Am 20. Juni 2015 fand im Kulturforum Wiesbaden – anlässlich des 25-jährigen Jubiläums der Städtepartnerschaft Ocotal – Wiesbaden – die Konzertlesung mit Gioconda Belli und dem Grupo Sal Duo statt. Veranstalter war der Verein Nueva Nicaragua e. V. Gioconda Belli las an diesem Abend aus ihrer neuen Anthologie „Die Frau, die ich bin“, in der poetische Höhepunkte ihrer zuvor erschienenen Gedichtebände „Wenn du mich lieben willst“, „Feuerwerk in meinem Hafen“, „Feuer bin ich in der Ferne“, „Ich bin Sehnsucht, verkleidet als Frau“ und „Davor, die Jugend“ versammelt sind. Übersetzt wurde sie von Lutz Kliche, der auch einige ihrer Romane aus dem Spanischen ins Deutsche übertragen hat. Ich hatte das große Glück, an diesem Abend dabei zu sein: Es war ein eindrückliches, tief bewegendes und unvergessliches Erlebnis.
[…] Morgen vergesse ich die Angst,
fürchte nicht mehr die einsamen Strecken,
noch das Erwachen ohne Dach.
Ich verscheuche die Gespensterwolken,
den anschleichenden Tod,
gebe zu, dass ich glücklich bin,
ganz einfach glücklich.
Ich verliere die tiefe Angst vor dem Glück. [1]aus dem nicaraguaischen Spanisch von Anneliese Schwarzer
Ein Rest der Angst / Esquinas del miedo
Biografisches
Gioconda Belli wurde 1948 in Managua, Nicaragua geboren, mit 18 Jahren war sie verheiratet und widersetzte sich ihrem Ehemann, der ihr nicht gestatten wollte, in einer Werbeagentur zu arbeiten. Durch diese Arbeit kam sie in Kontakt mit der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN), sie war zu dieser Zeit bereits Mutter einer 1-jährigen Tochter, und beteiligte sie sich ohne Wissen ihres Ehemannes am Widerstand gegen die damals herrschende Somoza-Diktatur.
Ihre ersten Liebesgedichte veröffentlichte sie in der Tageszeitung „La Prensa“, welche von der erzkatholischen Gesellschaft (und Regierung) Nicaraguas als Affront aufgefasst wurden und auch den Bruch mit ihrer Familie markierten.
1974 flüchete Gioconda Belli zuerst nach Mexiko und danach nach Costa Rica ins Exil. Sie kehrte im Jahr 1979 nach dem Sturz der Somoza-Diktatur durch die Sandinisten nach Nicaragua zurück. In ihrer Anthologie „Truenos y arco iris“ („Donner und Regenbogen“), erschienen 1982, behandelte sie die Zeit vor dem Sturz Somozas.
Nicaragua geriet später erneut in einen Bürgerkrieg, den sog. Contra-Krieg, der von den USA finanziert wurde. In der Folge legte Gioconda Belli ab 1986 ihre politischen Funktionen in der FLSM und im Innenministerium nieder und arbeitete fortan nur noch als Schriftstellerin. 1988 gelang ihr mit „La mujer habitada“ („Bewohnte Frau“) der internationale Durchbruch als Schriftstellerin.
Bei den Wahlen in Nicaragua im Jahr 1990 siegte das Bündnis der konservativen Opposition. Gioconda Belli zog sich daraufhin in die USA zurück und kritisierte wiederholt das Politikverständnis und die Selbstherrlichkeit der sandinistischen Führungsriegen. [2]
Seit 1990 lebt sie mit ihrer Familie wechselweise in Los Angeles/USA und Managua/Nicaragua. [3]
Gioconda & ich
[…] Ich gebe keinem die Schuld. Eher bin ich dankbar.
Ich bereue nichts, wie Edith Piaf es sagte.
Doch in den dunklen Brunnen, in die ich versinke,
an den Morgen, wenn die Tränen
in die kaum offenen Augen drängen,
trotz des Glücks, das ich endlich gewann,
in dem ich Schichten und Ablagerungen
tertiären und quartären Gesteins durchstieß,
sehe ich meine anderen Frauen versammelt im Kreis,
ihre schmerzlichen Blicke,
und fühle mich schuldig, glücklich zu sein.
Die Geister kleiner Mädchen
tanzen im Kreis und singen ihre Ringelreihen
gegen mich,
gegen diese Frau
mit allem Drum und Dran,
vollständige Frau mit Brüsten auf der Brust
und breiten Hüften
die ich,
dank meiner Mutter und trotz ihr,
nun einmal bin. [4]aus dem nicaraguaischen Spanisch von Anneliese Schwarzer
Ich bereue nichts / No me arrepiento de nada
Ich muss ein wenig ausholen, wenn ich über Gioconda Belli schreiben möchte. Ihre Literatur begleitet mich nun seit ca. 17 Jahren und ich lernte sie kennen, als ich vor sehr vielen Jahren in dem WG-Zimmer einer damaligen Freundin saß und mein Blick die Wände streifte. An einer der Wände hing ein schwarzer Karton mit handbeschriebenen goldenen Zeilen.
