„Pornographie“ wurde 1979 von der radikalfeministischen Vordenkerin und Soziologin Andrea Dworkin geschrieben und erschien 1987 in deutscher Sprache im Fischer Taschenbuch Verlag in der Reihe „Die Frau in der Gesellschaft“. Um es gleich vorweg zu nehmen: Ich halte dieses Buch für eines der klügsten, scharfsinnigsten und wichtigsten Bücher, die ich jemals gelesen habe. 38, bzw. 30 Jahre später müssen wir feststellen, dass unsere Gesellschaft heute eine andere sein könnte, hätte man Andrea seinerzeit zugehört und die notwendigen Konsequenzen aus den erkannten Fehlentwicklungen gezogen.
In ihrem Vorwort zur deutsche Ausgabe beschreibt Alice Schwarzer die neue Entwicklung wie folgt:
„Wie schon andere Feministinnen vor ihr, entlarvt auch Dworkin (die Feministin mit der linken Vergangenheit) die Rolle der Linken […] als besonders zynisch: Sie benutzt und erniedrigt die Frauen auch noch im Namen der (sexuellen) Freiheit. Ihre konservativen Väter genossen sexuelle Dienstleistungen noch hinter bigott verschlossenen Türen. Ihre Söhne stehen öffentlich dazu: Nutten-Look und Zuhälter-Attitüde beherrschen die Szene, die Mutter-Hure feiert ihre Wiederauferstehung in den Kultfilmen der Intelligenzia […], die Bukowskis bleiben WG-Bestseller, Peep-Shows und Puffs sind „geil““ (S. 11f)
Erst durch Andrea Dworkin (seinerzeit die Lektüre der Rede „Women Hating Left and Right“) habe ich, als linke Feministin, die sich gegen die Sexindustrie engagiert, verstanden, dass der Gegenwind, der einem aus den eigenen politischen Zusammenhängen entgegenschlägt kein Zufall oder eine deutsche Besonderheit ist, sondern, dass sehr viele Feministinnen vor mir / vor uns die gleichen bitteren Enttäuschungen machen mussten.
Pornographie kann nicht getrennt betrachtet werden von Prostitution, worauf ihre griechische Sprachwurzel bereits hinweist, „die schriftliche und bildliche Darstellung von Huren“. Diesem Phänomen widmete sich Dworkin in einem ausführlichen, tiefgehenden und schmerzhaften Studium. Sie beschreibt wie sie durch die Pornographie lernte die Welt durch die Brille der Pornographen und ihrer Konsumenten zu sehen, sie beschreibt wie sie lernte, Alltagsgegenstände (Türöffnungen, Elektrokabel, Telefone, …) als sexualisierte Gegenstände wahrzunehmen, mit denen Frauen gequält werden können – und werden. Sie beschreibt eindrücklich, was dieses Studium mit ihr als Mensch gemacht hat:
„Früher war ich eine hoffnungsvolle Radikale. Das ist jetzt vorbei, Die Pornographie hat mich infiziert, Einst war ich ein Kind und träumte von Freiheit. Jetzt bin ich erwachsen und sehe, was aus meinen Träumen geworden ist: Pornographie“ (S. 17)
Ihre Motivation für das Buch beschreibt sie wie folgt:
„Als Autorin, die sich der Welt verpflichtet fühlt […] beschloss ich, dass Frauen das sehen sollten, was ich sah. Das mag wohl die rücksichtsloseste Entscheidung sein, die ich je in meinem Leben getroffen habe. Aber […] es war die einzige Möglichkeit, über mein Thema zu triumphieren – indem ich es aufdeckte, umgestaltete, zu etwas werden ließ, dass wir definieren und benützen, anstatt uns weiterhin von ihm definieren und benützen zu lassen. […] Indem ich mich dem Alptraum stelle, will ich es einer anderen Generation von Frauen ermöglichen, die Träume von Freiheit wieder aufzunehmen, die mir die Pornographie genommen hat.“ (ebd.)
Andrea Dworkin bewertet Pornographie nicht losgelöst von der Gesellschaft, sondern weist darauf hin, dass die Werte, die sich in pornographischen Werken widerspiegeln, jene Werte sind die Geltung haben, in der Welt drum herum. Sie schreibt:
„Die Bewertung von Frauen in der Pornographie ist zweitrangig, dient ihre Herabsetzung doch dazu, männliche Macht zu verkünden, auszuüben und zu preisen. Männliche Macht, die Frauen degradiert, befasst sich in erster Linie mit sich selbst, mit ihrer Verewigung, Vergrößerung, Festigung und Erhöhung.“
Sie weist darauf hin, dass Pornographie nicht ohne Wirkung auf die Betrachterin bleibt und bei dieser Angst auslöst, denn die Tatsache, dass solche Bilder veröffentlicht werden und von Millionen Männern ohne Widerspruch konsumiert werden, zeigt allen Frauen, dass dieses dort sichtbare Grauen von ihnen nicht als Grauen aufgefasst wird.
