Am 24. Juli 2015 erschien bei der Huffington Post ein Artikel mit dem Titel „Die neuen Asozialen: Eure Dummheit bringt Deutschland zum Abgrund“.
Dieser Artikel wurde unter meinen FacebookfreundInnen gefeiert – dutzendfach erschien er auf meiner Pinnwand, weshalb ich mich zu einer Erwiderung entschieden habe. Kritik zu äußern, fällt mir in diesem Fall nicht leicht, denn die Autorin Sabrina Hoffmann fiel mir vor genau einem Jahr – im Juli 2014 – sehr positiv auf, als sie sich als eine der ersten deutschsprachigen Journalistinnen mit einem sehr guten Artikel, „Prostitution: Warum Deutschland Sexkauf verbieten muss“ , für ein Sexkaufverbot nach schwedischem Modell in Deutschland ausgesprochen hatte.
Ich möchte diese Replik deshalb als konstruktive und wertschätzende Kritik verstanden wissen.
Im Artikel wird die These aufgestellt, dass es nicht „die Zuwanderer [sind], die das Bildungsniveau senken“ in Deutschland, sondern „es … die Deutschen selbst“ sind. „Und zwar ausgerechnet jene, die bei Facebook gegen Ausländer hetzen.“. Fremdenfeindliche „gebildete und intelligente Menschen“ bezeichnet sie als Ausnahme. Und sie sieht es als Gefahr an, dass sich ungebildete Menschen „von Gefühlen beherrschen lassen“.
Hoffmann beendet den Text mit
„Diese Menschen sind blind für die Not anderer. Sie sehen nur sich selbst. Und die Probleme, die sie bekommen könnten, wenn eines Tages zu viele Zuwanderer in Deutschland leben. Sie verstehen nicht, was Menschlichkeit ist. Sie stehen mit dem Kopf zur Wand und sehen nur Tapete. Wenn wir die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland in den Griff bekommen wollen, müssen wir hier ansetzen. Alles andere ist nur Kosmetik.“
„Unterm Strich zähl ich“
Mit diesem Abschluss des Artikels lässt sich sehr gut beginnen. Denn hier möchte ich gerne zustimmen. Es stellt sich jedoch die Frage, warum das so ist?
Ist die Tatsache, dass wir in einer Ellbogengesellschaft leben, in der sich jedeR selbst der/die Nächste ist, nicht ein eindeutiges Resultat einer Sozialisation im Kapitalismus? Was ist mit den ganzen Studien, die schon seit vielen Jahren auf die gravierenden Auswirkungen der Neoliberalisierung unserer Gesellschaft hinweisen? Ist es denn nicht so, dass uns Egoismus schon von klein auf beigebracht wird? Sechs Jahre lang warb beispielsweise die Postbank mit dem Slogan „Unterm Strich zähl ich“. Neoliberales Denken ist heutzutage in fast alle Lebensbereiche vorgedrungen. Die Saat, die nun aufgeht, wurde über Jahrzehnte gesät und gepflegt.
Die Frage ist: Können wir den nachwachsenden Generationen vorwerfen, dass sie das internalisieren, was ihnen doch überall gepredigt und gelehrt wird? Wieso sollten sie plötzlich Solidarität leben, wenn doch überall nur Profit und persönliches Weiterkommen anerkannt und gewertschätzt wird?
Geistige Unterschicht?
Nun zur Kernproblematik des Textes: Rassismus als Unterschichtsproblem darzustellen, ist nicht nur eine klassistische Argumentation, sondern auch empirisch falsch.
Der Bielefelder Professor für Erziehungswissenschaften und Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung hat von 2002 bis 2012 die Langzeitstudie „Deutsche Zustände“ durchgeführt und das Konzept der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ entwickelt und nachhaltig geprägt.
Untersucht wurden Einstellungen der Gesellschaft in Bezug auf Rassismus, Neonazismus, Diskriminierung und Sozialdarwinismus.
Große Betonung hat Heitmeyer in der Präsentation der Ergebnisse der Forschungen seines Teams auf die Entwicklung einer „rohen Bürgerlichkeit“ gelegt. Er kommt zu dem Schluss, dass das Problem, mit dem wir uns befassen müssen, eben nicht die „Desintegrierten“ seien. Sondern er spricht davon, dass gesellschaftlich Bessergestellte „einen Klassenkampf von Oben anzetteln“.
