Wäre die Wirkung nicht so fatal, hätte man lachen können, als Calvin Klein in der vergangenen Woche eine Frau mit Kleidergröße 34/36 als „Plus Size Model“ vorstellte. Model Myla Dalbesio ist dünner als mehr als die Hälfte aller „normalen“ Frauen, von „Übergröße“ kann keine Rede sein. Calvin Klein hielt es dennoch für einen „revolutionären Akt“, sie für seine aktuelle Kampagne abzulichten. Dieser Vorfall zeigt, welches zerstörerische Körperbild die Modemacher haben – und dass sich trotz aller Kritik nichts daran geändert hat.
Mehr als die Hälfte aller Frauen über 18 hat eine Kleidergröße jenseits der 42, noch nicht einmal zehn Prozent haben Kleidergröße 34 oder 36 – von der für Models wichtigen Größe Size Zero ab Größe 32 ganz zu schweigen. Dennoch sind Frauen jenseits der 34/36 in den Medien schlichtweg unsichtbar. Die große Liebe, abenteuerliche Geschichten – all das erleben nur schlanke Frauen. Magerkeit wird zur Norm erklärt, alles, was darüber liegt, gilt als zu dick, dabei ist das Schlanksein die Ausnahme und nicht umgekehrt. Auf diese Weise werden Frauen verunsichert und an ihrem Selbstbewusstsein gekratzt – Sexismus und Fatshaming gehen oft Hand in Hand – auch gegenüber Frauen, die nur ein wenig über dem Schlankheitsideal liegen. Es ist eine weit verbreitete Ansicht unter Männern, Kommentare über die Figur von Frauen machen zu können und ihr Äußeres mit dem verinnerlichten Schlankheitsideal abzugleichen, das durch das Körperbild des Pornos noch pervertiert wird. Unser Begriff von Schönheit ist untrennbar mit Schlanksein verknüpft – Vielfalt? Fehlanzeige! Frauen im Fernsehen sind alle überschlank, haben lange Haare und sind im Zweifelsfalle weiß und heterosexuell. Die geringste Abweichung davon geht schon in die Richtung „lustiger Freak“ oder „Paradiesvogel“.
Dicke Frauen tauchen grundsätzlich nur in „lustigen“ Rollen auf, in denen sie das Klischee der „lustigen Dicken“ bedienen. Kein Wunder also, dass „fat shaming“, die Diskriminierung von Menschen, die nicht diesem Schönheitsideal entsprechen, inzwischen ein wichtiges feministisches Thema geworden ist. Zwar werden auch dicke Männer diskriminiert, der Druck auf Frauen ist jedoch ungleich höher – und beginnt schon sehr früh. Unvergessen, wie Heidi Klum in einer ihrer „Germanys Next Top Model“ Shows die Models in Jeans zwang, die vom Umfang eine Kleinkind gepasst hätten, die Mädchen aber reihenweise hysterisch wurden, weil sie „zu dick“ waren und nicht hineinpassten. Es wurde nicht besser dadurch, dass Heidi Klum anschließend demonstrativ einen Döner vor der Kamera aß. Pro Jahr sterben zwischen 33 und 100 Menschen in Deutschland an Essstörungen, zu 90 Prozent Frauen. Bereits 10jährige Mädchen berichten, dass sie zu dick seien und schon einmal ein Diät gemacht haben und in allen „Frauen“-Zeitschriften, Magazinen, Fernsehsendungen finden sich die ewiggleichen Diättipps.
Wer nicht schlank ist (dick_fettsein wird inzwischen als politischer Kampfbegriff von dicken Menschen selbst verwendet), der gilt als faul, träge, dumm, nachlässig, prinzipiell aber als fürsorglich und nett. Dicken Menschen wird Kompetenz im Beruf abgesprochen, man traut ihnen weniger zu, und gleichzeitig glaubt jeder, aber auch wirklich jeder, ihnen gute Ratschläge geben zu können oder sich über ihr Gewicht äußern zu dürfen. Dicke Menschen werden auf der Straße angestarrt, beschimpft und aufgrund ihrer Körperlichkeit diskriminiert. Sie müssen sich ständig rechtfertigen. Wenn sie sagen, dass ihnen die Körpernormen der Gesellschaft egal sind, werden sie ausgelacht, sagt das eine vollkommen schlanke Hollywoodschönheit, wird sie auf ein Podest gestellt. Immer wieder heißt es: „Ich habe ja nichts gegen Dicke – aber das ist ungesund!“ – immer wieder finden sich irgendwo Artikel, in denen von „Vielfalt“ und „Diversität“ gesprochen wird, am Ende aber doch wieder Tipps für einen „gesünderen Lebensstil“ herauskommen. Die Diskriminierung dicker Menschen ist inzwischen eine der häufigsten Diskriminierungsarten überhaupt geworden – wobei als dick eben alles gilt, was über maximal Kleidergröße 36 liegt. Schauspielerinnen müssen sich schon rechtfertigen, wenn sie 38 haben.
Als Messlatte für ein „gesundes Gewicht“ gilt der BMI, der Body-Mass-Index, der jedoch überhaupt nicht geeignet ist, um Übergewicht festzustellen. So behandelt er Muskelmasse wie Fettmasse und schon ein paar breitere Schultern können ihn um mehrere Kommastellen nach oben treiben. Auch Knochendichte und der Durchmesser der Gelenke und Knochen spielen eine Rolle. Ein hoher BMI bedeutet also keineswegs, dass jemand Übergewicht hat.