Anknüpfend an Shulamith Firestone weist sie auf die Sozialisation des Jungen in seine Rolle als Mann hin: Er hat die Wahl der Mutter gegenüber loyal zu bleiben, „oder aber ein Mann zu werden, einer, der über die Macht und das Recht verfügt, zu verletzen, Gewalt anzuwenden, seinen Willen und seine körperliche Stärke über und gegen Frauen und Kinder einzusetzen“. Er hat die Wahl zwischen ficken und gefickt werden. (S. 63)
„Der Knabe versucht, es dem Vater gleichzutun, weil es sicherer ist, wie der Vater zu sein. […] Er distanziert sich von der Machtlosigkeit, die Frauen als Klasse zugeschrieben wird. Der Knabe wird ein Mann, indem er sich – so gut er eben kann – das Verhalten von Männern aneignet. […] Knaben werden Männer, um dem Schicksal des Opfers zu entgehen. Mädchen würden Männer werden, wenn sie es könnten, denn es würde Freiheit bedeuten. […] Freiheit von männlicher Aggression, die sich im Privatleben und in der gesamten Kultur gegen Frauen richtet“ (S. 64f)
Dworkin beschreibt Gewalt als Komponente männlicher Identität, weshalb Männer auch dann mit ihr ins Reine kommen müssen, wenn sie selbst unter Umständen zu ihrem Opfer werden. (S. 66) Sie verweist auf eine Studie des Kinsey-Instituts welches feststellte, dass die männliche Vorliebe für Gewalt in der Sexualität nicht eine Ausnahme, sondern normativ sei. Sie schrieben: „Wenn wir jedes strafbare sexuelle Verhalten als Sexualdelikt etikettierten, würden wir uns in der lächerlichen Situation befinden, dass die gesamte männliche Geschichte voller Sexualtäter wäre“ (S. 67)
Hinlänglich analysiert Dworkin das Erbe des Marquis de Sade, der von linken Intellektuellen zelebriert wurde, obwohl er „Schläger, Vergewaltiger, Entführer und Kinderschänder“ war (S. 88):
„Im Alter von 15 Jahren […] begann er anscheinend mit Glücksspielen und Bordellbesuchen. Frauen zu kaufen war eine der größten Leidenschaften seines Lebens, und die meisten Frauen und Mädchen, die er während seines Lebens missbrauchte, waren Huren oder Dienstbotinnen. […] Sades Misshandlungen an Prostituierten nahmen ein so alarmierendes Ausmaß an, dass die Polizei […] Kupplerinnen davor warnte, Sade mit Frauen zu versorgen.“ (S. 90, 92)
Seine Biographen stellten es jedoch so dar, als stünden die Grausamkeiten seiner Dichtung im krassen Widerspruch zu seinem Leben. (S. 101)
Dworkin sieht die Forderung linker Männer nach „freier Liebe“ und „freien Frauen“ als Euphemismus für die Idee von de Sade Staatsbordelle einzuführen, in denen alle Frauen gezwungen seien ihre Dienste anzubieten. (S. 121) Sie konstatiert:
„Sades Werk verkörpert die gewöhnlichen Werte und Wünsche von Männern […] Sades Bedeutung […] ist nicht jene eines Dissidenten oder Abweichlers: Sie ist die eines Jedermann. Eine Zuordnung, die der machthungrige Aristokrat als abstoßen empfunden hätte, die aber von Frauen, die genauer hinsehen, als wahr erkannt wird. Sade enthüllt die Richtigkeit der Gleichung: Die Macht des Pornographen ist die Macht des Vergewaltigers/Schlägers, ist die Macht des Mannes“ (S. 122f)
Die Durchsetzung männlicher Macht beruht nach Dworkin im wesentlichen auf der Illusion, dass Frauen frei handeln:
„Was Frauen in ihrer Privatheit tun wollen, stimmt zufällig mit dem überein, was Männer von ihnen verlangen“ (S. 164)
Dworkin sieht in dem Narrativ, dass Frauen „es so wollen“ die Ermöglichung der systematischen Gewalt gegen Frauen:
„Das Wesen von Vergewaltigung liegt […] in der felsenfesten Überzeugung, dass keine Frau Opfer ist, egal wie sehr sie durch das, was sie tut, entwürdigt wird. Wenn Dirnenhaftigkeit das Wesen der Frau ist, dann kann etwas, das dieses Wesen enthüllt, sie weder verletzen noch zum Opfer machen. Das Wesen von Vergewaltigung liegt in der Überzeugung, dass [Pornographie] eine weibliche Sexualität wiedergibt, die unabhängig ist von männlicher Macht, außerhalb der Grenzen männlicher Vorherrschaft existiert, unbeschmutzt ist von männlicher Gewalt“ (S. 166)
Dworkin, selbst jüdischer Herkunft, verweist auf die besondere Rolle, die die Sexualisierung von Jüdinnen in der Geschichte der Pornographie einnimmt und bezeichnet weder dies, noch die Tatsache, dass den US-Herausgebern des Playboy, die deutschen Ausgaben des Magazins am besten gefallen, als Zufall. (S. 168, 170ff):
„Die Sexualisierung der Jüdin […] bildet das Paradigma für die Sexualisierung aller rassisch oder ethnisch degradierten Frauen […] Hitler stellte den jüdischen Mann als Vergewaltiger und Schänder arischer Frauen dar. Er schuf das Bild der jüdischen Frau als Dirne, wild, promiskuös, die sinnliche Antithese zur arischen Frau, die blond und rein war. Sowohl männliche wie weibliche Juden wurden als sexuell bestialisch dargestellt. (S. 172, 176)
Im Folgenden möchte ich sehr ausführlich zitieren, denn die Brillianz einer Andrea Dworkin, Dinge auf den Punkt zu bringen ist unbeschreiblich. Zum einen geht es mir darum, dass Leserinnen sehen welche ungeheure Kraft ihre Worte und ihre Sprache haben, zum anderen ist es meines Erachtens gar nicht möglich diese essentiellen Dinge die sie schreibt sinnig zusammenzufassen, ohne dass etwas davon verlorengeht.
Über die Ethymologie von Pornographie schreibt Andrea Dworkin:
„Das Wort Pornographie, abgeleitet vom altgriechischen porne and graphos bedeutet „über Huren schreiben“. Porne bedeutet „Hure“, und zwar spezifisch und ausschließlich die unterste Klasse der Huren, was im antiken Griechenland die Bordellschlampe war, die allen männlichen Bürgern zur Verfügung stand. Die porne war die billigste (im wörtlichen Sinn), am wenigsten respektierte, am wenigsten beschützte aller Frauen, einschließlich der Sklavinnen. Sie war einfach, ganz eindeutig, ganz absolut eine sexuelle Sklavin“ […] Das Wort Pornographie bedeutet nicht „über Sexualität schreiben“ oder „Darstellung des Erotischen“ oder „Darstellung sexueller Handlungen“ oder „Darstellung nackter Körper“ oder „Wiedergabe sexueller Dinge“ oder irgendeinen anderen Euphemismus dieser Art. Es bedeutet die schriftliche und bildliche Darstellung von Frauen als wertlose Huren. Im antiken Griechenland galten nicht alle Prostituierten als wertlos: nur die porneia. Die zeitgenössische Pornographie hält sich streng an die ursprüngliche Bedeutung des Wortes: die schriftliche und bildliche Darstellung von Huren, oder, in unserer Sprache von Schlampen, […] Votzen. Das Wort hat seine Bedeutung nicht verändert, das Genre trägt keinen falschen Namen“ (S. 240)
Sie weist darauf hin, dass Prostitution außerhalb des Patriarchats undenkbar ist, denn:
„Huren kann es nur im Rahmen männlicher sexueller Herrschaft geben. Außerhalb dieses Rahmens wäre der Begriff Hure absurd, die Benützung von Frauen als Huren undenkbar. Das Wort Hure ist außerhalb des Lexikons der Männerherrschaft unverständlich. Männer haben die Gruppe, den Typus, das Konzept, die Bezeichnung, die Beschimpfung, die Industrie, den Handel, die Ware, die Realität der Frau als Hure geschaffen. Die Frau als Hure existiert innerhalb des objektiven und realen Systems männlicher sexueller Herrschaft“ (S. 140f)
Sie zieht aus der Tatsache, dass unter Pornographie „die Darstellung des Erotischen“ verstanden wird, den Schluss, dass
„…der wirkliche Spass bei der Sexualität an der Herabsetung von Frauen liegt. […] [Dies] belegt bloß, wie weit die Bewertung von Frauen als niedrige Huren verbreitet ist, und dass die weibliche Sexualität an sich als niedrig und verhurt angesehen wird“ (S. 241)
Wie weit verbreitet? Dworkin nimmt hier kein politisches Spektrum aus:
„Rechte und linke Männer fühlen sich der Prostitution als solche aufs tiefste verpflichtet […] Die Linke sieht die Prostituierte als die freie, öffentliche sexuelle Frau […] Die rechte sieht in der Prostitution die Macht der bösen sexuellen Frau, und dass der Mann sie benutzt, ist sein schmutziges kleines Geheimnis. Die alte Porno-Industrie war eine konservative, rechte Industrie: geheimer Sex, geheime Promiskuität, geheimes Kaufen und Verkaufen von Frauen, geheimer Profit, geheimes Vergnügen nicht nur am Sex, sondern auch am Kaufen und Verkaufen. Die neue Porno-Industrie ist eine linke Industrie: gefördert besonders von den Jungs der sechziger Jahre als einfaches Vergnügen, lustvoller Spaß, öffentlicher Sex, die Hure aus dem bürgerlichen [sic] Heim auf die Straße geholt zum demokratischen Konsum für ihre Männer. Ihre Freiheit, ihre freie Sexualität besteht darin, eine Hure zu sein – und sie mag es. Es ist sowohl ihr politischer als auch ihr sexueller Wille; es ist Befreiung. Das schmutzige kleine Geheimnis der linken Porno-Industrie ist nicht die Sexualität, sondern das Geld“ (S. 249)
Hieraus erklärt sich Dworkin zufolge die Bejubelung der Pornographen durch die politische Linke und das Framing von diesen als Helden der Arbeiterklasse. (S. 249) Dworkin bezeichnet aufgrund der Blindheit der politischen Linken für den Kapitalismus und die Ausbeutung in der Pornographie, diese als „Friedhof, auf dem die Linke begraben liegt“(S. 250):
„Wie nun kann man Rassismus bekämpfen und sich gleichzeitig damit einen runterholen? Die Linke kann nicht ihre Huren und ihre Politik gleichzeitig haben“ (S. 259)
Den Fetisch für Schwangerschafts-Prostitution und den Kampf gegen die Abtreibung hält Dworkin für logisch, dient doch die Schwangerschaft als Bestätigung dafür, „dass die Frau gefickt wurde“. Sie wird durch die sichtbare Schwangerschaft „als Hure markiert“ (S. 266):
„Ihr Bauch ist der Beweis, dass sie benützt wurde. Ihr Bauch ist sein phallischer Triumph. Sein Sieg darf nicht abgetrieben werden. Die rechte braucht ihren Beweis, ihren Triumph“ (S. 266)
Dworkin gelingt es die Auswirkungen von Pornographie auf alle Frauen deutlich zu machen. Sie schlussfolgert:
„Wir wissen alle, dass wir frei sein werden, wenn es keine Pornographie mehr gibt. Solange sie aber existiert, müssen wir begreifen, dass wir selbst die darin dargestellten Frauen sind: von derselben Macht benützt, derselben Bewertung ausgeliefert, wertlose Huren, die um mehr winseln.“ (S. 267)
Man kann nur erahnen was Andrea Dworkins Entscheidung hin- und nicht wegzuschauen, den Kampf aufzunehmen und deutlich zu sagen was ist, für sie persönlich bedeutet haben. Jede von uns, die schon einmal in Freierforen recherchiert hat, bei dem Versuch zu verstehen, was Prostitution bedeutet, bei dem Versuch hinter die Fassade der Euphemismen zu schauen, weiß wovon ich spreche.
Andrea Dworkin schließt ihr Buch über Pornographie mit den Worten:
„Die Jungs setzen auf unsere Fügsamkeit, auf unsere Ignoranz, auf unsere Angst. Wir haben uns immer geweigert, zu sehen, wie schlimm das ist, was Männer uns angetan haben. Damit rechnen die Jungs. Die Jungs setzen darauf, dass wir es nicht überleben würden, uns das ganze Grauen ihres Sexualsystems einzugestehen. Die Jungs setzen darauf, dass ihre Darstellung von uns als Huren uns so niederdrücken und erschlagen würde, dass unsere Herzen zu schlagen aufhören. Die Jungs setzen darauf, dass ihre Penisse und Fäuste und Messer und Ficks und Vergewaltigungen uns zu dem machen werden, was wir in ihren Augen sind – die fügsamen, sexuellen Frauen, die gefräßigen Votzen der Pornographie, die masochistischen Schlampen, die sich nur widersetzen, weil sie in Wirklichkeit mehr wollen. Die Jungs rechnen fest damit. Die Jungs haben sich verrechnet. (S. 267f)“
Als Feministinnen des 21. Jahrhunderts müssen wir uns an unsere feministischen Wurzeln erinnern. Wir müssen die Klassiker lesen, verstehen und dieses verschüttete Wissen wieder in Umlauf bringen. Denn nur darin liegt unsere Chance, dass Andrea recht behält und wir den „Jungs“ beweisen, dass sie die Rechnung ohne uns gemacht haben.
Ich lerne mehr und mehr Frauen kennen, die beispielsweise Prostitution auch aus stark narzisstischen Gründen heraus betrieben haben. Sie interessierten sich davor schon so gut wie nicht für Kontakt zu anderen Frauen oder weiblichen Zusammenhalt. Nur der Blick von Männern zählte. Insgeheim glauben sie, Männer zu beherrschen wie eine Königin und, dass alle anderen Frauen nur neidisch auf sie sein können. Vor allem aber, sehen sie andere Frauen als Konkurrenz und neiden ihnen selbst jede Rundung und jede männliche Aufmerksamkeit. Welche Rolle spielt dieser uralte weibliche Narzissmus in der radikalfeministischen Theorie. Gibt es ihn? Gibt es den Anteil an Eigenverantwortung am eigenen Dilemma? Oder ist die Frau grundsätzlich zu 100% mit ihren Entscheidungen im geschlossenen Machtsystem des Patriarchats gefangen? PS: Eine, die immer bereit zur extrem kritischen strukturellen Analyse ist, aber damit an manchen Stellen an ihre Grenzen kommt. Ich glaube, es ändert sich erst was, wenn wir den Anteil an Verantwortung von Frauen an ihrem eigenen Schicksal zumindest MITerwähnen. Das hat selbstverständlich NICHTS mit tatsächlichem Zwang, bedrohten Familien, etc. von Frauen zu tun, die sich voll und ganz in einer hilflosen Lage befinden. Und: Selbstverständlich tragen die Männer die Hauptverantwortung dafür, dass es Systeme wie Prostitution und Pornographie überhaupt gibt! Aber… dass diese SO erfolgreich sind, das könnten die m.E. nicht alleine bewerkstelligen. Auch wenn sie noch so viele Frauen als Kind missbrauchen. Irgendwie wünsche ich mir, dass die Gestaltungsspielräume fürs eigene Leben bei den Frauen in Prostitution und Pornografie in radikalfeministischen Kreisen mehr Erwähnung finden. Es ist nicht NUR die Macht des Systems. Auch wenn diese enorm ist, sie ist es nicht NUR.
Narzissmus? Ernsthaft? Dieses Wort wird so unglaublich inflationär benutzt, dass es mich extrem wütend macht.
