Der bewaffnete Widerstand der Frauen in Rojava – mehr als ein Kampf auf Leben und Tod

Foto: Birgit Gärtner

Wir wollen den feministischen Diskurs beleben und unterschiedliche Ansätze zur Diskussion stellen. Deshalb erscheinen bei uns regelmäßig Gastbeiträge, die nicht zwangsläufig die Haltung der oder aller Störenfriedas wiedergeben, aber wichtige Impulse für die feministische Debatte geben können.

(Vorbemerkung: die Situation in Rojava ändert sich quasi stündlich, so dass die Informationen z. T. vermutlich schon bei Erscheinen dieses Artikels veraltet sind).

Nach den Angriffen der fundamentalistischen Gruppierung Islamischer Staat (IS oder ISIS) auf YezidInnen und ChristInnen im Nordirak und in Syrien sind plötzlich „die Kurden“ als militärische Befreier in aller Munde. Zur allgemeinen Überraschung entpuppten sich die kämpfenden Einheiten jedoch nicht als reine Männertruppen, sondern viele junge syrische Kurdinnen nehmen die Waffe in die Hand. Zeit mal die Frage zu stellen: Für was kämpfen sie eigentlich? Die Antwort ist ganz einfach: für ein freies, selbstbestimmtes Leben. Doch (frei nach Brecht) ist es das Einfache, das so schwer zu machen – oder im diesem Falle – zu beschützen ist.

„Die Kurden“

„Die Kurden“ hätten die YezidInnen gerettet, hieß es allenthalben. Mit Waffengewalt. Weshalb „die Kurden“ nun mit Waffen beliefert werden müssten, um den heldenhaften Kampf gegen ISIS fortsetzen zu können. Das forderte nicht nur die Rüstungslobby und die Parteien von CDU bis zu den Grünen, sondern – zumindest anfangs – auch der Vorsitzende der Bundestagsfraktion der Partei DIE LINKE, Gregor Gysi.

Eine interessante Entwicklung, wo doch „die Kurden“,die kämpfenden zumal, also die PKK, sowohl in der Türkei, in der EU sowie in den USA auf der Terrorliste registriert sind. In der BRD sind zudem PKK plus alle kurdischen Organisationen, die mit ihr in Zusammenhang gebracht werden sowie deren Symbole verboten.
Flugs wurde das Missverständnis ausgeräumt: nicht die „Terror-Organisation“ habe die yezidische Bevölkerung vor dem Aushungern und weitere Massaker gerettet, sondern die Peshmerga, die Armee der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak unter Präsident Masud Barzani, hieß es stattdessen. Die waren es zwar nicht, kriegen jetzt aber trotzdem Waffen. Doch das ist ein anderes Thema. Dagegen ist auch Gysi. Aber das ist noch ein anderes Thema.

Ziemlich schnell ließ sich indes nicht mehr vertuschen, dass nicht Barzanis Söldnerheer, sondern kämpfende Einheiten der kurdischen Guerilla, in dem Falle die YPG (kurdische Volksverteidigungseinheiten) aus Syrien, die eingeschlossenen Yezidinnen und Yeziden befreit, und ihnen Asyl in Rojava gewährt haben. Und siehe da, nicht nur kurdische Männer, sondern sehr viele kurdische Frauen waren aktiv an der Befreiungsaktion beteiligt. Seit dem sind die gegen ISIS kämpfenden Frauen der YPJ (kurdischen Frauenverteidigungseinheiten) aus Rojava ein Thema in allen Medien, von ARD über Privatsender, Printmedien, bis hin zur EMMA.

Die kämpfenden kurdischen Einheiten in Rojava forderten allerdings zunächst keine Waffenlieferungen, sondern humanitäre Hilfe. Und vor allem politischen Druck auf die Türkei, einerseits die Grenze zu Syrien für ISIS-Kämpfer, die aus Europa über die Türkei nach Syrien und in den Irak geschleust werden, zu schließen. Andererseits allerdings die Grenze zur Türkei für die vielen Kriegsflüchtlinge zu öffnen, und diese entsprechend zu versorgen. Inzwischen ist die Situation in Rojava so dramatisch, dass den KurdInnen nichts anderes übrig bleibt, als auch auf militärische Unterstützung seitens der NATO und ihrer ‘Verbündeten zu hoffen. So berichtete es zumindest das ARD-Magazin Weltspiegel am vergangenen Sonntag (http://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/weltspiegel/videos/tuerkei-syrien-verzweifelte-lage-der-kurden-100.html). Und auch der ehemalige UN-Waffenexperte und Bundestagsabgeordnete der Partei DIE LINKE, Jan van Aken, bestätigte das in einem Interview mit dem Nachrichtensender n-tv (http://www.n-tv.de/politik/Peschmerga-lachen-ueber-unsere-Gewehre-article13688601.html).

