Vor einigen Jahren begann relativ unvorhergesehen meine „feministische Sozialisation“. Ich las „Mädchenmannschaft“, zahlreiche Blogs von feministischen Einzelpersonen, abonnierte die Zeitschriften „Missy Magazin“, „an.schläge“ und „Wir Frauen“, kaufte den Unrast- und den Orlanda-Verlag leer und eignete mir sukzessive Wissen an.
In meiner Familie spielten Frauenthemen und Feminismus keine oder eine untergeordnete Rolle. Ganz im Gegenteil wurde ich sehr geschlechtsspezifisch sozialisiert, meine Familie hielt trotz aller Bemühungen an alten und tradierten Rollenbildern fest und war insgesamt sehr konservativ. Wir Mädchen mussten putzen, die Jungs mussten das nicht. Uns Mädchen wurde bestenfalls ein Job in der Care-Arbeit1 zugetraut, die Jungs wurden schon früh auf Wissenschaftswettbewerben für Jugendliche und auf dem Gymnasium gesehen. Mein Großvater war strikter Gegner der gesetzlichen Änderung, dass Vergewaltigung in der Ehe strafbar wurde und propagierte dies entsprechend, meine Mutter übernahm diese Haltung und negierte, dass Vergewaltigungen in der Ehe überhaupt stattfinden. Zugang zu einer akademischen Laufbahn für mich: diese Möglichkeit fand niemals Erwähnung.
Es ist wichtig für mich, diesen Hintergrund zu erwähnen, weil er deutlich macht, dass das feministische Netz und diese „jungen“ Medien mein Nährboden waren und ich als sozusagen Spät-Feministin keineswegs selbstverständlich (durch Familie/soziales Umfeld und/oder anderweitiges Empowerment) in diesen Themenkomplex reinwuchs und ganz im Gegenteil viel Auseinandersetzung und Aneignung von Wissen über feministische Bewegungen und Kämpfe nachholen musste.
Zur „EMMA“ hatte ich kein Verhältnis (erst vor einigen Wochen habe ich mir mein erstes Exemplar als eMagazin gekauft). Das liegt einerseits daran, dass die „EMMA“ und Alice Schwarzer in der feministischen Netz-Community weitgehend als „Geht-Garnicht-Feminismus“ gehandelt werden (und ich das unkritisch übernommen habe), andererseits aber auch daran, dass ich mit einem Teil ihrer Herangehensweisen an bestimmte Themenschwerpunkte nicht d’accord gehe. Es spielt in diesem Artikel keine Rolle, worum es dabei geht.
Der EMMA-Appell
Im Herbst 2013 in Deutschland veröffentlichte die feministische Zeitschrift „EMMA“ ihren Appell gegen Prostitution. Die Thematik zog zunächst weitgehend an mir vorbei, obwohl mich von da an ein permanenentes und untergründig florierendes Unwohlsein begleitete (retrospektiv betrachtet war dies der Vermutung geschuldet, in dieser Debatte irgendetwas Essentielles übersehen zu haben).
Meinungsbild pro Prostitution
Ich stieg deutlich pro positioniert in die Debatte ein. Ich hatte in den Jahren zuvor keine prostitutions-kritische Meinungen gelesen, wenn auch immer mal (!) den in eine Pro-Positionierung eingebetteten Einwand und das Eingeständnis, dass die Existenz von Prostitution nicht außerhalb von existierenden Machtverhältnissen wie Kapitalismus und Patriarchat betrachtet werden kann. An diese Tatsache anknüpfende, komplexe und differenzierte (d. h. auch gegenteilige) Betrachtungen und Gegenüberstellungen in diesem Kontext las ich wenige bis gar keine, weil sie in den von mir konsumierten (feministischen) Medien so gut wie nicht vorkamen.
Vor dem Appell (und auch danach) las ich ausnahmslos Blogs und Artikel von Sexarbeiterinnen2, die diesen Beruf freiwillig3 gewählt hatten und sich gegen eine Bevormundung per Gesetz (oder auch anderer feministischer Positionen wie A. Schwarzer) wehr(t)en und ihr Recht auf diesen Beruf damit begründeten, dass es ihre Entscheidung sei, was sie mit ihrem Körper machten. Aus diesem Grund und auch im Hinblick darauf, den Beruf der Sexarbeiterin selbst nicht auszuüben, sah ich für mich keine Erlaubnis, mich „über den Kopf“ der Sexarbeiterin „hinweg“ und/oder konträr zu positionieren.