Radikalfeministinnen wie Dworkin, Daly und Barry haben hinlänglich analysiert warum Frauen an ihrer eigenen Unterdrückung partizipieren, warum Konzepte von „Empowerment“, „Agency“ und der damit verbundene Selbstbetrug als erträglicher scheinen als der Realität ins Auge zu blicken. Das sind Survival-Strategien, aber ganz sicher kein Narzissmus.
Hallo Hanna, versteh deine Wut. War bei mir immer genauso. Bis ich eine immer größere Vielfalt dieser Frauen kennenlernen durfte. Keine Ahnung, welche Klientel du kennst. Das kann auch immer das Bild prägen. Survival ja: Aber eben oft, als eine von mehreren möglichen Survival-Strategien, die den Frauen alle auch bekannt sind. Ich möchte, dass der radikalfeministische Diskurs das endlich anerkennt. Es ist eben oft weder NUR Choice (wie die modernen Netzfeministinnen es sich schönreden), noch ist es NUR Zwang (also Survival und es bleibt dir sonst nix übrig)! Und wie gesagt, rede ich natürlich NICHT von den krasseren Fällen (Loverboy mit 14 getroffen, bald in den Fängen eines Drohsystems, Gewalt, etc. oder: Kein Wort Deutsch und Bedrohung des Lebens, der Familie, etc.). Die Frauen, die ich meine, kommen vielleicht auch manchmal aus der Ukraine oder sonstigen ehemaligen Ostblock-Ländern, wussten aber oft vor ihrer Ankunft, worauf die Anzeige, auf die sie sich meldeten, hinauslief. Oft gabs entweder schon vorher oder bald nach Ankunft Deutschkenntnisse, etc. Ziel: Migration, manchmal wollen sie auch hier studieren. Mittel: Deutschen Mann finden. Alter: Um die 20, manchmal auch älter. Später teilweise Mutter, verheiratet, Mann gut im Griff… und doch immer unzufrieden, nach einem Neuen (Mann) suchend, weil sie den ja nur zum Zweck geheiratet haben. Männer, Männer, Männer… den Kopf noch mit Mitte 30 voller Schwärmereien für irgendwelche Typen. Ob Kinder daheim und längst gefügig gemachten Mann, der bei jeder Laune springt und seit 15 Jahren seine Schuld abarbeitet, dass er sie und andere damals bezahlt hat, oder nicht. Männer beherrschen das Hirn. Vollkommen. Denen sind all die Feministinnen, die gegen die Systeme ankämpfen, völlig schnurz. Im Gegenteil, die werden auch mal gern belächelt. Diese Frauen tragen meiner Ansicht nach Verantwortung für ihre Entscheidungen. Das melde ich ihnen in der Arbeit (Psychotherapie) inzwischen auch sehr deutlich rück. Seitdem läufts weit besser mit den Therapien. Es geht weit besser voran. Wir machen uns einfach grade und ehrlich: Beide Seiten, Klientin und Therapeutin. Das fühlt sich wirklich nur noch richtig an.
Aber, ehrlich gesagt schmerzt es trotzdem jedesmal die Frauen innerhalb dieses gesamtpatriarchelen Machsystems daran erinnern zu müssen, dass sie es eben teilweise auch selbst aktiv mittragen. Gern würden sie sich weiter einreden, dass sie trotz gewachsener Freiheitsgrade, keine anderen Wahlmöglichkeiten haben. Dabei blenden sie aus, dass sie ständig auf der Suche nach diesem erhebenden Gefühl sind, wenn der nächste sich unsterblich in sie verliebt und ihre Schönheit ihn beherrscht. Das ist etwas Uraltes, vermutlich evolutionsbiologisches, um die besten Gene und Ressourcen für den eigenen Nachwuchs zu sichern. So wie leuchtende Federn bei (hier) männlichen Vögeln im Tierreich, oder ähnliches. Es ist verdammt schwer, das aus diesen Frauen rauszukriegen. Das geht nur über Ehrlichkeit und Verantwortungsübernahme. Verantwortung ist etwas anderes als Schuld. Verantwortungsbewusstsein stärkt die Persönlichkeit. Schuldzuweisungen schwächen sie. Im Weg steht oft die Scham, die durch Verständnis für solche Strategien innerhalb des patriarchalen Machtsystems erstmal abgefedert werden muss. Erst dann, kann das Gefühl für die eigene Verantwortung für zukünftige Entscheidungen wachsen. Aber es gibt immer diesen Punkt, wo man nicht drumrum kommt, an diese zu erinnern und der ist manchmal schmerzhaft (auch für mich). Ich hab manchmal den Eindruck, dass der radikalfeministische Diskurs dem ausweicht: Viele der Frauen, die in dem System Prostitution/Porno mitmachen sind nicht immer ausschließlich Opfer, die keinerlei Wahl wissen und kennen. Sie haben manchmal auch vom radikalfeministischen Diskurs, meiner Ansicht nach, völlig ausgeblendete Motive für ihr Handeln. Solange es diese blinden Flecken im Diskurs gibt, wird er keine nachhaltige gesamtgesellschaftliche Wirkung entfalten. Die Wirklichkeit ist nicht linear. Sie ist ambivalent, vielfältig verstrickt und komplex. Da liegen scheinbar sich ausschließende „Gegensätze“ eng beeinander. Sie ist sowohl als auch. Deshalb sind viele dieser Frauen sowohl Opfer als auch Agents. Das kriegt unser Hirn nur einfach verdammt schwer zusammen und es erschwert und verkompliziert natürlich den Diskurs erheblich, das miteinbeziehen. Dennoch halte ich es für notwendig, wenn Frau aus dem Opfer-Dasein raus soll.
„Sie verweist auf eine Studie des Kinsey-Instituts welches feststellte, dass die männliche Vorliebe für Gewalt in der Sexualität nicht eine Ausnahme, sondern normativ sei. Sie schrieben: „Wenn wir jedes strafbare sexuelle Verhalten als Sexualdelikt etikettierten, würden wir uns in der lächerlichen Situation befinden, dass die gesamte männliche Geschichte voller Sexualtäter wäre““
Einfach nur erschreckend.
Und zu Andrea Dworkin. Sie ist genial. Wird sie immer sein. Danke für den Beitrag.
@Susanna
Sicherlich sind Frauen nicht ausschließlich Opfer des Systems, dass hat so glaube ich auch niemand behauptet. Und ja, es gibt sie scheinbar, die Frauen die sich gerne und freiwillig prostituieren. Sie werden uns v.a. in den Medien vorgeführt, speziell auch im so verruchten SM-Ambiente und doch handelt es sich hierbei oft um Frauen, die ihren frühkindlichen Missbrauch durch den eigenen Vater oder nahen Verwandten mehr oder weniger erfolgreich verdrängt haben. Nicht nur. Keine Frage. Es gibt sicherlich auch Frauen, die diese Art von Aufmerksamkeit suchen, wie Du sie beschrieben hast. Doch warum? Ein solches Verlangen muss doch einem tiefverankerten Bedürfnis entspringen, einem Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Liebe, das vermutlich in früher Kindheit nicht befriedigt werden konnte, auf ganz normale Art und Weise, wie es zwischen Kindern und Eltern vorkommt. Solche Bedürfnisse, die sich gerade auch in extremerer Form im Bereich des S/M finden, sind somit of verkleidetet unbefriedigte Bedürfnisse aus der frühen Kindheit, die verschüttet und verdreht wurden, die jedoch ungestillt im Hintergrund warten, nach wie vor erfüllt zu werden. Es ist also auch hier nicht der freie Wille, der diese Frauen motiviert.