Die Situation in Rojava ist hoch dramatisch und ändert sich quasi stündlich. Während ich vor dem Fernseher sitze und fassungslos den genannten Weltspiegel-Bericht schaue, in dem die quasi menschenleere Stadt Kobanê gezeigt wird, postet eine Freundin, die selbst vor Jahren bei der Frauenarmee der PKK gekämpft hat, bei facebook: „Kobanê füllt sich langsam wieder mit Leben“.

Kurdische Organisationen in der BRD, wie z.B. Azadi (Freiheit) – Rechtshilfefond für Kurdinnen und Kurden in Deutschland e.V., fordern neben humanitärer Hilfe, umgehend das PKK-Verbot aufzuheben, die PKK von der Terrorliste zu streichen und einen sofortigen Abschiebestopp in die betreffenden Gebiete zu erlassen. Laut Monika Morres von Azadi ist es „unmöglich, eine verlässliche Hausnummer betreffs der Folgen des PKK-Verbots zu nennen. Seit dem Verbot kurdischer Organisationen und Vereine im November 1993 wurden und werden tausende Menschen kurdischer Herkunft kriminalisiert. Razzien, Vereinsverbote- und durchsuchungen, Verhaftungen und polizeiliche Aufforderungen zur Denunziation gehören zum Alltag.“
Azadi betreut 125 Gefangene, die aufgrund des PKK-Verbots nach §129 a oder b, Bildung einer terroristischen Vereinigung, bzw. Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland, verurteilt wurden. Plus 21 Fälle, in denen die Türkei einen Auslieferungsantrag gestellt hat. Manchmal reicht es, einen Grillwagen von A nach B bewegt zu haben, um ins Visier der Staatsanwaltschaft zu gelangen. Weitere „Vergehen“ sind: Parolen rufen, Fahnen schwenken, Zeitungen verkaufen oder Spenden sammeln.

Durchs wilde Kurdistan

Dorthin zog es schon Karl May Ende des 19. Jahrhunderts. Das Gebiet, das historisch als Siedlungsgebiet der Kurdinnen und Kurden betrachtet wird, dort, wo Euphrat und Tigris entspringen, wurde 1923 mit dem “Vertrag von Lausanne” in vier Teile aufgeteilt, und zu ungleichen Anteilen willkürlich der Türkei, dem Irak, dem Iran und Syrien zugesprochen.
Das größte Gebiet wurde an die Türkei angegliedert, und macht ca. 25% des gesamten türkischen Staatsgebiets aus. Seit mehr als 30 Jahren führt die türkische Regierung einen militärischen Kampf gegen in den kurdischen Gebieten, um die „wilden“ Kurdinnen und Kurden unter Kontrolle zu bekommen. 1984 wurde die kurdische Guerilla, die PKK, gegründet, die militärischen Widerstand gegen die türkische Besatzung leistet. In diesem Krieg sind mittlerweile zehntausende Menschen ums Leben gekommen, Hunderttausende vertrieben und Tausende kurdische Dörfer zerstört worden.

Derzeit baut die Türkei ein militärisches Drohszenario an der Grenze zu Syrien auf. Angeblich, um Angriffe von ISIS abzuwehren. In Wahrheit aber sind die türkischen Bodentruppen eine Gefahr für Rojava. Das kleine gallische Dorf, sprich die Autonome Republik, ist (nicht nur) der Türkei ein Dorn im Auge.