Auch die sachliche Betrachtung des „Berufes Sexarbeit“ als „Beruf wie jeder andere“ auch, trug maßgeblich zu meiner Meinungsbildung bei sowie die Tatsache, dass auch andere Berufe und der Kapitalismus per se es abverlangen, Dienstleistungen gegen Geld anzubieten.
Meinungsbild pro Abolition
Ich begann später, mich mit Positionen zu beschäftigen, die sich für eine Abschaffung von Prostitution stark machen. Zugegebenermaßen war mein Wissen bzgl. Abolition und dem Nordischen (resp. Schwedischen) Modell4 gleich Null. Wenn ich anfänglich über eine Diskussion zum Thema stolperte, steuerte ich gedanklich meinen aus Unwissen und dem oben beschriebenen Gefühl des Unwohlseins gespeisten Sermon zur Thematik bei. Und ich merkte, wie sich in mir sehr starke Abwehrreflexe entwickelten.
Trotz meiner Abwehrhaltung beschäftigte ich mich mit Seiten wie z. B. Frauen sind keine Ware und Banishea, denn es war mir wichtig, beide Haltungen zu „verstehen“. Und ich bemerkte sehr schnell, dass ich meine Augen verschlossen hatte und auf eine im feministischen Netz verbreitete Prostitutions-Romantik und -Augenwischerei hereingefallen war.
Ich las zahlreiche Biografien5, Blogs6 und weitere Literatur7 von (ehemaligen) prostituierten Frauen und Abolitionist_Innen sowie einige Studien8, außerdem begann ich, in Freierforen9 zu lesen. Dieser Input und die sukzessive Vernetzung mit meinen heutigen Mitstreiter_Innen bildeten ein Fundament für meine heutige Haltung, die mir in ihrer Entstehung glasklar signalisierte, dass das Kartenhaus, das aus Thesen von Prostitutions-Befürworter_Innen zusammen gebaut war, einfach in sich zusammen fiel.
Prostitution, die Debatte und ihre Bedeutung für mich
Die biografischen Erzählungen von Prostitutionsüberlebenden und solchen, die dieses System nicht überlebt hatten10, machten mich im wahrsten Sinne des Wortes krank. Es war als öffne sich ein Vorhang vor Szenarien, die ich sprichwörtlich nicht fassen konnte. Und irgendwann wurde mir auch klar, dass das System Prostitution mich nicht nur als Frau, die in einer Rape Culture lebt und leben muss, betrifft, sondern, dass ich die ganze Zeit über mit all meinen Kräften damit beschäftigt war, meine eigenen Gewalterfahrungen – die dem Patriachart, Adultismus und anderen Unterdrückungssystemen geschuldet sind – unter dem Deckel zu halten.
Weil ich plötzlich wieder ganz klar vor Augen hatte, wie es funktioniert, sich Realitäten so zu verschieben, dass sie sich irgendwie gut anfühlen oder eben nicht ganz so schlimm, wie es eigentlich ist. Weil ich mich daran erinnerte, wie es funktioniert, mit dem Aggressor zu sympathisieren, weil es ein schädigendes System einfach erträglicher macht. Ich wusste und weiß ganz genau, wie Identifikation so funktionieren kann, dass das gewaltvolle System nur ein geringes Übel ist, aber eben nicht Gewalt.
Ich schreibe das, um zu verdeutlichen wie der Verdrängungsapparat funktionieren kann und weil ich überzeugt davon bin, dass dieser und internalisierte patriarchale Mechanismen auch Einfluss nehmen auf die Art und Weise wie wir Systeme wie Prostitution betrachten und einordnen.