Liebe Anna, wie gut kenne ich diese Argumentationskette von mir selbst. Das Problem ist nur: Es gibt viele Menschen, die das in der Kindheit erfahren haben, was du beschreibst. Viele Frauen. Und jede trifft andere Entscheidungen, wie sie damit umgehen und ihren Lebensweg gestalten. Die Diskussion um den freien Willen ist auch sehr alt. Viele Neurowissenschaftler bestreiten diesen inzwischen. Die Philosophen halten daran fest. Ich denke, die Wahrheit ist irgendwo dazwischen. Ich glaube fest daran, dass es Freiheitsgrade gibt, wenn nicht von außen sämtliche genommen werden, was leider oft genug auch vorkommt. Von diesen Fällen, ich betone es nochmal, rede ich natürlich nicht. Wenn mir einer dieser Fälle in der Arbeit begegnet (oft außerhalb von Prostititionsbezügen, eher in vergifteten gewalttätigen Ehen, etc.) werde ich regelrecht militant und stecke sämtliche Kraft rein, diese Frauen erstmal zu ermutigen, den Schritt zu wagen, sich gemeinsam mit unserer Hilfe (ich arbeite in einer Psychiatrie) aus dem Gewaltsystem zu Hause zu befreien. Wir sitzen dann alle gemeinsam dran: Leitende Psychologin, Chefärztin, Sozialarbeiterinnen, die örtliche Polizei, Rechtsanwältinnen, die als Betreuerinnen eingebunden werden, etc. und ziehen an einem Strang, sobald die Frau sagt: „Ich wills versuchen.“. Bei den meisten jedoch, finde ich eine Menge Freiheitsgrade, die von den Frauen einfach nicht genutzt werden. Selbst, wenn sie im Selbstwertgefühl bestärkt werden und viele Hilfemöglichkeiten aufgezeigt werden. Sie treffen Entscheidungen, für die eine schlechte Kindheit nicht noch mit 40 völlig verantwortlich gemacht werden kann, auch wenn einige dieser Frauen, diese „Coverstory“ inzwischen tief verinnerlicht haben und sich lebenslang in der Opferrolle vergraben und ausschließlich äußere Umstände und die Vergangenheit für ihre Entscheidungen verantwortlich machen. Es ist ein riesiger Balanceakt, zum einen beim Mitgefühl und Verständnis für die tiefen Wunden aus der Vergangenheit zu beiben, diese anzuerkennen und gemeinsam mit den Frauen daran zu arbeiten, aber zugleich nicht miteinzustimmen, in dieses: „Ich kann nicht anders, es gibt keine Wahl, weil…“. Hier gilt es auch, ein bisschen mutig zu sein, quasi stellvertretend für die Frauen, bis sie – vielleicht doch irgendwann – ihren eigenen Mut finden. Falls nicht, ist es auch notwendig, das zu akzeptieren. Aber… bei sowas dann „hilflos“ zusehen zu müssen, ist schon auch krass. Alles, was ich dann tun kann, ist die Frauen wenigstens im therapeutischen Setting, nicht aus ihrer Verantwortung rauszulassen, für eben auch die Entscheidung in den aktuell weiter schädigenden Verhältnissen bleiben zu wollen, weil… „die Kinder“, weil… „das Geld“, weil… obwohl man für all das mit allen multiprofessionellen HelferInnen bereits Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt hat. Dann iss es halt so. Nur die Story „es geht nicht anders“, lasse ich nicht auf Dauer durchgehen. Das würde gegen jede Berufsethik verstoßen, finde ich. Meine Aufgabe ist es, die Realität der verschiedenen Möglichkeiten weiter im Blick zu behalten und diese immer und immer wieder unermütlich aufzuzeigen. Das geht nicht, wenn ich nicht an die Möglichkeit von Willen und Entscheidungen glaube. Das würde sich vollkommen widersprechen und ich könnte meinen Job sofort an den Nagel hängen :). Ich muss an Wahlmöglichkeiten glauben, sonst kann ich die Frauen niemals zur Selbsthilfe ermutigen. Ich muss den Glauben daran aufrechterhalten, auch wenns manchmal komplex ist, aus einer einmal geschaffenen „Es geht nicht anders.“-Sackgasse und dem so gewohnten Gewaltsystem auszubrechen. Ich bin einfach in meinem Job die Letzte, die diesen Glauben aufgeben darf. Das dürfen nur die Klientinnen/Patientinnen, ich jedoch nicht. Und… genau diese Haltung zeigt manchmal erst nach längerer Zeit, immer und immer wieder Wirkung :). Das motiviert, durchzuhalten und niemals den Glauben an den freien Willen aufzugeben, egal was als Kind war und egal was heut ist. Wenn ein ganzes Hilfesystem zur Seite steht, geht was. Die Frauen müssen nur ihren Glauben an sich und ihr Vertrauen in andere zurück gewinnen und lernen, dass zweitweise Schwierigkeiten beim Ausstiegsprozess noch lange nicht heißen, dass sie in die alte Mühle zurückkehren müssen, weil es „ja eh nicht geht“. Sie müssen lernen, ihren Weg zu gehen und Niederlagen als Zeitphänomene auf ihrem Weg in die Freiheit zu sehen. Ab dem Zeitpunkt, wo sie anfangen, an die „Vision“ eines anderen Lebens zu glauben, passieren oft „Wunder“. Bis dahin, ists aber oft hart. Es gehört aber zu den schönsten Momenten in meinem Leben, wenn es wieder eine geschafft hat. Es gibt keinen schöneren Job, als sowas fördern zu dürfen. Selbst wenn man bei vielen anderen erstmal nicht weiterkam. Deshalb kämpfe ich in unserem Diskurs hier immer wieder dafür, an Entscheidungen zu glauben. Ich glaube, dass wir die Frauen auf Dauer – ohne, dass wir das wollen – schwächen, wenn wir verkünden, dass es diese nicht gibt. Ich halte das auf Dauer für fatal. Es ist nicht nur die Umwelt und die Männer, die sich ändern müssen. Es sind AUCH die Frauen. Nur so, können diese Gewaltsysteme irgendwann ein Ende haben. Davon bin ich inzwischen überzeugt.
