dezember 2017 durch einen Islamisten zerstört. Die Bilder in den Medien waren erschreckend. Ein Mann mit Bart in einer Gandoura stieg den Brunnen hoch und schlug die Brust mit Hammer und Meißel ab. Der Aufschrei in den sozialen Medien war groß. Die Brust wurde mittlerweile wieder restauriert. Die Brust ist ein Sinnbild der Weiblichkeit und dieser Angriff ist auch als Angriff auf die Weiblichkeit zu verstehen, auch wenn es ebenso um „Schamhaftigkeit“ ging.

Ein Islamist, der schnell gefasst wurde, rief im Internet im Sommer 2018 zu einem Angriff mit Säure auf unverschleierte Frauen auf. Die Methode der Säureattacke wird häufig angewandt, da es ein sehr einfaches Kontrollmittel gegenüber Frauen ist. Im Iran wird, zum Beispiel, seit 2017 von einer Zunahme von Säureangriffen auf Frauen, die keinen Schleier trugen, berichtet. Die Angreifer fahren mit ihren Motorrädern an den Opfern vorbei und besprühen sie. In Algerien blieb es bisher bei dem Aufruf, aber das ist bedenklich genug. Es demonstriert ein neues Maß der Akzeptanz wenn man überhaupt so etwas öffentlich ausspricht.

Salafisten werben massiv für den Burkini als einzige angemessene Strandkleidung. Frauen berichten davon, dass sie sexuell im Wasser belästigt werden, wenn sie keinen Burkini tragen. Männer fassen Frauen in diesem Fall einfach unter dem Wasser an, oft beim Tauchen, und behaupten, der sexuelle Übergriff sei ein Versehen.  Dies habe ich leider auch selbst in der Familie erlebt. Die Mehrheit im Wasser ist männlich und es ist kaum möglich zu agieren ohne Sicherheitskräfte in der Nähe. Man kann versuchen den Täter zu ertränken indem man den Kopf weiter nach unten drückt, aber entspanntes Schwimmen ist etwas anderes. Wie für viele andere Frauen auch bleibt nur die Entscheidung nur noch einen der sehr teuren Privatstrände zu besuchen, an denen, noch, Bikini und Badeanzüge getragen werden können.

Ebenso wird über die sozialen Medien eine Kampagne der Diffamierung gegen die Bildungsministerin, Frau Nouria Benghrebit, durchgeführt. Gerade im September hat sie untersagt, dass Lehrerinnen im Niquab unterrichten dürfen. Für uns ist es das Kopftuch, und in Algerien die nächste Stufe der Verhüllung, die im öffentlichen Raum zum Thema wird. Das Thema wird aber genauso erbittert geführt. Die „Stufen“ sind andere.

Außerdem gab es im Sommer 2018 mehrere konzertierte, sehr gezielt geplante Aktionen von Salafisten um Musikgalas zu verhindern. Dies kann man zwar nicht unmittelbar als Angriff auf Frauen bezeichnen, aber es ist dennoch eine sehr bedenkliche Entwicklung, die auf eine gewisse Weise mit Frauen und ihrer Freiheit verbunden ist. Musik wird schließlich auch mit „freizügig“ gekleideten Frauen verbunden. Salafistische Gläubige führten Sabotage der Veranstaltungen durch indem sie im Freien Massengebete durchführten, sozusagen als Blockade. Sie waren erfolgreich und die Galas wurden abgesagt. Während auch viele in Deutschland den in Frankreich lebenden algerischen Sänger L`Algerino entdeckt haben, wird es zukünftig für ihn immer schwieriger sein in Algerien auftreten zu können. Konzerte im Sommer 2018 von ihm konnten noch stattfinden.

Islamisten versuchen das Frauenbild zu beeinflussen. Frauen die „rausgehen“ wollen und frei sein möchten, sei es nur um etwas für uns so banales zu tun wie ein Sandwich draußen zu essen, werden als „verkommen“ gesehen, sozusagen, und Männer die zulassen das Frauen raus gehen um ein Sandwich zu Essen werden als ein „Dayouth“, als ein verweiblichter Mann bezeichnet.