Der Schein trügt(e)
Das Bild der selbstbestimmten Prostituierten als Mehrheit in diesem System, die romantische Vorstellung von im Zuge der Legalisierung geschaffenen „wunderbaren Bordellen„, gesetzliche Kranken-/Sozialversicherung11 inklusive, die Deklaration von Prostitution als das älteste Gewerbe der Welt wichen einem Blick auf die Realität, der mir sagte: Ein nur ganz minimaler Prozentsatz von Frauen wird freiwillig prostituiert, und der Rest – die deutliche Mehrheit – geht wortwörtlich an diesem Geschäft kaputt und/oder verlässt es mit massiven physischen und psychischen Beeinträchtigungen.12
Symptom 1: Fehlende Differenzen und inter-generative Debatten unter Feminist_Innen
Was es bedeutet, sich insbesondere im feministischen Netz als Abolitionistin zu outen, habe ich erfahren. Es ist nicht schön und markiert einen der Tiefpunkte, den ich im Zuge meiner feministischen Sozialisation erfahren habe. Das Bittere an der Sache ist, dass ich als Abolitionistin nunmehr mit Attacken in gleicher Manier konfrontiert werde wie ich es von Maskulist_Innen kenne. Das Ernüchternste in dieser Debatte ist, dass ich gezwungen bin, gegen meine vermeintlichen Mitstreiter_Innen zu „kämpfen“; das zermürbt, das tut sehr weh und das ist für mich kraftaufwändiger als jeder Hate-Tweet oder Hate-Kommentar, der mir begegnet (ist); ich bin leider nicht die Einzige, die diese bittere Erfahrung gemacht hat.
An diesem Punkt und leider viel zu spät wurde mir klar, dass es wichtig und sinnvoll ist, differenzierte und vor allem inter-generative Debatten zu führen und dass Differenzen unter Frauen und Feminist_Innen ganz essentiell sind, um kollektiv Frauenrechte voran zu treiben. Und dass überparteiliche Bündnisse funktionieren, konträre Meinungen ko-existieren können, sollen und dürfen, weil sich unterschiedliche Perpektiven ergänzen müssen, um blinde Punkte zu thematisieren und problematisieren.
In der Akzeptanz, dass es unterschiedliche Standpunkte gibt (auch wenn man diesen nicht zustimmt) drückt sich ein grundlegender Respekt für den anderen Menschen aus. Eine solche Grundakzeptanz ist anti-dogmatisch geprägt, widersetzt sich einem Gruppendruck (wie ich ihn im Netz beobachte) und ist antitotalitär, weil sie anerkennt, daß jeder Mensch von einer mehr oder weniger beschränkten Perspektive aus versucht, die Welt zu erfassen.13
Das hingegen hatte mich die – nennen wir sie mal – 3. Welle nicht gelehrt. Ich stellte fest, dass im feministischen Netz ganz klare Regeln und Vorgaben existieren, welche Feminismen als gut und korrekt angesehen werden und welche nicht 14.
Eine nicht konkret definierte Majorität legt fest, wie dein Feminismus auszusehen hat . Folgst du dem nicht oder brichst mit einer dieser ungeschriebenen Gesetze, dann bist du draußen. Im Netz heißt das konkret: Cyber-Mobbing, Beschimpfungen und öffentliche Diffamierungen. Zwar lese und las ich immer wieder, dass gerade die Themen Prostitution und Pornographie Zündstoff für hitzige Debatten unter Feministinnen sind und dass „unterschiedliche Feminismen existieren“, wirklich differenzierte Betrachtungen, die dieser wichtigen Tatsache (!) geschuldet sind, finden und fanden in den bekannten und bekanntesten feministischen Medien jedoch nicht statt. Die „unterschiedlichen Feminismen“ bleiben für mich als hohle Phrase zurück, die als eine notwendige feministische Aufklärungsinformation getarnt ist.
Symptom 2: Das Ausblenden der Gewaltseite der Prostitution
Was mir schlussendlich am unverständlichsten erscheint und mich darüber hinaus über die Maßen wütend macht, ist die Verweigerungshaltung der pro positionierten Feminist_Innen, sich konträre Standpunkte und vor allem Erfahrenenwissen anzuhören. Die_der sonst so akademisierte und bildungsmäßig privilegierte Feminist_In und Aktivist_In ruht sich gemütlich auf ihrem_seinem Privileg aus, statt es zu nutzen: Sich zu belesen und zu bilden, sich die ein oder andere Zahl anzuschauen, obgleich es wichtig ist, Prostitutions-Überlebende nicht zu Zahlen zu degradieren. Und sie_er hat vermutlich weiß Gott deutlich leichteren Zugang zu insbesondere „akademischen“ Quellen als ich15.