Auf dem Karton stand die deutsch-sprachige Übersetzung des Gedichtes „No me arrepiento de nada“ („Ich bereue nichts“) und ich war zu Tränen gerührt. Das Gedicht traf mich an vielen sensiblen Stellen meines Lebens, dazu gehörte die Auseinandersetzung mit einer doch recht komplexen und komplizierten Beziehung zu meiner Mutter, aber auch die stete Suche nach der Bedeutung von Vorstellungen, Erwartungen, Wünschen meiner Familie, der Gesellschaft und mir selbst an mich – als junge Frau. Das Gedicht transportierte ein Stückchen Frieden mit mir in mein Herz.
Und von da an war es um mich geschehen. Ich las (fast) alles von Gioconda Belli.
Gioconda Bellis Sprache
So viele Blumen wären nötig, um die Sümpfe zu trocknen,
in denen das Wasser unserer Augen zu Schlamm wird;
zu Treibsand, der uns verschlingt und wieder ausspeit,
dem wir zähe Frauen eine nach der anderen entsteigen müssen.Mit langem Haar bricht der gewundene Tag der Frauen an.
Wir wollen Blumen heute. So viele uns zustehen.
Den Garten, aus dem man uns vertrieben hat. [5]aus dem nicaraguaischen Spanisch von Angelica Ammar
Achter März / 8 de marzo
Gioconda war und ist eine Revolutionärin, eine Kämpferin, deren politisches Engagement sie in Gefangenschaft und Exil trieb, sie war politischen Repressalien ausgesetzt, die sich wie ein Faden durch ihre Lyrik ziehen wie ihr Schreiben über Frau-Sein, weibliches Begehren, Sexualität, Lust und Körper, was in Nicaragua einen Skandal auslöste.
Ihre Lyrik ist opulent, bildergewaltig, farbenfroh, ungnädig, ehrlich, politisch und feministisch, sie strotzt vor Klugheit, Witz und Humor. Ihre Poesie ebnet eine tiefe Verbindung, weil ihre Gedichte mitten in das Herz, die Seele und den Verstand treffen. Weil sie eine ist, die es in poetischer Weise versteht, Bildgewalten und Vorstellungen entstehen zu lassen zu den Themen dieser Welt – weltliche und politische, Liebe, die Unterdrückung der Frau und Exil. Gioconda entwirft Landschaftsbilder: Lese ich Belli, dann fliegen Bilder von Nicaragua im Kopf herum – geographische, politische, identitätsstiftende und -spaltende, getragen von einer – ihrer – tiefen Liebe zu ihrem Heimatland.
[…] Wo verstecke ich nur dieses geliebte Land,
damit niemand mehr darauf einprügeln kann?
Das verletzte Nicaragua blutet Schlamm
aus den offenen Wunden seines Herzens. […] [6]Wiegenlied für ein in Tränen aufgelöstes Land /
Canción de cuna para un país suelto en llantoaus dem nicaraguaischen Spanisch von Angelica Ammar
Die Konzertlesung
Der Abend begann mit der Lesung von Auszügen aus ihrem wohl bekanntesten Roman „Die bewohnte Frau“ („La mujer habitata“). Das erste Gedicht, das sie anschließend vortrug, war mein geliebtes „Ich bereue nichts“ („No me arrepiento de nada„). Ein bisschen kam es mir vor wie zauberhafter Zufall, dass eben jenes Gedicht, das mich vor so vielen Jahren zu ihr geführt hatte, den Lyrikteil des Abends einläuten sollte.
Sie las anschließend u. a. „In der Nacht stellt die Ehefrau klar“ („De noche, la esposa aclara“), „Von den erreichbaren Genüssen“ („De los placeres accesibles“), „Körperkalender“ und „Achter März“ („8 de marzo“), was mit Sicherheit als eines ihrer wichtigsten politisch-feministischen Gedichte angesehen werden kann. Das Publikum zeigte sich spätestens hier tief gerührt und berührt und auch die ein oder andere Träne floss über die Wangen der ZuhörerInnen.
Gioconda Belli beendete den Abend mit einem bislang nicht offiziell veröffentlichten Gedicht „Ratschläge an die starke Frau“ („Consejos para la mujer fuerte„), in dem es heißt:
Wenn du eine starke Frau bist,
dann schütz dich vor dem Ungeziefer,
das dein Herz auffressen will.[…]
Es [das Schuldgefühl] pflügt dir deine Seele um,
bringt seine bohrenden Blicke und sein Jammern
bis auf den tiefsten Grund deines Magmas deines Seins.