Kurz vor dem Fastenbrechen während des Ramadans 2018 griffen Männer eine Frau, die noch joggte, brutal an.  Die Männer sagten ihr, dass eine Frau in die Küche gehört. Frauen bereiten im Fastenmonat Ramadan das Essen zu, und die Joggerin hatte es gewagt, anstatt dessen zu joggen.  Der Aufschrei in den sozialen Medien über diesen Vorfall war groß. Nur wenige Tage später wurde als Gegenreaktion eine Aktion von Frauen, einige ohne Kopftuch, einige mit Kopftuch, gestartet, die sich mit dem Slogan:“ Mein Platz ist überall, nicht in der Küche“ trafen um zu Joggen. Doch nur wenige Tage nach der Aktion der Frauen gaben islamistische Frauen in den sozialen Netzwerken in einer großangelegten Gegenkampagne allerdings den Slogan heraus …“Mein Platz ist in der Küche oder woauchimmer mein Mann es will“….

Im Salafismus muss eine Frau tun was ihr Mann will um in das Paradis zu gelangen. Feministische Frauen in Algerien erleben oft andere, salafistische Frauen als ihre Feindinnen. Einige sagen, immer öfter, der größte Feind der Frau ist die Frau. Sicherlich passt dieser Spruch zum Patriarchat. Das Patriarchat fokussiert sich weniger auf den Mann als Ausbeuter, sondern immer auf die Frau. Trotzdem thematisiert es die fehlende gegenseitige Unterstützung, sogar im Fall von tätlichen Übergriffen.

Durch zunehmende salafistische Strukturen wird Solidarität unter Frauen kaum möglich sein; die salafistischen Gegenspielerinnen sind gut organisiert und werden unterstützt. Frauen gegen Frauen-eine Entwicklung, die ablenkt von der eigentlichen Ideologie und dem gemeinsamen Feind, dem salafistisch geprägtem Patriarchat.

Auch in Deutschland sind viele Frauen die der salafistischen Szene zuzurechnen sind sehr aktiv mit Aktionen, wie zum Beispiel Informationsständen zum Kopftuch mit dem Tenor, „Wieso spricht man über uns statt mit uns..“ oder Hijabi Kreiseln mit Vorträgen über die Frau im Islam. Es wird die gegenseitige Stärkung und Unterstützung betont.  Es geht beim Tragen des Kopftuches um das „Wohlgefallen“ Allahs und nicht um das „Wohlgefallen der Gesellschaft“, und das kompromisslose und standhafte Festhalten an die „islamische“ Kleiderordnung ist deshalb das Ziel, egal wie die „weltlichen“ Konsequenzen aussehen mögen. Der Lohn Gottes wird als größer angesehen wie die Integration. Diese Auslegung des Islam folgt dem Wahabismus-es gibt nur eine Kleiderordnung und eine Interpretation des Korans.

Die Unterwerfung vor Gott ist etwas, was auch das „christliche Abendland“ kennt. Es ist nicht Teil eines neuen „Kulturkampfes“ der immer wieder neu beschworen wird. In Europa waren es Nonnen (und Mönche) die einen ähnlichen Lebensweg wählten. Auch sie verabschiedeten sich vom „weltlichen Leben“. Frauen haben nur im Unterschied zum Christentum Kinder zu bekommen. Nonnen ist dies untersagt, aber beide ordnen sich der „weltlichen Ordnung“ unter.

Bevor „das Andere“ in der Sichtweise auf diese Entwicklung und die Mitwirkung von Frauen konstruiert wird, wie es gerne in Bezug auf den Islam und den Orient getan wird, sollten wir salafistische Frauen als „rechte Frauen“ definieren. Ihre Strategien unterscheiden sich in keiner Weise von den Strategien von anderen Frauen in der westlichen Welt, die rechten, konservativen Strukturen zuzuordnen sind. Andrea Dworkin und in der Zusammenfassung Annelie Borchert führen detailliert aus wieso rechte Frauen dieser Ideologie folgen (https://kritischeperspektive.com/kp/2018-26-andrea-dworkins-right-wing-women-warum-sich-frauen-der-rechten-zuwenden/).

Salafistische Frauen erhoffen sich durch ihre Unterordnung an den Mann (bzw Unterordnung gegenüber Gott, der angeblich genau diese Unterordnung verlangt) beschützt und respektiert zu werden und somit zu überleben, in Sicherheit.

Frauen, die sich verschleiern werden gelobt und gewinnen an „Wert“. In den sozialen Medien erlebt man direkt wie Männer Frauen, die sich verschleiern loben.  Salafistische Männer  „belehren“ andere direkt über die Notwendigkeit für Frauen sich zu verhüllen. Wer liebt und artig ist, bekommt sozusagen ein virtuelles „Smiley“ von Männern und wird zu einer geliebten „Schwester“ im Glauben.