Stattdessen bin ich immer wieder mit Falschannahmen und Strohmann-Argumenten konfrontiert, die in aller Regelmäßigkeit darauf schließen lassen, dass eine vielschichtige Auseinandersetzung nicht stattgefunden hat oder – was noch schlimmer ist – die Fakten schlichtweg ignoriert werden, eiskalt abprallen oder für „irrelevant“ erklärt werden und ich mich schlussendlich frage, wer hier eigentlich unsolidarisch ist (weil ja sonst so vehement auf die Solidarität mit den „sexarbeitenden Schwestern“ gepocht wird).
Ich habe bislang keine feministische Debatte erlebt, die menschliche Eigenschaften und Werte wie Empathie, Vernunft oder die Auseinandersetzung mit Begrifflichkeiten wie beispielsweise der Menschenwürde derart missen ließ. Dieses Thema kann aber nicht außerhalb dieser Achsen und Blickwinkel betrachtet werden; stattdessen werden Forderungen laut, Begriffe wie die der Menschenwürde als individuell verhandelbar zu deklarieren: willkommen in Land neo-liberaler Unterdrückungsinstrumente!
Es entsetzt und enttäuscht mich, dass kein einziges feministisches Medium (außer der EMMA) in ihrer Berichterstattung die Gewaltseite der Prostitution erwähnt. Kein einziges feministisches Medium hat Bewegungen wie beispielsweise Abolish Prostitution Now erwähnt, kein einziges Medium (außer der EMMA) hat Sachliteratur von Kritiker_Innen geschweige denn Biographien von Frauen erwähnt, die an dem Geschäft fast zu Grunde gegangen sind.
Stattdessen scheinen die Recherchen der pinken Post-Feminist_Innen (ein bisschen Polemik darf mir an dieser Stelle erlaubt sein) aus Thesen von Lobby-Organisationen wie „Doña Carmen“, „Hydra“ und Co. gespeist zu sein und in die Fernseh-Shows wackeln immer die gleichen an einer Hand abzählbaren Lobby-Sexarbeiterinnen.
Das sind dann solche, die das Wort „Zwangsprostituierte“ als Unwort deklarieren möchten, das sind solche, die Zwangsprostitution als (soziale) Realität negieren und solche, die sich für Flatrate-Bordelle stark machen und die Kondom-Pflicht für quasi unrealisierbar erklären16. Und es sind vor allem häufig solche, die selbst nicht (mehr) als Prostituierte arbeiten, aber ordentlich am Geschäft verdienen (während sich der Rest der Lobby vermutlich ins Fäustchen lacht).
Die „an.schläge“ bezeichnete den Kampf für eine Gesellschaft ohne Prostitution als „Stellvertreter_innen-Politik“ und in den sozialen Medien und der Blogosphäre lese ich in aller Regelmäßigkeit von Pro-Prostitutions-Positionierten und/oder Lobbyist_Innen, die die Geschichten von (ehemaligen) prostituierten Frauen als herangezogene und erfundene Fakten deklarieren, die lediglich zum Zwecke der Argumentation genutzt würden, kurz: reine Propaganda seien. Und mit etwas Kramen im Gedächtnis: Falschbeschuldigung, Lügen, Opfer-Industrie, Opfer-Konstruktion … das haben wir alles schon einmal gehört, oder nicht?