Rohe Bürgerlichkeit: AkteurInnen der Spaltung
Heitmeyer schreibt in einem Gastbeitrag in der Zeit:
„Direkte wie indirekte Spaltungsakteure sind die intellektuellen Diskursagenten bei den wissenschaftlichen, insbesondere den wirtschaftswissenschaftlichen und politischen Eliten. Sie suchen einen bürgerlichen Resonanzboden, finden ihn und werden ihrerseits von ihm beeinflusst. Diese zirkulären Prozesse verschärfen sich durch immer stärkere Abweichung vom Ideal anzustrebender Gleichheit und vor allem Gleichwertigkeit. Die Missachtung derer »da unten« wächst. Eine rohe Bürgerlichkeit bildet sich heraus, und so geraten wir auf den Weg zu einer eskalierenden Spaltung.“
Neben Thilo Sarrazin benennt er unter anderem auch den Philosophen Peter Sloterdijk als Spaltungsakteur, dessen Thesen „in zahlreichen Medien unterstützenden Widerhall fanden“.
Weiter heißt es:
„Der so von oben inszenierte Klassenkampf wird über die rohe Bürgerlichkeit nach unten weitergegeben. Die objektive finanzielle Spaltung zwischen Reich und Arm wird ideologisch durch die Abwertung und Diskriminierung von statusniedrigen Gruppen durch die rohe Bürgerlichkeit getragen.“
Ein zentrales Ergebnis der Bielefelder Langzeitstudie ist die Erkenntnis über die Aufkündigung der Solidargemeinschaft:
„Die Hilfe für Schwache und die Solidarität mit schwachen Gruppen [wird] eher aufgekündigt. Weniger Unterstützung wird vor allem gegenüber Langzeitarbeitslosen und Hartz-IV-Empfängern gefordert. Im Sinne des Kapitals wie im ökonomistischen Denken werden diese Menschen als nutzlos etikettiert. Sie sollten entgegen dem Grundgedanken einer Solidargemeinschaft endlich Selbstverantwortung übernehmen. Und so gibt es eindeutige Zusammenhänge zwischen der Forderung an die sozial Schwachen, ihre kritische Lebenssituation selbst zu bewältigen, und der Abwertung von Langzeitarbeitslosen, niedrig qualifizierten Zuwanderern und Behinderten: Die Gruppen mit höheren Einkommen werten immer stärker ab. Insgesamt ist eine ökonomistische Durchdringung sozialer Verhältnisse empirisch belegbar. Sie geht Hand in Hand mit einem Anstieg von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in höheren Einkommensklassen. Die rohe Bürgerlichkeit zeichnet sich durch den Rückzug aus der Solidargemeinschaft aus – befeuert durch wirtschaftswissenschaftliche Eliten und die herrschende Politik. In der rohen Bürgerlichkeit wird deutlich, dass der autoritäre Kapitalismus, dessen Zähmung in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik noch gelungen schien, außer Kontrolle geraten ist. Mit seiner spezifischen Gewalt des Desinteresses an sozialer Integration aus den Sphären von Wirtschaft und Politik ist er tief in die sich aufspaltende Gesellschaft eingedrungen. Die rohe Bürgerlichkeit wird zum Mittel der gesellschaftlichen Spaltung, die initiierenden Eliten bleiben unangreifbar oder anonym.“
Eine Auswahl empirischer Befunde spricht für sich:
60,4% aller Deutschen sind der Meinung, dass man in Krisenzeiten nicht mehr mit Fairness durch andere rechnen könne. 56,7% glauben, dass Bemühungen um Gerechtigkeit in diesen Zeiten nicht mehr erfolgreich seien. Folgerichtig halten mehr als die Hälfte aller Besserverdiener Langezeitarbeitslose für „willensschwach, an ihrer Lage selbst schuld und für die Gesellschaft nutzlos“. 58,9% finden es sogar „empörend“, dass „sich Langezeitarbeitslose auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben mach[t]en“. Die ebenso große Ablehnung von AusländerInnen in dieser Schicht hat ebenfalls weniger kulturelle, sondern vielmehr ökomische – oder besser ökonomisierte – Gründe: Jeder vierte Deutsche meint, dass man AusländerInnen wieder in Heimat zurückschicken sollte, wenn hier die Arbeitsplätze knapp werden.