Als NATO-Mitglied erhält die Türkei ökonomische, militärische und politische Unterstützung aus allen anderen NATO-Staaten. Die türkische Armee ist die zweitstärkste NATO-Armee nach der US-Army. Auch die BRD hat NATO-Partnerin Türkei kräftig unterstützt. Tatsächlich ist die Bundesrepublik in keinen militärischen Konflikt auf der Welt so stark eingebunden, wie in den Krieg der Türkei in Kurdistan. Und vermittelt darüber in den Krieg in Syrien. Nach 1990 erhielten die Türkei und Griechenland zu gleichen Teilen ausrangierte Rüstungsgüter der Nationalen Volksarmee (NVA), der Armee der ehemaligen DDR. Als Thyssen in den 1990er Jahren Absatzschwierigkeiten hatte, wurde die Bundeswehr mit neuen Panzern bestückt. Die ausrangierten Leopard-I-Panzer wurden an die Türkei verschenkt. Natürlich nicht, ohne vorher z.B. auf der Hamburger Werft Blohm & Voss generalüberholt worden zu sein. Immer wieder gingen Bilder von deutschen Panzern im Einsatz gegen die kurdische Bevölkerung um die Welt. Deutsche Schäferhunde wurden in der Nähe von Hannover auf türkische Kommandos trainiert. In der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg-Blankenese wurden türkische Folterknechte ausgebildet. Unterdessen sind Einheiten der Bundeswehr mitsamt einem Raketen-Abwehrsystem, angeblich zum Schutz der Türkei vor Angriffen aus Syrien, im türkischen Teil Kurdistans stationiert.

Mehrfach hat die PKK versucht, die diversen türkischen Regierungen zu Friedensverhandlungen zu bewegen. Bis dato leider erfolglos. Im Gegenteil, der Krieg weitet sich gerade mit rasanter Geschwindigkeit aus.

Kurdinnen und Kurden, die in der BRD für Frieden in ihrer Heimat und gegen die deutsche Beteiligung an dem Krieg protestierten, wurden und werden mittels PKK-Verbot kriminalisiert, strafrechtlich verfolgt und zu Geld- oder Haftstrafen verurteilt. Während die kurdische Guerilla den Yeziden im wahrsten Sinne des Wortes Schützenhilfe leistet, und dafür “die Kurden” Beifall aus aller Welt erhalten, wurde ein politisch aktiver Kurde in der BRD aufgrund des PKK-Verbots verhaftet.

Der irakische Teil wurde 2005 offiziell zur Autonomen Region Kurdistan erklärt. Diese Autonome Region Kurdistan führt eine eigene Regierung mit Parlament und hat neben eigenen Streitkräften, den Peschmerga, eine eigene Flagge, Verfassung und Hymne. Der so genannte demokratische Prozess mag einige Segnungen mit sich gebracht haben. Für die Männer. Ansonsten sind Zwangsverheiratungen, Ehrenmorde und auch Beschneidungen von Mädchen (Letzteres vorwiegend in christlichen Gebieten) keine Seltenheit.

Der iranische Teil umfasst die Provinzen Kermānschāh, Kordestān, Ilam und West-Aserbaidschan. Von Benachteiligung der Bevölkerung aufgrund ihrer ethnischen Herkunft ist nichts bekannt. Aber die iranische Armee führt militärische Operationen gegen Stellungen der PKK durch, bei denen es immer wieder Todesopfer zu beklagen gibt.

Im „kleinen Süden“, wie der syrische Teil Kurdistans genannt wird, lebten vor dem Krieg etwa 2,3 Mio. Kurdinnen und Kurden, sie wurden seit Anfang der 60er Jahre systematisch verfolgt und vertrieben. Auch von dem Baath-Regime unter Baschar Hafiz al-Assad (Arabische Sozialistische Baath Partei). Nach einer Volkszählung in der Provinz Al-Hasaka 1962 wurden etwa 120.000 Menschen die syrische Staatsangehörigkeit aberkannt. Es folgte 1973 der Besiedlungsplan des „Arabischen Gürtels“: landwirtschaftliche Gebiete in einer Länge von 350 km und einer Tiefe von 10 – 15 km wurden enteignet und statt der kurdischen Eigentümer wurden arabische Familien aus z. T. weit entfernten Regionen dort in 42 Siedlungen angesiedelt.
1986 wurde in der Provinz Al-Hasaka die kurdische Sprache an Arbeitsstellen verboten, 1989 kurdische Lieder, 1992 kurdische Namen für Neugeborene, 1994 wurden Geschäfte und Betriebe geschlossen, die kurdische Namen trugen, und 1998 209 Dörfer mit kurdischen Namen arabisiert. Dieses Gebiet, in dem die Kurdinnen und Kurden zwangs-angesiedelt wurden, ist jenes Rojava, das heute die Medien beherrscht.