Symptom 3: Die Distinktionslinie zwischen Freiwilligkeit und Zwang
Wie sicher bereits aufgefallen ist, habe ich in meinem gesamten Text den Begriff der Freiwilligkeit durch Kursivschreibung markiert, denn die (vermeintlich) frei gewählte Entscheidung, dem Beruf der Prostituierten „selbstbestimmt“ nachzugehen, steht in bester neo-liberaler Tradition und in dieser verpuffen Gesellschaftskritik, existierende Unterdrückungsverhältnisse (wie Kapitalismus, Patriarchat und Rassismus), soziale Realitäten (wie Armut, Flucht und Migration) und im Besonderen traumabedingte Bewältigungs-/Kompensationsstrategien (wie Dissoziation und sog. Täterintrojekte). Trotzdem ich auch von (ehemaligen) prostituierten Frauen gelesen habe, die sich der Schädlichkeit und Quasi-Reinszenierung ihrer gewaltvollen Kindheit/Jugend bewusst waren und deutlich schilderten, dass man sie nicht davon hätte abhalten können, sich zu prostituieren, fallen solche Handlungen schlussendlich nicht unter meine Definition von Freiwilligkeit, weil solche Entscheidungen letztendlich Ergebnis einer trauma-bedingten Psychodynamik sind.
Tatsächlich erlebe ich die Forderung nach der strikten Trennung zwischen freiwilliger Sexarbeit (muss erlaubt sein) und Zwangsprostitution (muss verboten sein) als eine der perfidesten Argumentationsmuster und Ablenkungsstrategie in der gesamten Debatte. Denn sie verschweigt, dass beide Systeme in der gleichen Sphäre stattfinden und untrennbar miteinander verbunden sind17. Das drückt sich bereits dadurch aus, dass die Nachfrage den Markt bestimmt und diese ohne Zwangsprostitution niemals gesichert sein könnte. Im Kontext dieser Ablenkungsstrategien wird zudem ganz bewusst außer Acht gelassen, dass sich Prostitutionsüberlebende entschieden dagegen wehren, in zwei Gruppen auseinander dividiert zu werden, eben, weil sie sich der dadurch passierenden sehr gewaltvollen Instrumentalisierung durch Prostitutions-Befürworter_Innen und -Lobbyist_Innen deutlich bewusst sind und diese aus diesem Grund vehement ablehnen.
Status Quo
Ich kann sehr, ja sehr gut damit leben, als Teil einer Stellvertreter_Innen-Politik deklariert zu werden und ich bin sehr froh, meine Schlüsse zum Thema insbesondere aus den Geschichten und den Gesprächen mit Prostitutions-Überlebenden gezogen zu haben.
Die Mehrheit des „aktuellen“ (deutsch-sprachigen) „Feminismus“ (oder nehmen wir das Medienabbild von diesem – auch o. k.) der 3./4. Welle übergeht die Gewaltseite der Prostitution und baut darauf ihr und ein gesellschaftlich etabliertes Recht auf Prostitution auf und bekräftigt mit dem Festhalten an einer Gesellschaft mit Prostitution Rape Culture par excellence.
Dazu gehört auch, dass die alt hergebrachte Tradition und der Mythos bekräftigt wird, dass eine Frau stets sexuell verfügbar sein muss bzw. im Umkehrschluss ein Mann jederzeit seinen sexuellen Bedürfnissen nachkommen muss und darf, in dem er sich Sex kauft resp. kaufen können muss. Dazu gehört auch, dass sexuelle Gewalt geleugnet wird, die im System Prostitution seriell stattfindet und dem System inhärent ist.
Anti-*istischer Aktivismus bedeutet nicht, sich mit Herrschaftsverhältnissen zu arrangieren
Bei politischer Aktivität geht es nie darum, sich mit Herrschaftsverhältnissen gut zu arrangieren, sondern um diejenigen, die darunter leiden und um die Solidarität mit ihnen. Im Falle von Prostitution sind das nicht die weißen deutschen Bordelloberaufseher_Innen und bloggenden Sexworker_Innen, die die Wahl haben.
Es gibt immer Menschen, denen die Diskriminierung und die Zwänge, von denen sie betroffen sind, nichts ausmachen oder auszumachen scheinen. In der Prostitution ist das auch so. Deswegen habe ich ein paar Fragen an die insb. feministischen Prostitutions-Befürworter_Innen (und gemutmaßte Schlussfolgerungen):
Warum kämpft ihr noch gegen Sexismus, wenn es Frauen auf diesem Planeten gibt, denen Sexismus am Allerwertesten vorbei geht und/oder ihn (ob internalisiert oder nicht) selbst reproduzieren, auch wenn sie davon betroffen sind? Es gibt doch Frauen, die das „ok“ finden oder denen das „nix ausmacht“ (analog: es gibt doch Frauen, die das (Prostitution) „ok“ finden oder denen das „nix ausmacht“ und die das „gerne“ und „selbstbestimmt“ machen)?
