Marilyn Frye: Wer will ein Stück vom Kuchen?

Quelle: https://alchetron.com

Wir wollen den feministischen Diskurs beleben und unterschiedliche Ansätze zur Diskussion stellen. Deshalb erscheinen bei uns regelmäßig Gastbeiträge, die nicht zwangsläufig die Haltung der oder aller Störenfriedas wiedergeben, aber wichtige Impulse für die feministische Debatte geben können.

Übersetzung von Passagen aus dem Text „Who Wants a Piece of the Pie“ aus „Willful Virgin: Essays in Feminism (1992, The Crossing Press). Den vollständigen Text findet ihr hier.

1976

Für Feministinnen besteht das allgegenwärtige moralische Problem in Bezug darauf wie man leben sollte darin, das eigene Leben mit den feministischen Werten in Einklang zu bringen. […] Kurz gefasst: Wir müssen uns um unsere Existenzsicherung und etwas darüber hinaus kümmern, wir wollen diese auf eine gesunde Art und Weise verdienen, und all das müssen wir in einer uns feindlich gesinnten, sexistischen Gesellschaft schaffen. Wenn wir uns die Leben von Menschen allgemein mal anschauen, dann scheint es fast schon ein Luxus zu sein, mehr als die Existenzsicherung zu verlangen, und es könnte naheliegend sein zu sagen, dass in einer feministischen Ethik Luxus fast schon elitär erscheint. Da ist etwas dran, aber das ist nicht alles. Zum einen kann es schon sein, dass Revolution so etwas wie Luxus ist – denn man findet ihr Momentum nicht unter den richtig Bettelarmen. Auf der anderen Seite: Wenn es als Luxus angesehen wird, Ressourcen über dem Existenzminimum zu haben, dann wurden wohl viele von uns in den Luxus hineingeboren, genauso sicher wie wir in unsere Unterdrückung als Frauen hineingeboren wurden […].

Für manche von uns ergibt sich dieses Dilemma konkret in Bezug auf Arbeit und Privilegien. Einige Feministinnen haben Zugang zu Positionen im Establishment oder einer Profession, oder streben dies an. […] Es gibt Feministinnen, die demgegenüber misstrauisch sind und die geneigt sind, solche Möglichkeiten oder Hoffnungen aufzugeben, als Teil ihrer Ablehnung von Klassenprivilegien.

Sicherlich ist die Abschaffung von Klassenprivilegien ein feministisches Ziel, genauso wie die Abschaffung von Rassenprivilegien. Wenn wir es ignorieren, dann werden wir uns sehr schnell in einer Situation einer Strategie der Geschlechterintegration in die mittlere Bürokratie wiederfinden, welche die Dominanz der Mittelschicht stärkt und die Kraft des radikalen Feminismus zerstreut. […] Klassenprivileg ist anstößig; Aber Privilegien sind auch selbst-regenerativ, und wenn man sie einmal hat, kann man sie nicht ablegen wie eine zu warm gewordene Jacke. […] Einen Job im Establishment anzunehmen bedeutet nicht nur sein Privileg zu nutzen, sondern auch es auszubauen. Und das ist noch nicht einmal das Schlimmste. Denn, eine solche Position abzulehnen, bedeutet ebenfalls sein Privileg zu nutzen. Tatsächlich erscheint es als das größere Privileg einen administrativen Job abzulehnen, bei dem man 15.000 Dollar im Jahr verdient, als erst einmal in eine solche Position zu kommen. Wenn sich eine solche Frage einer Frau stellt, dann hat sie Privilegien; und davon kann sie nicht zurücktreten, egal welche Entscheidung sie dann trifft. […] Für die meisten Menschen ist Armut intolerabel destruktiv. Für die meisten Menschen wäre eine solche Wahl eine Form des Selbstmords. […]