Susanna, dein Victim Blaming ist unerträglich. Wenn wir von Machthierarchien sprechen, dann gibt es zwei Möglichkeiten: Diese anzuerkennen oder sie zu ignorieren und die untergeordneten für ihre eigene Viktimisierung (mit)verantwortlich zu machen. Das gabs schon bei der transatlantischen Sklaverei, wenn man den versklavten Menschen vorwarf, sie würden das ja so wollen, seien ok mit der Rolle und würden aktiv dazu beitragen. Schade, dass nach all diesen Jahren die du hier liest und kommentierst so gar nichts bei dir angekommen ist. Und übel für deine Klientinnen, denen du dann offenbar noch so gegenüber trittst.
Manu, du agierst mit Schlagwörtern und Angriffen („Victim Blaming“) und avancierst mich damit zur Täterin. Es gibt dann wohl nur schwarz und weiß („entweder“ „oder“). Ich agiere mit Situationsbeschreibungen und persönlichen Schilderungen. Betone Ambivalenzen und Grautöne. Was immer du in meinen Schilderungen und Äußerungen siehst, gehört dir. Deine Aggressivität, deine Verurteilungen, etc. Gehören dir. Es ist der Diskurs, der darunter leidet. In feministischen Diskursen leider Alltag. Meiner Ansicht nach der Hauptgrund für ihr Nieschendasein. Toleranz für andere Sichtweisen, ohne gleich ein Feindbild zu produzieren, ist nicht immer einfach. Das weiß ich selbst. Ich wünsche dir, dass dir das eines Tages leichter fällt. Ich wünsche es auch dem radikalfeministischem Diskurs. Einfach, weil er wichtige Ergänzungen im gesamtfeministischen Diskurs einbringen könnte, die auf so eine Weise m.E. niemals gesamtgesellschaftlich die eigentlich verdiente Wirkung entfalten können. So gibts nur Fronten, Trennung, Teilung. Ehemalige Mitstreiterinnen, alle irgendwann entzweit und zerstritten. Einfach, weil es ans Tiefste rührt, der jeweils anderen Täterschaft vorzuwerfen. Alle sehen alles falsch, vor allem die „anderen“ Feministinnen, wenn ihnen überhaupt noch Feminismus zugesprochen wird. Krieg und Feindschaft, um das Wohl der Frauen zu verbessern. Ich denke, jede von uns leistet auf ihre Weise feministische Arbeit, auch wenn man die andere Seite nicht immer verstehen oder deren Meinungen nicht immer teilen mag. Ich hab es auch nicht immer so gehalten, versuche das jedoch immer mehr. Dazu brauchte ich Abstand zu den – in meinen Augen – „Schwarzweiß-Sichten“, von denen ich im radikalfemistischen Setting vor inzwischen vielen Jahren eng umgeben war. Ich denke nicht, dass solche Angriffe aufeinander, den Frauen wirklich dienen. Wer jeweils was nicht wirklich vesteht… steht dabei auf einem anderen Blatt. Ich werde mich für meine Schilderungen und Sichtweisen nicht rechtfertigen oder gar versuchen wollen, das du sie „richtig“ vestehst, wie sie sich in meiner Erfahrungswelt darstellen. Du darfst es anders sehen. Dich dabei in irgendeiner Weise zu „betiteln“, lass ich umgekehrt bleiben. Ich bleibe dabei: Die Wirklichkeit ist nicht linear, sie ist ambivalent, komplex, widersprüchlich und alles nebeneinander und gleichzeitig. Und mir selbst geht es so, dass ich am Anfang oft nicht weiß, wo die Reise mit einer Klientin hingeht. Es gibt keinen fertigen Plan. Der Prozess bestimmt den Weg. Und die Frau lenkt diesen mehr als ich. Nach den Jahren, in denen ich inzwischen so arbeite, gibt es viele Frauen, die noch immer anrufen und erzählen, wie es weitergegangen ist. Viele fanden irgendwann den Absprung und meldeten rück, dass ihnen das zwar damals nicht gefiel, jedoch gerade die Erinnerung an ihre Wahlmöglichkeiten und ihre eigene Verantwortung für ihren zukünftigen Weg, ihnen geholfen habe, sich aus längeren Gewaltbeziehungen zu befreien. Es war gerade die Trennung zwischen „Schuld“ („blaming“) und Verantwortung (eigene Stärke erkennen), die ihnen aus der ewigen Scham, dass sie blieben, heraushalf. Ich hab sie dabei nie gedrängt, das Gewaltumfeld zu verlassen. Wie oben beschrieben, stand zuerst die Arbeit mit der Scham im Vordergrund… das Verständnis für ihre Gründe, zu bleiben. Danach die Arbeit mit der Angst: Vor seiner Rache, davor es alleine nicht zu schaffen, davor allein nicht überlebensfähig zu sein, etc. Und wiederum die Scham dafür. Immer wieder Scham. Erst wenn die durch Mitgefühl und Verständnis für biografische Zusammenhänge und vor allem durch Mitgefühl und Verständnis für sich selbst, immer kleiner wurde, konnte der Loslösungsprozess beginnen und die Frau statt „Schuld“ (Scham, an allem „selbst schuld“ zu sein), Verantwortung für die Befreiung aus der Situation übernehmen. Was immer du als Projektionsbild auf meine Arbeit haben magst: Es gehört dir.
Vielleicht bezieht sich das „victim blaming“ auch weniger auf die Gewaltbeziehungen in Ehen, von denen ich später sprach, als auf die Sache, dass viele Prostitutierte ihren Weg ebenfalls selbst gestalten, und zwar auch mit Motiven, die im radikalfeminstischen Diskurs ausgeblendet werden. Okay, da war ich auf Angriffe gefasst. Ich war nur grad bei meiner letzten Antwort an Anna… keine Ahnung, ob du die überhaupt gelesen hattest, Manu. Seis drum: So oder so… behalte deine Sicht, wie du magst. Dann bin ich eben in deinen Augen die böse „Victim Blamerin“ und es gibt nur „entweder“ „oder“. Meine Sicht auf Frauen ist eine sehr Starke. Je mehr Opfer ich ganz nah kennenlerne, umso mehr, sehe ich wie stark die Frauen eigentlich sind, auch wenn sie selbst es nach einiger Zeit gar nicht mehr sehen können. Ich weiß, dass sie da rauskönnen und, dass nur SIE und nicht irgendwelche „Retterinnen“ letztlich die Macht haben werden, die Entscheidung zu treffen. Umgekehrt folgt daraus: Wenn es geschieht, ist es allein IHR Verdienst. SIE waren es, die dann alle Hilfsangebote genutzt und mutig den Schritt raus gemacht haben. Wenn dazu gehört, dass frau mutig bereit ist, auch eigene narzisstische, allein die Umwelt verantwortlich machende oder sonstige aufrechterhaltende eigene Anteile fürs eigene Dilemma zu erkennen, dann war das eine umso größere Leistung. Wer gibt sowas schon gern vor sich selbst zu. Dabei ist es doch so normal: Wir alle sind von Zeit zu Zeit bequem, wir alle sind von Zeit zu Zeit narzisstisch, wir alle machen von Zeit zu Zeit ausschließlich äußere Umstände für eigene Dilemmata verantwortlich, wir alle fühlen, denken und handeln widersprüchlich und ambivalent, etc. So what? Ich nehm als erstes immer die Beurteilung dessen als „negativ“ raus und bekenne mich dazu, das selbst auch zu kennen. So darf dann überhaupt erst alles existieren, was da ist und ich bekomme überhaupt erst zu hören, was aus lauter Scham sonst niemandem erzählt wird. Ich öffne das Spektrum für alle möglichen Motive, auch die welche von anderen verurteilt würden. Ich finde das alles nicht schlimm und ich finde auch nicht, dass das etwas sei, das man nicht ansprechen dürfe oder sich dafür schämen müsse. Es hat auch nichts mit „Schuld“ zu tun. All dieser Kram ist einfach nur menschlich… allzumenschlich.