Wenn ihr für das Festhalten an Prostitution eintretet, dann finde ich, solltet ihr konsequent sein und das Projekt Feminismus einstampfen. Denn es gibt immer wen, der diese Herrschaftsverhältnisse trotz aller Missstände und eigener Betroffenheit super findet oder sich wenigstens mit ihnen arrangiert (hat).
Warum kämpft ihr gegen die Objektifizierung von Frauen in der Werbung? Das Model findet das bestimmt „ok“ und sie macht es sicher „selbstbestimmt“ und „gerne“?
Ihr tretet für bessere „Arbeitsbedingungen“ von Sexarbeiter_Innen ein, im Fachjargon sind solche Maßnahmen übrigens unter dem Begriff Harm Reduction subsummiert. Merkt ihr was?
Warum, denkt ihr, sollten Männer Sex kaufen dürfen?
Möchtet ihr wirklich in einer Gesellschaft leben, in der suggeriert wird, dass Frauenkörper und Sex für den Mann stets verfügbar sind und sein müssen?
Glaubt ihr wirklich, was ihr sagt oder traut ihr euch nicht, euch anderweitig zu positionieren?
Letzteres kann ich nur all zu gut nachvollziehen, denn es hat in meinem Fall mit dazu geführt, dass ich mich lange nicht traute, beide Appelle18 zu unterzeichnen.
Das feministische Magazin Wir Frauen war das letzte (nach an.schläge) was in meinem Abonnement-Schatz übrig geblieben war (und ich das ich noch Hoffnung hegte). Bis ich es abbestellte. Und zwar deshalb (lediglich der Fettdruck ist von mir) :
[…] Meiner Meinung nach fehlen immer noch Forschungen zum gesellschaftlichen Phänomen der Prostitution – dies zeigt die erregte Debatte von 2013. Niemand kann bisher genau sagen, wie sich denn das Verbot der Prostitution in Schweden tatsächlich ausgewirkt hat, welche konkreten Auswirkungen das deutsche Gesetz von 2001 hatte, wie Prostitution und die sogenannte „Zwangsprostitution“ zuammen hängen, welche Auswirkungen die Prostitution auf anbietende Frauen und nachfragende Männer hat (und umgekehrt), ob Prostitution tatsächlich ein Beruf wie jeder andere ist und welche Rolle dabei die Wirtschaftsform spielt. Auch auf die Fragen, ob und wie Prostitution und das nach wie vor herrschende Geschlechterverhältnis zusammenhängen, ob es tatsächlich in einer geschlechtergerechten Gesellschaft nach wie vor Prostitution gibt oder nicht und Prostitution ein Phänomen eines ungleichen Geschlechterarrangements ist, gibt es keine befriedigenden Antworten. […] (Kerstin Wolff, WIR FRAUEN, 33. Jhg., Frühjahr 2014)
Weiterführende Informationen
Laura Fitzgerald: Eine sozialistische Perspektive auf die Sexindustrie und Prostitution
Der Funke: Prostitution: Wider die Neubewertung gesellschaftlicher Barbarei – Eine Streitschrift gegen Helen Wards Revisionismus (08.07.11)
Position Lisa Wiesbaden
Prostitution – ultimative Norm entfremdeter Sexualität im neoliberalen Kapitalismus (LISA NRW Positionspapier / 02.12.13)
Sonja Pleßl: Das schwedische Modell Frauenfrieden (Verein Feministischer Diskurs / 14.01.14)
Unser Standpunkt zur Prostitution: Pro Nordisches Modell (Initiative für Gerechtigkeit bei sexueller Gewalt / 08.02.14)
Abolition 2014: Positionspapier (Abolition 2014 – Für eine Welt ohne Prostitution / 14.08.14)
Quellen/Links/Fußnoten
1 Damit soll Care-Arbeit nicht degradiert werden, ich möchte nur die damit verbundenen Rollenzuschreibungen verdeutlichen.