Ich sage nicht, dass Privilegien absolut unauflösbar sind – aber man kann nicht plötzlich, durch den eigenen bloßen Willen davon zurücktreten (das ist vermutlich auch der Grund warum, neben anderen Dingen, „persönliche“ Lösungen nicht adäquat sind). […] Sich den unteren Schichten anzuschließen und Mitglieder für diese zu rekrutieren, stärkt das System tendenziell mehr, als dass es zu seinem Untergang beiträgt, denn es liefert mehr Opfer für die Ausbeutung und Unterdrückung, die sich auf den unteren Ebenen der Hierarchie abspielt. […]

Verarmung und Entbehrungen reduzieren Macht, Vision und Lebensdauer. Die Vorstellung, dass Gerechtigkeit und Würde Leiden voraussetzen, gehört zu einer Ethik der Selbstverleugnung und ist eine Sklavenmentalität. Alle Ressourcen sind verdorben (Männer wurden noch nicht enteignet). Wir erkennen das an und wir wollen das ändern. In der Zwischenzeit ist es jedoch nicht politisch falsch,  die Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen, zu nutzen.  […]

Das nächste Problem ergibt sich aus Quoten. [..] Jede Frau ist im Prinzip eine Quotenfrau, denn [keiner dieser Jobs in der Mittelschichtsbürokratie] ist als „Frauenarbeit“ klassifiziert. Ihre Existenz dort als Quotenfrau ist gut für die Institution, und schlecht für Frauen im Allgemeinen. Die Existenz der Quotenfrau wird benutzt um sowohl die Arbeitgeber, als auch den Rest der Welt davon zu überzeugen, dass die Institution nicht sexistisch ist, und keine Maßnahmen [….] ergreifen muss, während sie weiter die Interessen von Männern verfolgt. Dieser Nutzen für Institutionen geht zu Lasten der Quotenfrau (niemand bekommt etwas umsonst). Sie ist generell recht isoliert, sie wird nicht die Beziehungen zu ihren Kollegen haben, die Männer haben, und die ganze Arbeitssituation ist nicht […] die gleiche für sie, wie für ihre männlichen Kollegen. […] Hinzu kommt, dass sie sich entscheiden muss, wie viel von ihrem Feminismus sie preisgibt, wie männlich sie sich verhalten muss um ernst genommen zu werden, wie sehr, wann, wo und mit wem sie sich über sexistische Sprache, sexistische Witze, sexistischer Gallanterie, sexistischen Annahmen […] oder sexistischen Kleiderordnungen streitet. […]

Manchmal erhasche ich einen Blick auf mich in meinem Klassenraum, an der Universität, bekleidet, ernährt und versichert von der Universität, vor einem Publikum, welches die Universität herangebracht hat; und sehr ernsthaft bringe ich ihnen eine radikalfeministische Sichtweise und Erklärung über die Welt rüber […]. Wenn die Frauen mit meiner Sichtweise übereinstimmen, dann müssen sie mich eigentlich für eine absurde Figur halten. Weil das bin ich. Ich kann versuchen mich als Undercover-Agentin zu sehen, die Unruhe anheizt und radikale Empfindungen und Wut schürt, die als Verräterin  aus dem Inneren arbeitet, als Agentin einer neuen Weltordnung … Diese sehr zufriedenstellende Fantasie wird jedoch auf absurde Weise von der Tatsache widerlegt, dass ich das alles sehr offen tue, und von der Institution dafür bezahlt werde, mit dem Segen des Patriarchats, im Kontext eines Notensystems, während die Studierenden lernen, dass die Universität ein guter Ort ist, ein Ort an dem Freiheit herrscht. Die Universität ist Angelegenheit der Autorität. Durch das Gewähren lassen von ausgewählten Quoten-RepräsentantInnen von nicht durchschnittlichen Ansichten steigert sie ihre Autorität […]

Quotentum ist schmerzhaft, und jegliche Lösung der Probleme von Integrität und Kompromiss – zu den Jungs gehören oder eine Quotenfeministin zu werden – tränkt die Frau mit Absurdität. Die Quotenfeministin […] muss eine Grenze setzen für das Limit von Sexismus welches nicht überschritten werden darf. Wenn es ihr nicht möglich ist den Job zu verlieren, oder sie dies nicht will, dann gibt es kein Limit; wenn sie es riskieren kann, dann wird das eventuell passieren.