Autonome Republik Rojava

Während das Land um sie herum in Chaos und Krieg versank, setzen sich die syrischen Kurdinnen und Kurden nicht nur militärisch gegen Angriffe islamischer Fundamentalisten zur Wehr, sondern gründeten ihre eigene Autonome Republik. In der derzeit stark umkämpften Stadt Kobanê nahm das Geschehen seinen Lauf: In der Nacht vom 18. auf den 19. Juli 2012 nahmen die Kräfte der YPG/YPJ gemeinsam mit den EinwohnerInnen der Stadt die staatlichen Einrichtungen ein und verdrängten die Kräfte des Assad-Regimes in einem unblutigen Akt aus der Stadt. Angespornt von der Befreiung Kobanês kam es in den Folgetagen zu ähnlichen Befreiungsaktionen in weiteren Regionen Rojavas, so dass binnen kurzer Zeit große Teile der kurdisch besiedelten Gebiete Syriens vom Baath-Regime befreit waren.
In der Folgezeit baute die Bevölkerung in der Region ihre eigenen Selbstverwaltungsstrukturen auf und begann das öffentliche Leben auf demokratisch Weise selbst zu regeln. Dieser Prozess wird als „Revolution vom 19. Juli“ bezeichnet.

Obwohl sowohl Kräfte des Baath-Regimes, aber immer wieder auch Einheiten der Freien Syrischen Armee (FSA) und der Al-Nusra-Front, Angriffe auf Rojava unternahmen, blieb die Region im Vergleich zum übrigen Syrien, das im Bürgerkrieg versank, relativ stabil. Aus diesem Grund suchten auch viele Menschen aus den übrigen Teilen des Landes, die aufgrund des anhaltenden Krieges ihre Heimat verlassen mussten, Zuflucht in Rojava.
Allein in Kobanê wuchs dadurch die Einwohnerzahl binnen kurzer Zeit von etwa 300.000 auf rund 500.000. Trotz eines anhaltenden wirtschaftlichen Embargos gegen die Region – so hielt beispielsweise die Türkei seit Beginn der Revolution praktisch durchgehend ihre Grenzen selbst für humanitäre Unterstützung verschlossen – versuchten die EinwohnerInnen mit ihren begrenzten Möglichkeiten ihr Überleben zu sichern.

Heute ist Kobanê einer der drei Kantone in Rojava, in denen im November 2013 die Autonomie mit einer demokratischen Verfassung unter Beteiligung aller religiösen und ethnischen Gruppen beschlossen und im Januar 2014 ausgerufen wurde. Mit dem Erstarken von ISIS in Syrien und im Irak entwickelte sich allerdings eine neue Gefahr für die gesamte Region. Rojava ist seither Zielscheibe dieser Organisation. Der aktuelle Vorstoß von ISIS in Richtung Kobanê ist bereits die dritte große Angriffswelle der Islamisten auf die Stadt in den letzten Monaten (http://www.scharf-links.de/44.0.html&tx_ttnews[tt_news]=47164&cHash=74a6b9cb12).

Waffenlieferungen sind der falsche Weg

Unbestritten: die kurdischen Guerilleras und Guerillas sind die Guten. Trotzdem ist es falsch, noch mehr Waffen in die Region zu liefern. Schon jetzt ist die Situation völlig unübersichtlich, völlig unkalkulierbar, und Barzanis Peshmerga-Einheiten sind die nächsten Geister, die von der so genannten „Westlichen Wertegemeinschaft“ gerufen werden und dann nicht mehr beherrscht werden können. Es ist völlig klar, dass heute gelieferte Waffen morgen von der gegnerischen Seite erobert werden, von Gruppen und in Regionen eingesetzt wird, von denen gestern noch niemand ahnte, dass es sie überhaupt gibt, geschweige denn, dass dort übermorgen Krieg sein wird. So dass überhaupt nicht mehr nachvollziehbar ist, wer welches Kriegsverbrechen begangen hat, wie z.B. beim Giftgasangriff in Syrien im vergangenen Jahr. Darauf wies beispielsweise Jan van Aken, in einem Interview hin, das ich für das Internetmagazin telepolis mit ihm führte:

„tp: Das Orakel von Delphi hat derzeit Hochkonjunktur: die einen – Politiker und Mainstream-Medien des Westens – scheinen sich einig darüber zu sein, dass Assad dafür verantwortlich ist, die anderen – die Linke – behauptet zu wissen, dass die Verantwortung bei den so genannten Rebellen liege. Gibt es überhaupt die Möglichkeit herauszufinden, wer dafür verantwortlich ist?
Jan van Aken: Unter den Bedingungen des Bürgerkriegs ganz klar: Nein! Das wird eine langwierige Aufklärung anhand von Zeugenaussagen und Dokumenten und der Auswertung des gefundenen Materials, also z.B. Munition und Granaten. Allerdings sind letztere eher mit Vorsicht zu genießen: Selbst wenn z.B. Granaten gefunden würden, die eindeutig aus Armee-Bestand stammen, heißt das noch lange nicht, dass die Armee sie auch eingesetzt hat. Diese Waffen können von Überläufern von der Armee zu den Rebellengruppen mitgebracht worden sein oder aus einem Überfall auf ein Armee-Depot stammen. Wie gesagt, die Wahrheitsfindung wird ein langwieriger Prozess sein, aber am Ende werden wir es wissen. Irgendwann werden wir verlässliche Informationen bekommen.

tp: Was ist von den Beweisen zu halten, die Obama jetzt angeblich hat?
Jan van Aken: Das ist nichts anderes als Kaffeesatz-Leserei. Ich habe mich sehr intensiv mit dem Papier beschäftigt, das US-Außenminister John Kerry vorgelegt hat. Die Beweislage ist hauchdünn, noch dünner, als 2003 in Bezug auf den Irak.“
(http://www.heise.de/tp/artikel/39/39816/1.html)

Bundesdeutsche Firmen exportierten im großen Still chemische Substanzen nach Syrien – zur zivilen Nutzung. Bis heute steht im Raum, dass diese auch zur Produktion von Giftgas verwendet wurden (http://www.heise.de/tp/artikel/39/39935/1.html).

Die Welt braucht nicht noch mehr Waffen, sondern politische Lösungen. Die Türkei muss das Embargo gegen Rojava aufheben, die Bodentruppen an der Grenze abziehn, die Grenze sowohl für die Flüchtlinge aus den syrischen kurdischen Gebieten als auch für die dorthin zurückkehrenden Kurdinnen und Kurden öffnen, den aus Europa über die Türkei in die Kampfgebiete eingeschleusten ISIS-Kämpfer muss der Weg versperrt, die Bundeswehr muss raus aus Kurdistan,  die BRD muss ausschließlich humanitäre Hilfe leisten: vor Ort und auch hier Flüchtlinge aufnehmen – und diese so unterbringen, dass sie ein menschenwürdiges Leben führen können, und vor Angriffen von Wutbürgern und rechten Wachleuten sicher sind.

Bei dem Einwand, ISIS sei nur militärisch zu bekämpfen, weshalb die PKK und die YPG/YPJ-Einheiten mit Waffen beliefert werden müssten, halte ich es mit Jan van Aken:

„n-tv: Und Ihre Meinung hat sich auch nicht dadurch geändert, dass Sie gesehen haben, in welcher misslichen Lage die Menschen dort stecken?
Jan van Aken: Nein. Man kommt natürlich immer wieder ins Grübeln, wenn man die Situation sieht. Ich war auch in zwei Flüchtlingslagern. Trotzdem hat sich meine Meinung nicht geändert. Denn diese Waffen werden auch in 50 Jahren noch schießen. Die Amerikaner haben die Iraker mit Waffen ausgerüstet und der Islamische Staat hat sie erbeutet. Wenn wir jetzt die Peschmerga ausrüsten, besteht wieder die Gefahr, dass diese Waffen in die falschen Hände geraten. Diesen Teufelskreis kann man nicht durchbrechen, indem man noch mehr Waffen liefert“
(http://www.n-tv.de/politik/Peschmerga-lachen-ueber-unsere-Gewehre-article13688601.html).

Revolution der Frauen

Die Frauen hatten einen starken Anteil an der „Revolution vom 19. Juli“ und dem daraus resultierenden politischen Prozess. Sie haben sich nicht auf den Sanktnimmerleinstag vertrösten lassen, sondern mit einer historisch beispiellosen Konsequenz und in einem atemberaubenden Tempo ihre Forderungen in der zivilen Gesellschaft umgesetzt. Rojava ist eine Räte-Republik, an der alle gesellschaftlich relevanten Gruppen beteiligt sind. In allen Städten gibt es zusätzlich Frauenräte, ohne die quasi nichts läuft. Angelegenheiten, die nur Frauen betreffen, werden auch nur von Frauen entschieden. In der Verwaltung soll eine 40%-Frauenquote umgesetzt werden. Die PYD (Partei der Demokratischen Einheit) hat mit größter Selbstverständlichkeit eine Doppelspitze: Asya Abdullah und ihr Kollege Salih Muslim. Davon kann die Linksfraktion im Bundestag nur träumen. Aber das ist wieder ein anderes Thema. Eine Bildungsakademie nur für Frauen wurde gegründet.