2 Ich markiere den Begriff Sexarbeit/Sexarbeiter_In kursiv, weil er von dem Teil der Menschen abgelehnt wird, die durch das System Prostitution beschädigt werden/wurden und in eben jenem System die deutliche Mehrheit darstellen. Ich verwende ihn zur Verdeutlichung meines Positionswechsels von einer Pro-Positionierung zu einer abolitionistischen Haltung lediglich in diesem Absatz. Im System Prostitution findet kein – in meinem Sinne – konsensueller Sex statt und Sex ist keine Arbeit.
3 Ich markiere den Begriff freiwillig mit Kursivschreibung, da er für mich im Kontext der Prostitutions-Debatte lediglich eine Konstruktion darstellt, die zum Zweck hat, von für diese Debatte essentiellen Faktoren abzulenken (siehe auch diesen Absatz).
4 Exemplarische Links zum Nordischen Modell: Das Nordische Modell – Über Mythen, blinde Flecken und Realität, Simon Häggström erklärt das Schwedische Modell (Rede bei der European Women’s Lobby), Frauen sind keine Ware: Ihr hört Betroffene garnicht an
5 Z. B. Rachel Moran: Paid For, Lilly Lindner: Splitterfasernackt
6 Z. B. Rebecca Mott , Surviving Prostitution and Addiction
7 Z. B. Kajsa Ekis Ekman: Being and Being Bought: Prostitution, Surrogacy and the Split Self , Sheila Jeffreys: The Idea of Prostitution
8 Z. B. Melissa Farley et al: Prostitution and Trafficking in Nine Countries, Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland – Teilpopulation Prostituierte S. 465
9 Webseiten, die Zitate von Sexkäufern aus einschlägigen Foren versammeln (d. h. „Bewertung“ der prostituierten Frauen und der „Dienstleistung“, das beinhaltet auch Schilderungen massiver Gewalthandlungen, rassistische Äußerungen, etc.): Freiersblick, The Invisible Men, Parole de Clients
10 Interview mit Ellen Templin bei Freies Radio Wüste Welle – Transkript von Abolition 2014
11 Ja, ne, is‘ klar; (S. 22 ff.)
12 Z. B. Symptoms of Posttraumatic Stress Disorder and Mental Health in Women Who Escaped Prostitution and Helping Activists in Shelters
13 Ich danke meiner Mitstreiterin und Kritikerin G. M. für die Hilfe bei der Formulierung dieses Abschnitts.
14Hierbei wird beispielsweise Alice Schwarzer und anderen Formen des Feminismus (wie beispielsweise dem Radikal-Feminismus oder anderen nicht-dekonstruktivistischen Formen) fehlendes intersektionelles Verständnis vorgeworfen und ihr und diesen unterstellt, sie blendeten Lebensrealitäten und/andere Diskriminierungsformen aus. An dieser Stelle muss sich allerdings gefragt werden, was – sollte dem so sein – an dem Ausblenden und Ignorieren essentieller Fakten im System Prostitution (z. B. Gewalt, Posttraumatische Belastungsstörungen, Zwangsprostitution, etc.) soviel anders ist; die Person Alice Schwarzer wird innerhalb der Prostitutionsdebatte oftmals dann herangezogen, „wenn nichts mehr geht“, sprich alle Argumente ausgegangen sind; ganz selbstverständlich wird hierbei davon ausgegangen, dass es einen „Negativ-Touch“ hat, mit ihrer Person und ihren Ansichten assoziiert zu werden
15 Ich bin keine Akademikerin und auch anderweitig nicht sonderlich privilegiert.
16 Auch die Aids-Hilfe (!) hat sich offiziell gegen die Kondompflicht positioniert: „[…] Die Kondompflicht wird zu mehr Kriminalisierung von Sexarbeiterinnen und Freiern führen. Damit ist niemandem geholfen […]“
17 Does Legalized Prostitution Increase Human Trafficking?
18Karlsruher Appell, EMMA-Appell, Solwodi Petition