Frauen finden in Algerien, trotz zunehmend höherer Abschlüsse an den Schulen und Universitäten kaum eine Stelle. Nur 13-18 Prozent aller Frauen arbeiten. Zusätzlich sind sexuelle Übergriffe bei der Arbeit häufig. Das finanzielle unabhängige Leben ist also nur sehr bedingt möglich.

Frauen werden in Algerien (wie auch sonst fast überall) aufgeteilt in „Huren und Heilige“.  Salafistische Frauen haben sich  für den Weg der „Heiligen“ entschieden. Zur Abgrenzung definieren auch sie andere Frauen als „Huren“; sie sind im Patriarchat im Konkurrenzkampf zu ihnen und können durch die Bekämpfung der anderen Frauen die eigene Position stärken. Weiblichkeit definieren auch sie als das Dasein als Mutter und als Hausfrau. Leider führt ein Konkurrenzkampf im Kontext von Religion zu immer extremeren Verhaltensweisen, denn eine andere Frau ist immer noch religiöser und diese weitere Religiosität muss man selbst auch erreichen. Eine Spirale die nur zum Niquab/Burka führen kann. Diese Versuche der Anpassung im Patriarchat finden natürlich auch auf anderen Ebenen statt, je nachdem welches Modell zur Unterordnung in welchem Patriarchat gerade gewünscht ist (weibliche Genitalverstümmelung, absolute sexuelle Verfügbarkeit usw).

Zusätzlich spielt sicherlich auch Pornografie eine Rolle. Frauen glauben, durch „gläubige“ Männer sicher zu sein davor, dass diese Männer Pornos ansehen. Die Religion bietet ihnen ein übergeordnetes Kontrollinstrument. Wenn Sie, die salafistischen Frauen „lieb und artig“ sind, wird sozusagen sich der Mann treu und respektvoll ihnen gegenüber verhalten. Auch hier gibt es das christliche Äquivalent mit dem bekannten Spruch…“the family that prays together stays together“ (die Familie, die zusammen betet, bleibt zusammen).

Salafisten selbst greifen alles an, was nicht der strengen wahabitischen Auslegung des Korans gehört. Der Koran und die Definitionsmacht hierüber gehören ihnen, ihrer Meinung nach. Frauen zu besitzen, Frauen zu haben die ihnen zur Verfügung stehen müssen, ist sowieso das Ziel aller Männer überall.

Die direkte Einmischung von Frauen aus den ehemaligen Kolonialländern zu diesem Thema ist leider prinzipiell kontraproduktiv, zumindest in Ländern wie Algerien.  Die Verschleierung oder viel besser der Versuch der Entschleierung ist eng verknüpft mit den Erfahrungen mit der Kolonialmacht Frankreich. Die Kolonialzeit hat für uns in Europa nie wirklich existiert. Wir wurden in der Schule von dem Thema weitestgehend verschont. Die Wahrheit über die brutale Ausbeutung und Ermordung unzähliger Menschen wurde „verschleiert“. Doch begleiten die Folgen des brutalen Kolonialismus Menschen in den ehemaligen Kolonialländern bis heute. Kolonialismus bildet einen Teil der Identität. Kapitalismus und der Westen sind definiert als System der Ausbeutung im Kontext des (kulturellen) Rassismus.

Der Kampf gegen Salafismus selbst wird in Algerien immer erbitterter geführt; eine komplette Eskalation kann möglich sein. Die Wellen würden auch nach Europa spülen. Schon jetzt berührt uns die Angst vor Salafismus, leider gesehen als identisch mit allen islamischen Strömungen. Salafisten definieren den Islam, sie haben schon diese Macht übernommen. Allein das ist eine schreckliche Entwicklung.

Die Spaltung Algeriens insgesamt hat sich verstärkt. Immer mehr Frauen versuchen im salafistischen Patriarchat zu überleben und wählen den Weg der Anpassung. Die Perspektive ist nicht rosig. Tatsächlich gibt es eine kleine Gegenbewegung. Ebenso lassen sich immer mehr Frauen scheiden oder verzichten auf eine Ehe. Immer mehr Frauen äußern sich sehr deutlich zu männlichem Verhalten. Sie werten es ab. Ein Blatt wird hier nicht mehr vor den Mund genommen.

Insgesamt aber ist alles möglich. Wenn der jetzige Präsident Bouteflika sterben sollte, der seit 1999 im Amt ist, wird ein Machtvakuum erlebt. Wer wird versuchen dies zu füllen?

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