Selbstbewusst erläutert Asya Abdullah diesen politischen Kurs der Journalistin Pınar Öğünç von der türkischen Tageszeitung Radikal:
„Im Mittleren Osten spielt die Frau derzeit nirgendwo eine aktivere Rolle als in der kurdischen Freiheitsbewegung. Das ist keine Propaganda, sondern Realität. Egal ob im politischen, im sozialen oder im militärischen Bereich, überall ist die Frau im Kampf vertreten.

Doch die Völker des Mittleren Ostens befinden sich im Würgegriff der vorherrschenden männlichen Herrschaftsmentalität. Das hat natürlich auch einen politischen Background. Wenn man an Politik denkt, kommen einem nur Männer in den Sinn. Das ist auch der Grund, weshalb die politischen, sozialen, ökonomischen und diplomatischen Probleme in dieser Region so tief verwurzelt sind. Diese Probleme basieren auf einer patriarchalen Gesellschaftsordnung und der dazugehörigen Mentalität.

Eine Gesellschaftsordnung im Mittleren Osten, in der alle ihre Meinung frei zum Ausdruck bringen können, ist der größte Alptraum der Herrschenden. Genauso Angst haben sie vor dem Kampf der Frauen, weil dieser mit so einer Gesellschaftsordnung in Verbindung steht.

Schauen Sie sich die Länder an, in denen der Arabische Frühling geweht hat. Überall wurden nur die Entscheidungen der Männer durchgesetzt. Obwohl die Frauen eine wichtige Rolle bei den revolutionären Umwälzungen in den Ländern hatten, wurden sie beim Aufbau der neuen Systeme schlichtweg übergangen. In Syrien ist es zurzeit auch ähnlich. Schauen Sie sich die vermeintliche Opposition in Syrien an. Sie werden so gut wie keine Frau unter ihnen finden.
Ich frage mich, was für eine Revolution sie durchführen wollen, in der nicht alle Teile der Gesellschaft vertreten sind! Wie können sie von Freiheit und Demokratie sprechen, und dabei die Gleichberechtigung von Frauen und Männern einfach übergehen? Wie kann eine Gesellschaft frei sein, in der die Frauen nicht frei sind?“
(https://www.facebook.com/SolidaritatmitRojava).

Dieser Stolz auf die erzielten Erfolge erklärt auch, warum so viele junge syrische Kurdinnen bereit sind, mit der Waffe in der Hand zu kämpfen. Dabei fürchten die ISIS-Kämpfer die Frauenarmee noch mehr, als die kämpfenden kurdischen Männer. Schon die türkische Armee machte die Erfahrung, dass die PKK-Guerilleras sehr viel erbitterter kämpfen, als ihre männlichen Mitstreiter. Sie wissen, dass ihnen der Tod sicher ist, wenn sie in die Hände des Feindes gelangen, sie davor aber vermutlich noch Höllenqualen bei sexueller Folter durchleben müssen. Viele kurdische Guerilleras bewahren deshalb die letzte Granate oder die letzte Kugel für sich selbst auf. Die kämpfenden syrischen Frauen machen es ihnen nach, zumal der Krieg der ISIS sich mit brutaler Härte gegen die Frauen richtet.

Räterepublik nach türkisch-kurdischem Vorbild

Den Anstoß gab Abdullah Öcalan, der auf der türkischen Gefängnisinsel inhaftierte Vorsitzende der PKK, 2004 mit seinem Konzept des demokratischen Konförderalismus. Übersetzt heißt das so viel wie Demokratie von unten, die in einer Räterepublik unter Einbeziehung aller gesellschaftlichen Gruppen und Schichten in die Praxis umgesetzt werden soll. Diese Idee eignete die Demokratische Freie Frauenbewegung (DÖKH) im türkischen Teil Kurdistans sich an.