Auf diesem Hintergrund weise ich auch jegliche (vermeintlich) antirassistische Argumentation zurück, die versucht, Zuwanderung mit ökonomistischen Argumenten positiv zu besetzen, zum Beispiel durch Hinweise wie „Ausländer schaffen mehr Arbeitsplätze als sie in Anspruch nehmen“ oder „Viele Flüchtlinge sind gut gebildet und können den Fachkräftemangel abmildern“. Hier kann zwar erfolgreich Mythbusting betrieben werden, als antirassistisches Argument taugt der Rückgriff auf Nützlichkeitsrassismus jedoch nicht.
Die Agenda 2010 hat weitreichende Folgen für die Gesellschaft mit sich gebracht. Sie kann als zentraler Einschnitt und ideologischer Meilenstein für die Neoliberalisierung der Gesellschaft und der Entwicklung der „rohen Bürgerlichkeit“ angesehen werden. Diese „organisierte Entsolidarisierung“ muss benannt werden, wenn wir uns mit den Folgen für die Gemeinschaft auseinandersetzen.
Rationalität statt Gefühle?
Zum Abschluss noch ein paar Worte zum Gefühlsargument: Natürlich ist für manche Menschen Angst und Emotion ein Antrieb für Rassismus. Aber auch hier müssen wir das im Spiegelbild der Gesellschaft, in der wir Leben, betrachten. Für die SpaltungsakteurInnen sind weniger Gefühle, sondern eiskalte Rationalität der Hintergrund ihres Handelns: Wenn andere weniger haben, bleibt mehr für mich übrig. Wenn ich andere unwidersprochen ausbeuten kann, füllt sich mein Bankkonto schneller auf. Und so weiter und so fort. Auch das negative Belegen von Emotionen und Gefühlen ist ein Kennzeichen der Neoliberalisierung, weshalb ich auch hier vehement widersprechen möchte.
Statt über Rassismus als ein Problem „ungebildeter Menschen“ würde ich gerne mehr darüber sprechen, wer für den Egoismus und den Nützlichkeitsrassismus in unserer Gesellschaft tatsächlich verantwortlich ist – schieben wir doch den schwarzen Peter dorthin zurück, wo er hingehört!
Manuela Schon
Sehr geehrte Frau Schon,
Ihr Artikel ist sehr gut und treffend verfasst. Zum einen beschreibt er genau die Situation im Großen, die sich auch im kleinen widerspiegelt.
Zitat:
„Diese Menschen (zu denen ich auch gehöre) sind blind für die Not anderer. Sie sehen nur sich selbst. Und die Probleme, die sie bekommen könnten, wenn eines Tages zu viele Zuwanderer in Deutschland leben.“
Anstatt Deutschland kann mensch auch alle anderen Orte dafür einsetzen z.B. Firma, Kneipe, Viertel, Stadt. Anstatt Zuwanderer kann mensch hier auch Zeitarbeiter, neue Kollegen etc. einsetzen.
Es fällt mir schwer, die Balance zu wahren zwischen meinen Ansprüchen und der Realität, mit der ich konfrontiert werde. Meist ist es der Eigenschutz, den mensch gezwungen wird zu aktivieren oder sagen wir es ehrlicher, Feigheit vor dem Feind. Ihr Artikel hilft mir sehr, die eigene Verantwortung und die Umstände besser wahr zu nehmen und es zukünftig anders zu machen.
Vielen Dank
Ich glaube, ein Problem – auch hier von der Autorin des Beitrags gezeigt – ist die Tabuisierung von Kritik gegenueber weisse Arbeiterklassekultur.
Ich frage mich warum das so ist.
Bestimmt von den Politikern her, kann keiner – ob rechts oder links – sich lohnen, die Waehlermehrheit zu entfremden.
Im Gegenteil, muessen politische Parteien immer mit der einheimischen Arbeiterklasse „solidalisieren“, „ihre Aengste verstehen“ oder „Mitleid mit den sozialbenachtigten“ haben.
Das ist herablassend, infantilisierend und snobbistisch. Diese Einstellung sieht die weisse Arbeiterklasse als gestoerte Kleinkinder, die man auf keinen Fall „beleidigen“ kann, falls sie sich in ihrer Wuerde verletzt fuehlen. Es gibt immer eine Ausrede fuer ihr schlechtes Verhalten/Ignoranz/bloeder Rassismus.