Das Wichtigste, was die Frauen für ihre eigene Befreieung brauchen, ist neben dem Wissen um Hilfsangebote (und, die muss es natürlich geben), die Erinnerung an ihre eigene Stärke. Die erreiche ich nicht, indem ich die urmenschliche Erfahrung Opfer geworden zu sein, nicht als Zeitphänomen, sondern als Identitätswahrnehmung, bestärke. Das ist fatal, weil das einfach in jedem Menschen – und das können wir noch so sehr versuchen auszureden – Scham erzeugt. Und Scham lähmt. Opfer als Identitätswahrnehmung bedeutet, sich immer wieder als hilflos und ohnmächtig wahrzunehmen. Das ist lähmend und schädlich und bringt die Frauen immer wieder erneut in Situationen, in denen sie leichte Beute sind. Opfersein ist KEINE Identität. Es ist eine normalmenschliche Erfahrung, die jedem passieren kann und Wunden hinterlässt. Mit diesen Wunden kann frau umgehen lernen. Opfer geworden zu sein, muss nicht zu einer bis zum letzten Tag wegbestimmenden Erfahrung werden. Dass der Weg mit tiefen Wunden leicht sein muss, wird keiner behaupten. Aber er kann dennoch in die Freiheit führen: Frei von Angst, frei von Hass, frei von Abhängigkeitsbeziehungen, frei von Selbstabwertungen, frei von Scham, frei von engen Denkschemata, frei von Vorbestimmtheit des jeweils nächsten Schrittes. Und damit, das Wichtigste: Frei von der (ehemaligen) Macht des Täters. Sein Werk eben nicht durch ständige (direkte und indirekte) Selbstverletzungen noch stellvertretend weiter für ihn vollendend. Dafür kann ich als Opfer beginnen, Verantwortung übernehmen, wenn ich die ewige, oft heimliche und tief innerlich versteckte, Scham durch Selbstmitgefühl und Verständnis für mich besiegen kann. Eine Selbstoffenbarung: Dafür habe ich als Opfer auch selbst Verantwortung übernommen. Und, eine Beobachtung, bei der ich mich wundere, warum sie hier nicht auch häufig gemacht wird: Die Frauen, mit denen ich zu tun habe, HASSEN es sich als Opfer der Umstände zu sehen. Sie verweisen ständig auf ihre eigenen Entscheidungen und zugleich schämen sie sich dafür, weil sie glauben, sie seien „Schuld“ an irgendwas. Dann wiederum relativieren sie alles, indem sie Dilemmata verantwortlich machen, dass sie bleiben. Sie fühlen sich darin total zerrissen und das erzeugt dann noch mehr Scham. Es ist – wenn alle Hilfsangebote ausgeschlagen werden – mehr ein inneres als ein äußeres Gefängnis. Wenn sie es schaffen, da auszusteigen, sind sie stolz auf sich. Wenn ich dann nochmal das alte Dilemma anspreche und betone, dass es vor ihrem Kontext, in ihren Mokkasins auch verständlich war, kommt auch mal gern: Ja, ich weiß. Aber es war auch meine Entscheidung. Wenn sie das sagen, ist oft das Strahlen in die Augen zurück gekehrt, dass man dort jahrelang nicht mehr finden konnte. Du kannst mir also erzählen, was du willst, solange du das nicht gesehen hast, kannst du nicht wissen, was ich mit all dem, was ich schrieb, gemeint habe. Frauen sind verdammt stark. Sie besitzen die größte Stärke überhaupt: Sie können sich selbst ins Gesicht sehen und mutig hinschauen, wovor sie zuvor Angst hatten. Wenn ich mit Männern arbeite, merke ich genau an dem Punkt große Unterschiede.
Ich merke grad, ich kanns nicht lassen: Hab doch wieder versucht, mit meinem Appell für die Selbstverantwortung an der Mitgestaltung der Macht-Systeme, von denen wir hier sprechen, verstanden zu werden. Verkrümel mich jetzt in Enttäuschungsprophelaxe und erwarte wieder Angriffe.
Ja, Susanna, wenn wir schon von „Mittäterinnenschaft“ sprechen, dann lass uns doch mal von jenen Frauen sprechen, die sich erdreisten Frauen für ihre eigene Viktimisierung mit verantwortlich zu machen und damit dem Patriachat sehr schön in die Hände spielen.
Aus deinen Posts können wir lesen:
– Es gibt osteuropäische Frauen, die hierzulande gegen ihren Willen ausgebeutet werden und von einem Loverboy in die Prostitution gezwungen werden und solche, die narzisstisch sind, nur Männer im Kopf haben („deren Hirn von Männern beherrscht wird“) und sich diesen an den Hals schmeißen. Erstere sind deiner Meinung nach Opfer, die unsere Solidarität verdient haben, zweitere sind mitverantwortlich für die patriarchalen Verhältnisse
-Wer sexuelle Gewalt als Kind erfahren hat muss deiner Meinung nach dafür in die Verantwortung gezogen werden, wenn sie die „falschen Entscheidungen“ trifft, die falschen Survival-Strategien wählt, zu dumm ist die ihr aufsozialisierte Rolle im Patriarchat zu erkennen und sich ihrer zu erwehren
– Du tolle Therapeutin zeigst doch den Frauen den weg auf, schenkst ihnen eine Wahl und wenn sie sie nicht nutzen, dann nutzen sie deiner Meinung nach nicht ihre Möglichkeiten, haben sich „in ihrer Opferrolle vergraben“ und machen andere für ihre Situation verantwortlich (ja verdammt nochmal, die Täter sind verantwortlich für deren Situation). Du hast die Dreistigkeit diese Frauen, die mit ihrem tagtäglichen Überleben beschäftigt sind und die es nicht schaffen deinen Erwartungen gerecht zu werden, als feige und schwach zu bezeichnen. Du gibst ihnen die Schuld, dass sie nicht in ihrem Leben vorankommen und beschämst sie damit
– Du reproduzierst die hier auf diesem Blog scharf von betroffenen sexueller Gewalt kritisierte Sicht auf den Opferbegriff als entpowerend und DU bist es, die den Begriff so verwendest, dass du all jenen, für die es wichtig ist den Opferbegriff verwenden zu können und die Täterschaft nicht unsichtbar zu machen, eine Schwäche zuweist. Du bist es, die sie klein macht und ich hoffe inständig, dass du so nicht mit Frauen redest, die zu dir in die Therapie kommen und Unterstützung erwarten.
