Der heroische Widerstand der Menschen in Kobane gegen das Gemetzel der Daesh (ISIS)–Faschisten seit Mitte September, hat zu einer Welle der internationalen Solidarität geführt. Eine Vielzahl von Artikeln und Statements wurde geschrieben und es wurden Proteste in zahlreichen Städten auf der ganzen Welt abgehalten. Kurden sind ihren Landsmännern über die türkische Grenze hinweg zur Hilfe geeilt, obwohl sie vom türkischen Militär brutal zurückgedrängt wurden. Andere, darunter auch unsere türkischen Genoss*innen der DAF (Revolutionäre Anarchistische Aktion), sind zur Grenze gegangen um mitzuhelfen diese offen zu halten für Flüchtlinge, die in Richtung Türkei fliehen. Es gab Rufe die kurdischen Kräfte zu bewaffnen und Aufrufe, die DAF zu unterstützen und Hilfe für die Flüchtlinge zu senden. Jedoch wurde diese Solidarität mit den syrischen Kurden nicht auf nicht-kurdische Gruppen ausgeweitet, die im Land ebenfalls kämpfen und sterben um sich vom Faschismus und gewalttätiger Unterdrückung zu befreien und für Freiheit und Selbstbestimmung eintreten. Es wird häufig fälschlicherweise behauptet, dass der Kernkonflikt in Syrien auf Sektierertum beruht. Es ist notwendig zu verstehen in welchem Ausmaß Sektierertum auch in unseren Reaktionen eine Rolle spielt.
Die Protestbewegung, die 2011 gegen Bashar Al Assad entstand, vereinte die Menschen über Syriens diverse ethnische und religiöse Spektren hinweg in einem Kampf für Freiheit. Kobane war keine Ausnahme. Die Kurden, die in dieser Stadt die Mehrheit stellen, hatten lange Zeit unter der Arabisierungs-Politik des Baathistischen Regimes gelitten, und sie waren unter den ersten, die sich erhoben als die Revolution begann. In diesem Protest ab Mitte 2012 forderten Kurden und Araber gemeinsam den Sturz des Regimes und feierten unterstützend die Freie Syrische Armee (FSA), als diese die kurdische Flagge hochhielt, als dies noch ein gefährlicher Akt des Widerstands war. Aber von diesen frühen Tagen an gelang es der syrischen Protestbewegung in Kobane und anderswo nicht internationale Unterstützung zu erhalten. Wäre ihnen das gelungen wäre das Land nicht in einem solchen Maße zerstört worden, dass ISIS in weiten Teilen die Kontrolle erlangen konnte.
Die Beziehungen zwischen den syrischen Araber*innen und Kurd*innen waren in den letzten drei Jahren sehr fragil und unbeständig, zum einen wegen der Manipulationen des Assad Regimes bezüglich ethnischer Spaltungen, zum anderen wegen fehlgeleiteter politischer Mechanismen von Politikern der Opposition beider Gruppen, die ihre eigenen Interessen und Vorstellungen über die Vision der Menschen von Freiheit stellen. Dennoch betonen Aktivist*innen immer wieder die Wichtigkeit kurdisch-arabischer Einheit um ethnischer und sektiererischer Spaltung zu widerstehen. Diese Rufe spiegeln sich jedoch nur in wenigen internationalen Solidaritätserklärungen wider.
Die Abwesenheit sunnitischer Araber in der Berichterstattung über dem Kampf gegen Daesh ist bemerkenswert. Nur wenige Artikel haben erwähnt, dass auch die Kämpfer*innen der Freien Syrischen Armee (FSA) ihr Leben riskieren um ihren kurdischen Genoss*innen bei der Verteidigung von Kobane vor religiösen Extremist*innen zu helfen, oder dass es in den letzten Wochen eine größere Koordinierung zwischen kurdischen und arabischen militärischen Formationen gibt. Am 10. September 2014 haben sich lokale FSA-Brigaden den Kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) angeschlossen um eine gemeinsame Operation gegen Daesh namens „Burkan Al Firat“ (Euphrats Vulkan) zu gründen. An dieser Operation beteiligt sind die Liwa Thuwar al Raqqa (Revolutionäre Brigade Raqqa), Shams Al Shamal, Al-Tawhid (Ost), Saraya Jarablus und andere kleinere Gruppen. Diese strategische Allianz stärkt nicht nur die kurdisch-arabische Einheit in diesen kritischen Zeiten, sondern bereichert den Widerstand in Kobane mit unschätzbarer Erfahrung, da die FSA bereits seit Anfang dieses Jahres gegen Daesh kämpft. In einem Statement am 19. Oktober bestätigte die PYD:
Der Widerstand unserer YPG Einheiten und der Gruppen der Freien Syrischen Armee gewährleistet den Kampf gegen den ISIS Terrorismus in der Region. Terrorismusbekämpfung und der Aufbau eines freien und demokratischen Syriens waren die Basis für die Vereinbarungen mit den Gruppen der Freien Syrischen Armee. Wie wir sehen beruht der Erfolg der Revolution auf der Entwicklung dieser Beziehungen zwischen allen Interessengruppen und Kräften des Guten in diesem Land.