Allerdings reichte es den organisierten kurdischen Frauen nicht aus, als Minderheiten in den verschiedenen Räten zu versanden. Sie wollten eigenständige Frauenräte, analog zu dem von Öcalan vorgeschlagenen Rätesystem, die selbst bestimmt Vertreterinnen in die regionalen Gremien entsenden können. „Wir wollten nicht, dass Männer über unsere Bedürfnisse bestimmen“, erläuterte Fatma Kasan, Sprecherin des Frauenrates der kurdischen Partei des Friedens und der Demokratie (BDP) auf einer Veranstaltung 2010 in Hamburg.

In allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens sollen Frauen mit mindestens 40% vertreten sein, fordert die DÖKH. Das gilt auch für kommunale Arbeitgeber, z. B. für die Stadtverwaltung in Diyarbakir (Hauptstadt des türkischen Teil Kurdistans). Eine Forderung, die bereits aktiv umgesetzt wird. Das Problem dabei ist allerdings, dass viele Frauen in Kurdistan schlicht keine, oder zumindest keine ausreichende Schul- oder Berufsausbildung haben. Also wurden Alphabetisierungs- und Berufsbildungskurse eingerichtet, um die Frauen in die Lage zu versetzen, berufstätig werden zu können. Das ist für die DÖKH ein wichtiges Instrument, um Frauen finanzielle Unabhängigkeit zu garantieren, die ihnen ermöglicht, sich aus Gewaltverhältnissen zu lösen.

In der Stadtverwaltung Diyarbakir gibt es darüber hinaus ganz konkrete praktische Schritte zur Unterstützung von Frauen in Gewaltverhältnissen, sofern diese dort bekannt werden: die Gehälter der prügelnden Ehemänner werden an die Frauen ausbezahlt, damit die Familie weiter leben kann, in Einzelfällen übernimmt die Frau den Job ihres Mannes, und den betroffenen Männer wird ein Anti-Aggressionstraining angeboten. So wird nicht nur den Frauen geholfen, sondern auch die gesellschaftliche Debatte über häusliche Gewalt gefördert.

Auch die kurdischen Frauen in der Türkei lassen sich die Butter nicht vom Brot nehmen. Selbstverständlich gibt es in der BDP eine Doppelspitze. Schon die Vorgängerpartei, die im Dezember 2009 verbotene Partei der Demokratischen Gesellschaft (DTP), wurde von einer Frau und einem Mann gleichberechtigt geführt. Außerdem sind unter den 22 Parlamentsabgeordneten der BDT acht Frauen, das sind 40%. Das gibt es bei keiner anderen Parlamentsfraktion in der Türkei. Es gibt 14 Bürgermeisterinnen von insgesamt 99. Das sind zwar „nur“ 14%, aber auch das gibt es bei keiner anderen Partei.

„Wir wollen dieses Konzept auf die gesamte Türkei übertragen“, so Kasan. „Das klingt unrealistisch, doch noch vor ein paar Jahren hätte niemand gedacht, dass es einen solchen emanzipatorischen Impuls ausgerechnet aus dem als rückständig geltenden Kurdistan geben würde. Wir haben viel erreicht, das hat die türkischen Frauenorganisationen beeindruckt. Jetzt müssen wir es schaffen, gemeinsam die Umsetzung dieses Konzeptes für das ganze Land anzugehen.“

Birgit Gärtner

 

 

2 Kommentare

  1. Der Text hinterläßt bei mir viele Fragezeichen. Mir fehlt im Text die Analyse warum es diesen Konflikt in Syrien und dem Irak gibt. Ich kann keine Faszination für Frauen an der Waffe entwickeln. Für Männer an der Waffe natürlich auch nicht. Befreiung durch Töten. Ich weiß nicht. Ich kenne mich in der Thematik nicht genug aus aber mein Bauchgefühl sagt mir gefällt mir nicht. Ich hab mir eben ein paar Videos auf Youtube zu diesen Frauenmilizen angeschaut. Das hat mir auch nicht geholfen. Verstärkt das Bauchgefühl eher. Von der Hausfrau zur Soldatin bezeichnen die als Befreiung. Hm. Ich denke laut nach.