Ich hätte mir gewünscht, dass du dich zu dem äußerst um das es in dem Artikel geht und nicht die verdammt wichtige und uns alle betreffende Analyse von Andrea Dworkin ellenlang damit derailst, dass du Bashing betreibst gegen Betroffene des Gewaltsystems Patriarchat.
Weißt du, dir geht es ja noch nicht mal in deinen Kommentaren um jene Frauen, die die Ideologie des Patriarchats verbreiten, alle deine Beiträge drehen sich um eine Verantwortungsverlagerung von erfahrener Gewalt auf die Opferseite, auf konkrete Opfer. Ich muss ehrlich sagen: Deine Kommentare erschüttern mich zutiefst und machen mich auch ein stückweit sprachlos, dass du sie auf diesen Blog liest – nach all den Artikeln in den letzten Jahren.
Gerade heute gibt es einen Facebookthread auf meiner Timeline, wo es darum geht Alternativen zu dem Begriff „handmaidens of patriarchy“ zu finden. Eine schrieb als Vorschlag: „Women suffering internalised misogyny“. Den Vorschlag finde ich gut, weil ich ihn nicht so abwertend finde wie ein Begriff der Mittäterinnenschaft ausdrücken will, da es meines Erachtens nicht den gesellschaftlichen Bedingungen entspricht. Frauen, die an internalisiertem Frauenhass leiden – das trifft es meines Erachtens sehr gut, und es wird – im Gegensatz zu deinen Ausführungen – der Lebensrealität von Frauen gerecht.
@Susanna
„Nur die Story “es geht nicht anders”, lasse ich nicht auf Dauer durchgehen. Das würde gegen jede Berufsethik verstoßen, finde ich. Meine Aufgabe ist es, die Realität der verschiedenen Möglichkeiten weiter im Blick zu behalten und diese immer und immer wieder unermütlich aufzuzeigen.“
Meine Ausführungen bezogen sich u.a. auf Prostituierte, die heute gerne als sex worker in Medien (oder auch schon seit längerem, wie Stefanie Klee) posieren und systemgerecht der Sozialromantik nachhängen und damit all den Frauen, die weltweit keine Wahl haben, unaufhörlich in die Magengrube schlagen. Diese Frauen, die sich diese Tätigkeit laut eigener Aussage freiwillig gewählt haben und diese vielleicht sogar als eine Art der sexuellen Selbstverwirklichung verkaufen, können oft so handeln, weil sie entweder einen frühkindlichen Missbrauch verdrängt haben oder weil sie eben ein ungestilltes Bedürfnis nach Zuneigung haben, das sich durch viele Verdrehungen und Kaschierungen pervertiert hat und nun seine Befriedigung durch eben solch ein Verhalten sucht. In solchen Fällen ist es gar nicht möglich, irgendwelche Hilfen anzunehmen, da frau dazu zunächst die verschütteten Dinge aufdecken und aufarbeiten müsste. Geschieht dies nicht, fügen sie sich ideal ins System ein, als „freiwillige“ in das patriarchale System der Prostitution und Pornografie (sie oben, ein und das Gleiche).
Eine Frau, die lange Zeit in der Prostitution tätig war, hatte es auf den Punkt gebracht. Ihr Vater war ihr bester Lehrmeister, denn durch ihn lernte sie schon sehr früh den Zusammenhang zwischen sexualisierter Gewalt und Geld kennen, in dem er ihr Schweigegeld anbot. Diese Worte sich erschütternd aber es genau dass, was das System aufrecht erhält.
Susanna, wenn du was zum eigentlichen Text schreiben möchtest: Nur zu.
Alle anderen Kommentare, insbesondere solche beleidigenden wie deinen letzten, schalte ich nicht mehr frei. Irgendwo kennt meine Großzügigkeit dann doch Grenzen.
Als das Buch in deutscher Sprache erschienen war, dachte ich damals, ich hätte verstanden, worüber Andrea Dworkin schrieb. Die Themen Pornografie und Prostitution waren jedoch vermeintlich so weit von mir entfernt, dass sie mein Bewusstsein nicht wirklich erreicht haben.
Heute treffen ihre Analysen mich mit einer derartigen Wucht, dass ich verstehen kann, weshalb es Frauen schwerfällt, sich bewusst zu machen, dass wir alle davon betroffen sind. Eine Desillusionierung ist schwer zu ertragen.
Ich erinnerte mich an eine Textstelle in Rachel Morans Buch:“ Man braucht Kloaken, um die Paläste sauberzuhalten, sagten die Kirchenväter. Und Mandeville schrieb in einem Werk, das Aufsehen erregte: »Offenbar ist es notwendig, einen Teil der Frauen zu opfern, um den anderen zu bewahren und einer noch abstoßenderen Sorte Schmutz vorzubeugen.« (…)…..“SIMONE DE BEAUVOIR, DAS ANDERE GESCHLECHT
Anm.: Bernard Mandeville 1670-1733
Zum Nachdenken hat mich eine Passage aus einem der Kommentare von Manu gebracht, da ich den Begriff „Erfüllungsgehilfinnen des Patriarchats“ gelegentlich verwende. Im Grunde genommen spielt diese Bezeichnung der Männerherrschaft in die Hände:“ Gerade heute gibt es einen Facebookthread auf meiner Timeline, wo es darum geht Alternativen zu dem Begriff “handmaidens of patriarchy” zu finden. Eine schrieb als Vorschlag: “Women suffering internalised misogyny”. Den Vorschlag finde ich gut, weil ich ihn nicht so abwertend finde wie ein Begriff der Mittäterinnenschaft ausdrücken will, da es meines Erachtens nicht den gesellschaftlichen Bedingungen entspricht. Frauen, die an internalisiertem Frauenhass leiden – das trifft es meines Erachtens sehr gut, und es wird – im Gegensatz zu deinen Ausführungen – der Lebensrealität von Frauen gerecht.“
Danke für das Erinnern an Andrea Dworkin.
Mich beeindruckt jedes Mal ihre Sprache und ihre Fähigkeit das was einigen Frauen angetan wird auf seine Wirksamkeit auf andere Frauen zu analysieren. Eine Frau, die so schlimme Dinge erlebt hat, aber das große Ganze niemals aus den Augen verliert. Und wie Robert Jensen in seinem Buch schreibt, die alles andere als den Titel “Männerhasserin” verdient, sondern bis zu ihrem Tode weiter an deren Menschlichkeit geglaubt hat. Ich halte sie nicht nur für eine der größten Autorinnen, sondern auch für eine richtig gute Soziologin. Als ich Bourdieus “Männliche Herrschaft” gelesen habe, wurde ich die ganze Zeit den Gedanken nicht los, dass er Dworkin gelesen (und verstanden) haben muss.