Wie ihre kurdischen Genoss*innen, leisten die Battalione der Freien Syrischen Armee Daesh mit weit unterlegenen Waffen Widerstand. Während Daesh die schweren US-Waffen besitzt, die sie im Irak erobert haben, haben die syrischen Kämpfer*innen (sowohl kurdische als auch arabische) nur leichte Waffen und begrenzte Munition. Sowohl die YPG als auch die FSA haben die internationale Gemeinschaft gebeten sie mit schweren Waffen auszurüsten. Den Kampf mit Waffen zu unterstützen ist dringend notwendig um den Menschen der Region zu ermöglichen sich selbst gegen ihre Vernichtung zu wehren. Sie reduziert auch die wahrgenommene Notwendigkeit einer Intervention externer Kräfte, die aufgrund ihrer eigenen Vorstellungen operieren, teilweise stehen diese im direkten Gegensatz zum Kampf der Bevölkerung. Man sollte aber tunlichst unterscheiden zwischen:
- der Unterstützung für eine breite Koalition lokaler Kräfte gegen Faschismus und für einen Kampf, der zum einen darauf ausgelegt ist so viel wie möglich des alten Regimes zu zerstören, und zum anderen das Recht der Selbstverteidigung ALLER Menschen gegen Massenabschlachtungen (inklusive dem Recht Waffen von wem auch immer sie anbietet anzunehmen, wenn sie notwendig sind) und
- der Unterstützung für ein politisches Projekt oder eine Gruppe, welche die Macht in der postrevolutionären Phase für sich beansprucht, was zwangsläufig den Errungenschaften der Revolution zuwiderläuft
Letzteres ist strikt abzulehnen.
Viel der internationalen Solidarität für den kurdischen Kampf resultiert aus der Unterstützung der inspirierenden sozialen Revolution von Rojava. Die kurdischen Mehrheitsregionen Afrin, Jazira und Kobane waren in der Lage eine autonome Region zu errichten, nachdem Assads Kräfte sich im Juli 2012 zurückgezogen hatten. Ein sozialer Vertrag wurde entwickelt, der den Wunsch betont „eine Gesellschaft frei von Autoritarismus, Militarismus, Zentralismus und der Beeinflussung von religiösen Autoritäten in öffentliche Angelegenheit zu erschaffen“. Er bekräftigt das Prinzip der lokalen Selbstverwaltung für alle Kantone der Region, in denen Regierungs-Versammlungen und öffentliche Institutionen durch direkte Wahlen gegründet werden sollen in einer dezentralisierten Konföderation. Die Charta spricht sich aus für Einheit und Koexistenz der ethnischen und religiösen Gruppen der Region, für Menschenrechte und einem Ende der Geschlechterdiskriminierung, und sie bekräftigt das Recht der Menschen auf Selbstbestimmung. In einer radikalen Reorganisation der Gesellschaft hin zu einem demokratischen Könföderalismus haben die Menschen von Rojava Räte und Kommunen im Westen Kurdistans gegründet um ihre Communities in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Handel selbst zu organisieren und die Themen in der Gesellschaft zu verankern. Dies liefert ein starkes Beispiel für alternative Formen der sozialen Organisation, als Gegenpol zu zentralistischer, autoritaristischer Kontrolle. Während solche Entwicklungen radikaler Demokratie ein leuchtendes Beispiel in einer Region sind, die sich schnell zu einer Region der Dunkelheit entwickelt, sollten Anti-Autoritäre die kurdische PYD nicht romantisieren. Über die Errichtung der autonomen Region sagt der syrisch-kurdische Anarchist Shiar Neyo:
Aus der Sicht der PYD war dies eine goldene Möglichkeit ihre Autorität und ihren Einflussbereich in den kurdischen Regionen Syriens zu erweitern. Dieser politische Pragmatismus und Hunger nach Macht sind zwei wichtige Faktoren um die Handlungen der Partei in Bezug auf das Regime, die Revolution, die FSA und sogar die Kurden selbst zu verstehen. Sie helfen auch viele Phänomene zu verstehen, die viele Kommentatoren und Analysten verwirren, so zum Beispiel die Unterdrückung von unabhängigen Aktivist*innen und PYD-Kritiker*innen durch die PYD, in so ziemlich derselben Art und Weise, die das Baath Regime an den Tag legte. So zum Beispiel beim Amuda Massaker im Juli 2013, bei dem die YPG das Feuer auf unbewaffnete Demonstrant*innen eröffneten, oder die Schließung der unabhängigen Radiostation Arta im Februar 2014, mit der Begründung sie sei nicht „lizenziert“. Die PYD hat auch Mitglieder anderer kurdischer politischer Parteien beleidigt und inhaftierte einige von ihnen mit den unterschiedlichsten Begründungen; sie kontrollieren Verpflegung und finanzielle Ressourcen in den kurdischen Gebieten und verteilen diese in einer ungerechten Weise auf der Basis der Bevorzugung von Genoss*innen, und so weiter und so weiter. Solche Praktiken erinnern die Menschen, zu Recht, an die unterdrückenden Praktiken des Assad Regimes.