  2. Birgit Gaertner

    Hallo Sabrina,
    ganz ehrlich: das geht mir genau so. Menschen, die zur Waffe greifen – egal ob Frauen oder Männer – sind für mich kein Idol, sondern in bestimmten Situationen ist Selbstverteidigung notwendiges Übel. Das ich notwendigerweise akzeptieren muss.
    Die Armee, sowohl die Männer- als auch die Frauenarmee, hat sich im Zuge des Krieges in Syrien herausgebildet, und ist sehr eng mit der PKK, also der Guerilla, die in Türkei-Kurdistan entstanden ist, verbunden. Syrien war und ist Schauplatz vieler militärischer Auseinandersetzungen in den vergangenen Jahren:
    “Seit Frühjahr 2011 entwickelte sich aus Demonstrationen gegen die syrische Regierung der Bürgerkrieg in Syrien, der bislang mehr als 160.000 Todesopfer gefordert hat. Mehr als 2,6 Millionen Syrer sind aus dem Land geflohen, 9 Millionen weitere sind innerhalb Syriens auf der Flucht.Seit Frühjahr 2011 entwickelte sich aus Demonstrationen gegen die syrische Regierung der Bürgerkrieg in Syrien, der bislang mehr als 160.000 Todesopfer gefordert hat. Mehr als 2,6 Millionen Syrer sind aus dem Land geflohen, 9 Millionen weitere sind innerhalb Syriens auf der Flucht” (Quelle: Wikipedia). Fast 12 Mio. Menschen auf der Flucht von ursprünglich knapp 21 Mio. EinwohnerInnen.
    Ganz unterschiedliche militärische Akteure sind da am Werk, von denen, wie ich im Text schrieb, nicht einmal mehr mit Bestimmtheit gesagt werden kann, wer für welche Gräueltaten verantwortlich gemacht werden kann.
    Und neben all diesen Kriegswirren haben die Menschen in Rojava es geschafft, ganz friedlich ihr eigenes Ding durchzuziehn, und dabei auch noch Flüchtlingen aus den übrigen Landesteilen Syriens Unterschlupf gewährt. Das finde ich, ist eine beachtliche Leistung.
    Noch beachtlicher finde ich, dass die Frauen sich dabei einen angemessenen Platz in der Gesellschaft gesichert haben.
    Leider ist diese kleine Räterepublik massiven militärischen Angriffen ausgesetzt. Durch die offizielle syrische Armee, durch die so genannte Freie Syrische Armee (FSA) und die Al-Nusra-Front, eine fundamental-islamische Organisation. Alle kämpfen gegen alle, was sie aber eint, ist, dass alle Rojava militärisch angreifen.
    Ganz aktuell kommt noch ISIS dazu. Die vermutlich am brutalsten vorgehen, und vor allem einen regelrechten Krieg gegen Frauen führen.
    Um das alles abzuwehren, sahen die Menschen in Rojava sich gezwungen, zur Waffe zu greifen. Auch – und vor allem die Frauen. Dabei verteidigen sie ihre politischen Werte, aber auch ganz knallhart ihre Existenz: ihren Lebensraum und letztendlich auch ihr Leben. Und das ihrer Lieben.
    Sie erobern kein fremdes Territorium, sondern verteidigen das ihre. Mit der Waffe in der Hand. Das ist für uns hier vermutlich sehr schwer vorstellbar. Aber auch hier hat es Zeiten gegeben, wo Menschen genau das gemacht haben. Sehr viele emigrierte Juden haben sich z.B. in den Ländern, in denen sie Asyl gefunden haben, den jeweiligen Armeen angeschlossen, um mit der Waffe in der Hand für die Befreiung vom Hitler-Faschismus zu kämpfen.
    Und die Frauen bezeichnen auch nicht den bewaffneten Kampf als Befreiung, die würden viel lieber in Frieden leben und eine zivile Gesellschaft aufbauen, in der alle Menschen – unabhängig von Geschlecht, Alter, Ethnie, Konfession – gleichberechtigt zusammen leben können. Denn das ist es, was sie eigentlich als Befreiung bezeichnen: die patriarchalischen Strukturen zu überwinden und eine für alle lebenswerte Zukunft aufzubauen.
    Ansonsten: Danke für das Feedback, und laut denken finde ich immer Klasse. Nur so kommen wir weiter.

  3. Ein ausgezeichneter Artikel, der die Situation wirklich detailliert beschreibt.
    Beachtenswert finde ich, daß die etablierten Massenmedien praktisch überhaupt nicht über die einzelnen
    inzwischen ausgerufenen kurdischen Republiken berichten. Ebenso berichten sie nicht darüber, daß der Einmarsch der Türkei in die befreiten kurdischen Gebiete nicht in erster Linie dem IS galt, sondern vielmehr den Kurden. die Türkei will verhindern, daß sich kein freies Kurdistan etabliert, wie völkerrechtlich in den zwanziger Jahren zugesichert

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