Nicht etwa, um sich an deinem Feuer zu erfreuen,
sondern, um die Leidenschaft zu löschen,
die Weisheit deiner Fantasie.[…]
Wenn du eine starke Frau bist,
dann mach dich auf die Schlacht gefasst,
lerne, alleine zu sein,
furchtlos in tiefster Dunkelheit zu schlafen,
dass niemand dir rettende Seile zu zuwirft,
wenn das Wetter tobt,
um gegen den Strom zu schwimmen.[…]
Wenn du eine starke Frau bist,
dann schütze dich mit Worten und mit Bäumen
und rufe die Erinnerung der Frauen uralter Zeiten an.
Du musst dir klar darüber sein,
dass du ein Magnetfeld bist,
zu dem auch alle rostigen Nägel fliegen werden,
der tödliche Rest aller Schiffsuntergänge,
beschütze,
aber beschütz dich zuerst selbst.Bleib auf Distanz,
bau dich selbst auf.
Nimm dich in acht,
sei dir deiner Macht bewusst.
Verteidige sie,
du dies für dich.Ich bitte dich darum
als Frau
im Namen von uns allen.Ratschläge für die starke Frau /
Consejos para la mujer fuerteaus dem nicaraguaischen Spanisch von Lutz Kliche
Musikalisch begleitet wurde die Lesung von dem Grupo Sal Duo, das aus den Musikern Anibal Civilotti und Fernando Dias Costa besteht.
Seit mehr als 30 Jahren ist Grupo Sal im deutschsprachigen Europa die „Stimme Lateinamerikas“. Sechs Musiker tragen mit ihrem individuellen Stil zu einer einzigartigen Interpretation lateinamerikanischer Musik bei. Die Vertrautheit mit zeitgenössischer und klassischer Musik prägt das Arrangement traditioneller und politischer Folklore jenseits von Klischees. Eigenständige Kompositionen erweitern das Repertoire moderner lateinamerikanischer Liedermacher. Charakteristisch für Grupo Sal ist das inspirierte Zusammenspiel von Virtuosität und Leidenschaft. [7]
Das Stück „Mediterráneo“ von Joan Manuel Serrat, das in seiner Ursprünglichkeit eine Ode an das Mittelmeer ist, nutzten die Musiker, um auf die humanitäre Katastrophe aufmerksam zu machen, die sich derzeit vor den Grenzen Europas ereignet, bei der tausende Menschen, bei dem Versuch, aus ihren Heimatländern zu fliehen, im Mittelmeer ertrinken.
Ein Gastbeitrag von Maya
Quellen
[1] „Wenn du mich lieben willst“, 2. Aufl. 2002, Deutscher Taschenbuch Verlag; © 1993 der deutsch-sprachische Originalausgabe: Peter Hammer Verlag (das Gedicht wurde für die dtv-Ausgabe offensichtlich geringfügig bearbeitet)
[2] Eintrag „Belli, Gioconda“ in Munzinger Online/Personen – Internationales Biographisches Archiv, URL: http://www.munzinger.de/document/00000023683 (abgerufen von Hochschul- und Landesbibliothek RheinMain am 30.6.2015)
[3] https://en.wikipedia.org/wiki/Gioconda_Belli#Early_life
[4] „Wenn du mich lieben willst“, 2. Aufl. 2002, Deutscher Taschenbuch Verlag; © 1993 der deutsch-sprachische Originalausgabe: Peter Hammer Verlag (das Gedicht erschien dort unter dem Titel „Was ist. Was hätte sein können.“); „Die Frau, die ich bin“, 2014, Peter Hammer Verlag (bearbeitet von Lutz Kliche)
[5] „Davor die Jugend“, 1. Aufl. 2013, Peter Hammer Verlag; „Die Frau, die ich bin“, 2014, Peter Hammer Verlag (bearbeitet von Lutz Kliche)
[6] „Ich bin Sehnsucht – verkleidet als Frau“, 2005, Deutscher Taschenbuch Verlag; © 2003 der deutsch-sprachischen Originalausgabe: Peter Hammer Verlag
[7] http://www.grupo-sal.de/html/band.htm, abgerufen am 30.06.2015
Zum Weiterlesen
- Giconda Belli im Peter Hammer Verlag
- Webseite von Gioconda Belli
- Leseprobe ihrer Biografie „Die Verteidigung des Glücks“ beim Deutschen Taschenbuch Verlag
- Gedichte von Gioconda Belli im Original bei A media voz
- in Deutschland erschienene Werke von Gioconda Belli bei Wikipedia