Es besteht ein offensichtliches Spannungsverhältnis zwischen dem Autoritarismus der alten Garde der PYD, die an top-down-Prozessen festhält, und den Tausenden von Kurden die an eine radikale Demokratie von unten glauben und diese versuchen umzusetzen – und die in diesem Bemühen unterstützt werden sollten. Die kurdische Region in Syrien ist nicht der einzige Ort an dem durch eine soziale Revolution neue Wege der Organisation umgesetzt werden, auch wenn sie von mehr Freiraum und Stabilität profitiert, zumindest in Relation zu anderen Gebieten des Landes. Experimente in lokaler, autonomer Selbstorganisation sind ein bestimmendes Merkmal der syrischen Revolution und hunderte von lokalen Komitees und lokalen Räten wurden gegründet um die Grundversorgung sicherzustellen und revolutionäre Aktivitäten zu koordinieren. Dennoch haben diese Menschen bisher keinerlei internationale Solidarität erfahren, weil sie keinen Anführer haben, der den „libertären Municipalismus“ vertritt. Dies deshalb, weil sie schlicht keinerlei Anführer haben und diese Formen horizontaler Organisation spontan von unten entstanden als Reaktion auf die Zerstörung des Staates.
Darüber hinaus haben die Kämpfe andernorts keinerlei Medienfokus erfahren, da sich die Aufmerksamkeit der Welt auf Kobane fokussiert. Im August haben die Menschen aus Deir Al Zour, die hauptsächlich dem Al-Sheitat-Stamm angehören, Daesh mutig Widerstand geleistet. In den folgenden Tagen, in denen sie den Faschisten ganz alleine gegenüber standen, wurde dieser Widerstand fast vernichtet und etwa 700 Menschen des al-Sheitat-Stammes wurden durch Daesh hingerichtet, was nicht zu globaler Empörung führte. Die Menschen aus Deir Al Zour haben ihren Kampf gegen die ISIS Extremisten jedoch nicht aufgegeben. Die White Shroud (Kufn Al Abyaad) haben in den letzten Wochen einige Hundert Daesh Kämpfer durch guerillaartige Attacken getötet. Diese verschworene Volkswiderstandsgruppe besteht aus etwa 300 Ortsansässigen, die mehrheitlich niemals in ihrem Leben zuvor gekämpft haben, die jedoch zu den Waffen gegriffen haben um ihre Familien und Kommunen vor dem faschistischen Angriff zu schützen.
Während sich die Welt auf die Fortschritte der Daesch in Nordsyrien fokussiert, setzen Gemeinschaften anderorts ihren Widerstand gegen den völkermordenden Irren Bashar Al Assad und sein sektiererisches Militär fort, die ihre Angriffe auf befreite Gebiete verstärken seitdem die US-Luftschläge Regime-Ressourcen andernorts freigesetzt haben. Es gibt nur wenig Solidarität gegenüber den Menschen im Al Waer Bezirk in Homs, dem letzten Bollwerk der Stadt die einst das Herz der Revolution war. In Al Waer haben etwa 400.000 Menschen Zuflucht gefunden, die Hälfte von ihnen vertriebene Zivilist*innen, die aus anderen Teilen des Landes dorthin geflohen sind. Die Region ist seit Monaten unter Beschuss der Regierung und in den letzten Wochen hat das Assad Regime diesen verstärkt und eine massive humanitäre Krise ausgelöst. Der Ruf syrischer Aktivist*innen nach Solidarität mit Al Waer stößt auf taube Ohren.
Die Frage die bleibt ist, ob die internationale Solidarität für Kobane auf der kurdischen Ethnizität der Verteidiger*innen beruht (das heißt: weil sie keine sunnitischen Araber sind), auf der Unterstützung der politischen Position einer Partei (der PYD/PKK) oder aus dem Prinzip, dass alle Menschen das Recht haben sich vor Terror zu schützen (egal ob religiöser oder nationalistisch-faschistischer Terror) und für sich selbst zu bestimmen wie sie ihr Leben und ihre Kommunen organisieren möchten. Wenn sie auf letzterem Prinzip beruht, dann muss dieselbe Solidarität die die Kurden erfahren auf alle revolutionären Syrianer*innen ausgeweitet werden.
Leila Al Shami, 20. Oktober 2014 – Deutsche Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Autorin