Die Lösung hier ist, natürlich, dass eine Feministin nicht zu abhängig von ihrem Establishment-Job sein sollte […] sie muss sich Optionen offen halten. […]

Die verschiedenen Formen der Abhängigkeit von Institutionen […] ähneln mitunter der Formen der Abhängigkeit einer stereotypen Ehefrau von ihrem stereotypen Ehemann. Sie ist aufgrund ökonomischer Notwendigkeiten an ihn gebunden und aufgrund von Loyalitätsgefühlen ihm gegenüber, weil er sie unterstützt […]

Die Integrität einer Feminstin, die in einer solchen Institution arbeitet, hängt ab von ihrer Entfremdung von ihr und der Konstantheit ihrer gegensätzlichen Beziehung zu ihr. Diese Orientierung wird aufrechterhalten, durch […] die Liebe zu Frauen. […]

Die Offenheit des eigenen Frauen liebenden Feminismus ist auch notwendig um festzustellen, welche wichtigen Vorteile die eigene Beschäftigung im Establishment haben kann. Und das ist der Vorteil eines Raumes, wo sie Frauen und Feministinnen sein können, ohne fatale Opposition und Missbilligung. Eigener Status, Autorität, Anerkennung und Macht, wie bescheiden auch immer diese sein mögen, werden vermittelt durch jene mit denen man identifiziert wird. Respektabilität wandert, wie Schuld durch Assoziation, ohne spezifische Mühe und ohne spezifische Kontrolle; und Respektabilität bietet Raum. Jedes Mal wenn eine Frau sich bewegt oder handelt, macht sie Raum für eine andere Frau um sich zu bewegen, zu handeln, oder zu sein – sofern ihr Frausein offenkundig präsent ist als hervorstechender Faktor in der Situation, und sie nicht als Mann oder Neutrum maskiert ist. […]

Die Establishment-Jobs von manchen von uns bringen materielle und politische Vorteile mit sich. Aber die Integration von Frauen in die Bürokratie des Establishments ist nicht die endgültige Lösung für Frauen. Ich glaube nicht, dass wir die existierende Regierung, Gesundheits-, Militär-, Wirtschafts- und Bildungs-Establishments genug von innen verändern können um uns darum zu kümmern. Die internen Strukturen dieser Institutionen sind so ausgelegt, dass sie eine privilegierte Elite erhalten […].

Mein Fazit lautet, vorerst, dass eine Feministin mit gutem Gewissen eine Establishment-Position inne habe kann, wenn sie gleichzeitig Fertigkeiten, Haltungen, eine Identität und eine alternative Gemeinschaft kultiviert, mit und in der sie ohne diese Position funktionieren kann, und welche ihre Aufrichtigkeit gewährleistet, während sie da ist. […] Eines Tages wird es richtig sein für mich meinen Posten an der Grenze zu verlassen, und einen neuen Raum einzunehmen.

1992 Postscript

Es wird deutlich, dass ich mit Klasse und Klassenprivileg zurecht kommen wollte, als ich diese Rede, die dann ein Essay wurde, schrieb. […] Dieses Essay dokumentiert die Tatsache, dass der US-Feminismus der zweiten Welle in seiner ersten Dekade kein „Mittelklasse-Phänomen“ war […] Feminismus und lesbischer Feminismus dieser Zeit waren tatsächlich Vehikel wachsenden Klassenbewusstseins […] für „weiße“ Frauen aus der Mittelschicht. Und gleichzeitig […] zeigt mir das Essay heute 1992 wie komisch unbewusst mir Klasse damals war.

