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Die Abgewöhnung des Mitgefühls

Blumenwiese

Bild via Pixabay, Public Domain

Als kleines Kind fragte ich meine Mutter, warum sie gerade eben unseren Hund geschlagen hatte. Unser Hund war ein junger Bernhardiner, er war keine 6 Monate alt und hatte in den Flur gepinkelt. Als ich meiner Mutter diese Frage stellte, scheuerte sie mir eine. Und sagte, aus dem Hund müsse nun mal ein gut erzogener werden (so wie aus mir offensichtlich eine gut erzogene Frau werden sollte). Ich kann mich an diese Situation nicht deshalb so gut erinnern, weil sie den Hund und mich nur dieses Mal geschlagen hat, sondern, weil sie eine der wenigen Situationen war, in denen ich widersprach (“es wagte”). Ich weiß nicht mehr genau, wie alt ich war, nur, dass ich noch in den Kindergarten ging, und ich sagte ihr, dass der kleine Hund doch noch klein ist und schwach und noch viel lernen muss und doch viel weniger Kraft hat als ein Mensch. Ich sagte, dass ich das nicht fair finde, wenn ein Hund so behandelt wird. “Fair, was ist schon fair”, sagte meine Mutter, “gewöhn dir das ab”. “So funktioniert die Welt nicht.”

Meine Mutter war selbst so groß geworden, mit exakt diesem Glauben und dieser Überzeugung, dass Mitgefühl haben etwas Lächerliches und ein Zeichen der Schwäche ist, etwas Illusorisches und Unrealistisches, etwas, das sich nicht schickt, nicht in die moderne Zeit passt und einfach nur ein Produkt von Menschen ist, deren Brillengläser zu rosa sind. Sie durfte nicht weinen, also ließ sie auch ihre Kinder nicht weinen. Eine “Heulsuse” war ich. Wann immer ich Gefühle, aber vor allem Mitgefühl zeigte. Als in den 80-er-Jahren beispielsweise Greenpeace zu dem Wal- und Robben-Abschlachten publizierte, las ich heimlich unter der Bettdecke Berichte darüber, aber vor allem weinte ich heimlich. Ich konnte  und wollte es einfach nicht verstehen – diese Grausamkeit. Außerhalb meiner Bettdecke schluckte ich jede Träne runter. Lief doch eine hinunter, gefährdete das meine körperliche Unversehrtheit. Bei Berichten über den Holocaust sollte ich “das ist vorbei” sagen und meine Sprachlosigkeit ob dieser Brutalität war lediglich das Zeugnis einer Seele, die so nie bestehen kann. Nicht einer, die in einer weiteren Stufe des Lebens schmerzlich erkennt, was für Folgen Gewalt und die Abwesenheit von Mitgefühl hat. Das Lächerlichmachen meiner Mitschülerin vor der gesamten Klasse durch unseren Deutschlehrer sollte kein Gefühl in mir regen, “zu nah am Wasser gebaut”, “irgendwas wird diese dumme Schülerin schon falsch gemacht haben”. Und so weiter und so fort.

Fühle nicht. Dann fühlt auch keiner mit dir. Und dann bist du sicher.

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