Deshalb kommt das zu der grotesken Lage, wo weisser proletarischer Rassismus (und Sexismus , Antisemitismus und Homophobie) von der sogenanten „Elite“ fast rechtfertigt wird. (Bestimmt dient Rassismus und Auslaenderphoble den Regierenden, weil es ist eine nutzliche „distraction“ ist. Verteufelung der „anderen“ funktioniert immer , und ist besonders erfolgreich unter den simplen und ungebildeten (oder, wie auf deutsch euphemistisch gesagt, den „bidungsfernen“). Wenn dann primitiver irrationeller Hass zu koerperliche Gewalt wird , dann ist das ein ernstes Problem fuer alle. So entwickelte sich Nazismus, mit seine verheerenden Folgen fuer die ganze Welt.
Hat man also nichts von der Vergangenheit gelernt?
Freilich kann Rassismus in allen Schichten gesehen werden.( Rassismus verkauft sich gut,Sarrazin hat viel Geld verdient, z. B).
Klar, es gibt Arbeiterklassemenschen, die voellig anstaendig sind. Ich komme auch aus einer Arbeiterklasse Familie, meine Eltern haben uns (ich und meinen Bruder)mit Werten wie Gleichheit aller Menschen aufgezogen, auch Respekt vor Leben, d.h. auch vor Tieren. Keine Tierleichenteile auf unseren Tellern! )So war das ein Schock fuer mich, als ich als Kleinkind „primary school“ anfing, und sah wie rassisstisch andere Kinder (und – tut mir leid – das waren Arbeiterklassekinder) waren. Auch antisemitisch waren sie. Das ist ein kulturelles Problem, das nie bekaempft worden ist. Zweifellos wenn ich mit solchen dummen Ideen aufgezogen waere, dann waere ich auch rassistisch/antisemitisch, Kinder kopieren einfach das Muster, das sie vor ihnen haben. Sie sind nicht daran schuld, deswegen muss die Gesellschaft gezielt angreifen,und keine Furcht davor haben, solche Kultur zu stigmatisieren. Schliesslich hat auch ein Arbeiterklassekind aus armen Verhaeltnissen ebenso viel Recht wie ein Kind aus buergerlichen Verhaeltnissen gebildet, zivilisiert und gutmanniert aufzuwachsen.
Es gibt wohl Kulturprobleme (und nicht nur Rassismus) der weissen Arbeiterklasse. Sie zu verschweigen hilft niemandem. Rassistisches Verhalten und Gewalt (wo auch weisse „einheimische“ Buerger wohl auch Opfer sind) ist viel zu oft von den „bidungsfernen“ geuebt, und es gibt keine Ausrede und keine Rechtfertigung. Jeder ist fuer sein Verhalten verantwortlich. Ich finde es grotesk, dass auch angesichts eines Angriffs sucht man den Taeter zu entschuldigen, indem man die Schuld bei andern -den Medien, den Politikern,Benachteiligung, Armut, usw. sucht.
Ich komme aus einem Land (GB), wo man mit starken Klassenunterschieden zu tun hat. Das sind kulurelle als auch wirtschaftliche Unterschieden. Nach dem rassistischen Mord an den jungen Stephen Lawrence vor ueber zwanzig Jahren, hat man fast zum ersten Mal ueber weissem proletarischem Rassismus gesprochen. Es jetzt vielmehr Verurteilung, und viel weniger „Verstaendnis“ fuer rassistischen Moerder und Gewalttaeter, und das ist richtig.
Schliesslich kann kein Rassismus bekaempft werden, wenn man rassistische Kultur nicht stigmatisieren will, egal von welcher Schicht es stammt.
Ich schliesse mich der Einschätzung von Janet an. Vielfach ist die sog. weisse Unterschicht halt auch viel mehr betroffen von den neuen Einwanderern. Sei es am Arbeitsplatz, wo sie durch billigere Arbeitskräfte oder Maschinen ersetzt werden, sei es in ihren Quartieren, wo die Kneipen zu gehen und durch Döner-Buden ersetzt werden. Trotzdem herrscht „Klassenkampf“, Ausgrenzung, „Rassismus“ und Sexismus auch innerhalb der Bevölkerung.
Ausserdem: Wenn zwischen rassistischem Verhalten und dem sexistischen Verhalten vieler Einwanderer unterschieden und abgewogen werden muss, wird’s schwierig. Theorie und Fremdzuschreibung ist immer Eins, praktisches Leben, und eigene Erfahrungen, das Andere.