Eine Sache die mir hier als fehlend erscheint, ist die Balance des Bewusstseins meiner selbst als sowohl klassenprivilegiert als auch nicht der herrschenden Klasse angehörend. […]

Auch heute noch 1992, sind viele meiner Freundinnen und Vertrauten, deren Texte ich für diese Anthologie sammele, arbeitslos oder leben mit der täglichen Bedrohung durch Arbeitslosigkeit […] viele haben keine Krankenversicherung oder könnten bald keine mehr haben.  Im letzten Jahr ist mir aufgegangen, zum allerersten Mal, dass es unverantwortlich sein könnte, dass ich meinen sicheren und gut bezahlten Job aufgebe, den ich auf so chronische Weise zu verlassen in Betracht gezogen habe, da uns vielleicht eine Periode wirtschaftlicher Krisen bevorsteht, in der mein Einkommen eine Gemeinschaftsressource von unermesslichem Wert sein könnte. […] Überlebensthemen sind in meiner Lebensgemeinschaft heute wesentlich näher (und sie waren es eigentlich schon immer), als ich mir es hätte vorstellen können, als ich „Who Wants a Piece of the Pie“ geschrieben habe.

Die Autorin von „Who Wants a Piece of the Pie” war so privilegiert von sich selbst zu denken, ihr sei eine Sicherheit, Autonomie und Kontrolle zu eigen, die in Wahrheit gar nicht für sie und ihr (Mittelschichts) Selbst existierte und existiert, oder für irgendwen anderes. Es könnte ein „Privileg“ sein, in einem solch falschen Bewusstsein zu leben, und ich weine dem Verlust nach, als wäre dies etwas Wertvolles; aber es ist falsch.

Aber die Autorin von „“Who Wants a Piece of The Pie“ lag, nach meiner 1992 Meinung, absolut richtig in [Bezug auf die persönlichen und politischen Investitionen einer Feministin … in einer Institution].

4 Kommentare

  1. Resignation macht sich breit. Wie und wo könnte die Lösung liegen?
    Wie und wo könnte man (Frau) sich aus dieser allumfassenden Abhängigkeit des patriarchalen Lebens befreien? Mittlerweile sind ja auch viele Männer betroffen und merken hautnah, wie es sich “als Sklave” der patriarchalen Institutionen so lebt, wo allein Geld als “Gott” gilt; und das Überleben für Viele zusehend erschwert wird.

  2. Kapitalismus ist nicht ptriarchalisch, sondern in gewisser Weise egalitär: es ist dem System komplett egal, welches Geschlecht, welche Hautfarbe oder Herkunft all die Menschen haben, die an der Profitmaximierung mitwirken.

    Daraus aussteigen geht nicht, da es uns alle nährt und jeder Protest binnen Kurzem in eine neue Produktlinie “übersetzt” wird.

    Alternativen sind bis jetzt nicht ausgedacht, allenfalls ganz kleine Gemeinschaften können unter sich nicht-kapitalistisch agieren, sind aber dennoch immer auch von außen abhängig.

  3. wenn möglich bitte diese korrigierte Version, danke!!

    @Leonie
    Ich weiß nicht. Der Kapitalismus, den wir kennen, ist m.E. nach durchaus patriarchal da er ja in einem patriarchalen System entstanden ist. Möglicherweise wäre er nicht viel anders, hätten wir ein egalitäres System, aber wer weiß das? Sind wir alle nicht zu sehr geprägt und möchten wir wirklich unsere Privilegien aufgeben? Können wir das überhaupt ruhigen Gewissens solange wir in diesem System leben, wenn wir nicht komplett aussteigen wollen?
    Und bezüglich Privilegien. Ein großes Thema aktuell im intersektionellem Feminismus. Hier haben Frauen mit mehr Privilegien als andere schon mal schlechte Karten. Doch können wir daraus tatsächlich pauschal folgern, dass die Frauen mit den wenigsten Privilegien den Feminismus am ehesten repräsentieren und diesen anführen sollen, so wie es in dieser Szene oft vertreten wird?
    Privilegien können also sehr trennend sein und vermutlich gibt es sie, damit wir nicht geeint sind, denn dann müsste sich das System in acht nehmen, doch so halten wir uns nur gegenseitig unsere Privilegien vor und sind nach außen hin keine Bedrohung. Teile und herrsche. Im Kapitalismus. Im Patriarchat.

  4. Gabypsilon

    @Leonie. :”Kapitalismus ist nicht patriarchalisch….”

    Kann es sein, dass Du Dich inhaltlich verschrieben hast?

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