Auch der Zusammenhang zwischen „schlechten“ Essgewohnheiten und Übergewicht ist keineswegs immer richtig – eine ganze Reihe von dicken_fetten Menschen ernährt sich überhaupt nicht „falsch“, sondern bei ihnen spielen Veranlagung, Stoffwechsel und Alter eine entscheidende Rolle. Es ist auch nicht richtig, dass Übergewicht ungesund ist, es zeigt sich sogar, dass ein leichtes Übergewicht vor Herzanfällen schützt. Es gibt keinen beweisbaren Zusammenhang zwischen Gewichtsverlust und Lebenserwartung – wirklich schädlich ist vor allem Junk-Food in Verbindung mit viel Alkohol und Rauchen. Es hat auch nichts mit „Willensstärke“ zu tun, ob es jemandem gelingt, abzunehmen, denn Untersuchungen zeige, dass die wenigsten Diäten dauerhaft Wirkung zeigen. Neurowissenschaftlich mehren sich die Anzeichen, dass wir unser Gewicht auf lange Sicht ebenso wenig beeinflussen können wie unsere Körpergröße. Will heißen: Unser Körper hat ein für ihn richtiges Idealgewicht, auf das er immer wieder zustrebt, wenn wir ihn nicht durch Diäten und Schlankheitswahn durcheinander bringen. Genau davon profitiert die Diätindustrie – die im Jahr mehrere Milliarden umsetzt. Wäre Abnehmen also wirklich so einfach, dass man nur ein paar Shakes anrühren und sich ein wenig mehr bewegen muss, würde diese Industrie nicht so florieren.
Der menschliche Körper ist sehr komplex und auf unser Gewicht nehmen sehr viel mehr Faktoren als nur die tägliche Kalorienzahl oder das Sportprogramm Einfluss. Die überschlanke Körpernorm kann deshalb nur von den wenigsten Menschen erfüllt werden – egal wie viele Willensanstrengungen unternommen werden.
Es ist wichtig, den Diskurs um das Gewicht zu verändern. Dicksein, ob nun tatsächlich oder nur im Vergleich zum Magerideal, ist die Normalität. Frauen jenseits der 34/36 müssen sichtbar werden, als Vorbilder im Beruf, als Geliebte, als Abenteurerin. Auch mit Kleidergröße 44/46 und darüber hat man ein ganz normales Sex- und Liebesleben, man hat ganz normale Alltagssorgen, die sich nicht ständig um das Gewicht drehen und auch eine XXL-Kleidergröße des Gegenübers ist kein Freibrief dafür, Respekt und Achtung fallenzulassen und über dessen Körperlichkeit zu urteilen. Gerade Frauen müssen aufhören, sich den Schlankheitswahn zu eigen zu machen und ihr Schönheitsideal von männlichen Porno/Model-Idealen bestimmen zu lassen. Fatshaming funktioniert nur, wenn man sich auch beschämen lässt. Wenn wir die echte Normalität von schlank bis dick sichtbar machen und aufhören, uns dafür zu schämen, nehmen wir auch der Diskriminierung ihren Nährboden. Dabei geht es nicht nur um unser Körperbild, sondern auch um unsere Lebensqualität. Wer will schon ein Leben auf Dauerdiät leben? Der Frust, die Scham und das zerstörte Selbstbewusstsein machen weit mehr mit uns und unserer Gesundheit als ein paar Kilo Speck je anrichten können.
Vielen Dank für diesen Artikel! Objektifizierung von Frauen* und das damit verbundene Fatshaming sind machtvolle Instrumente des Patriarchat, die ungeheuer schädigend sind. Dementsprechend unterstütze ich den Artikel uneingeschränkt – solange die Körper von Frauen* dermaßen gemaßregelt und kontrolliert werden, ist deren Selbstwahrnehmung als Subjekt unmöglich. Die zwanghafte Fokussierung auf den BMI oder das „concern trolling“ sind die Symptome des grundlegenden Problems: Kontrolle über den Körper von Frauen* zu erlangen – und diese im Endeffekt zu demütigen.
Aber nun noch eine Anmerkung zum Artikel selbst, die überhaupt nichts an der Richtigkeit und Relevanz des Inhaltes ändert – vielleicht lediglich weitere Perspektiven auf den konkreten Aufhänger ermöglicht: Nach meinen Informationen hat sich Calvin Klein selbst gar nicht zu Myla Dalbesio geäußert. Ich habe gelesen, es war es das Model selbst, das den Diskurs um die eigene Positionierung angeregt hat, woraufhin die Debatte auf Twitter angestoßen wurde. Aber vielleicht habe ich den Aufhänger im ersten Abschnitt eures Artikels ja auch nur falsch interpretiert. Ich hoffe, die Verlinkung ist okay – hier jedenfalls eine Quelle zu meiner Anmerkung: http://www.xojane.com/issues/why-the-twitter-outrage-over-calvin-kleins-new-model-is-misguided-and-pointless
Die Reduzierung von Frauen auf Äußerlichkeiten und damit ihren Körper ist sicher eine Diskriminierung.
Unser Umgang mit Essen ist allerdings ein Verbrechen, das auch auf uns selbst zurückfällt.
Schlank sein ist bei uns in den reichen Ländern die Ausnahme, weil 50% der Bevölkerung übergewichtig ist, da wir uns immer und überall zum Essen, vor allen Dingen sehr schlechtem Essen, animieren. Der BMI lässt eine große Spannbreite für ein passendes Gewicht.
Wir fressen nicht nur uns selbst tot und stehlen uns damit die Lebensqualität, sondern auch andere.