Dieser Tage wollen sie es aber wissen: Erst die Taz mit einem Sexting verherrlichenden Beitrag, dann auch die Medien-Informationskampagne medienbewusst.de – kinder. medien. kompetenz. Beides hat mich so aufgeregt, dass ich dazu mal was grundsätzliches loswerden muss.
Von „Sexting“ spricht man wenn via soziale Netzwerke, E-Mail oder das Smartphone Nackt- oder Sexfotos ausgetauscht werden (Sex + Texting = Sexting). Betroffen sind insbesondere Jugendliche, es gibt wohl kaum eine Schule in der das Thema noch nicht aufgeschlagen ist, aber auch Erwachsene.
Die TAZ mockierte sich nun am 23. Juli über die „verklemmte amerikanische Gesellschaft“ und schrieb:
Früher waren es Doktorspiele, provokantes Pimmelzeigen, erste Berührungen im Kino. Heute sind es intime Bilder und Videos, die via Smartphone verschickt werden. Es sind schlicht neue Möglichkeiten, sich erotisch auszutauschen. Solange alles einvernehmlich läuft, ein Mindestmaß an Vertrauen vorhanden ist, ist Sexting nicht zu verteufeln. Im Gegenteil. Lasst den Kindern ihren Spaß. Lasst sie sich in ihren stürmischen ersten Beziehungen gegenseitig mit Pornobildchen versorgen. Es ist völlig harmlos.
Aha. Es ist also völlig harmlos und pornographisierte Darstellungen gehören laut Redakteur Paul Wrush also heutzutage zur ersten Liebe ganz selbstverständlich dazu.
Bei „Medienbewusst“, einer Kampagne bei der es explizit um Medienkomptenz für Kinder und Jugendliche gehen soll, schreibt auch „Expertin“ Dr. Nicola Döring über die verklemmten Amerikaner*innen und stellt ihnen die sexuell befreiten Deutschen gegenüber:
Was könnte nicht alles passieren in so einer jungen Romanze: Liebeskummer, ungeplante Schwangerschaft, Klatsch und Tratsch, Chlamydien, Eifersuchtsdramen, sogar sexuelle Gewalt. Propagieren wir deswegen Liebes‑ oder Sex-Abstinenz? In Deutschland – im Unterschied zu den USA – tun wir das nicht. Wir sehen es als natürlich und wichtig an, dass Jugendliche erste romantische und sexuelle Erfahrungen sammeln. Und gerade weil wir diese nicht mehr tabuisieren, findet Jugendsexualität in Deutschland heute viel einvernehmlicher und sicherer statt. Und eben nicht so oft hektisch, betrunken, ungeschützt oder gewaltsam wie z.B. in den USA, wo Jugendliche offiziell überhaupt keinen vorehelichen Sex haben sollen.
Sie geht sogar noch weiter und behauptet:
Erotische Bilder selbst zu produzieren bedeutet für Erwachsene und Jugendliche nicht zuletzt auch Widerstand gegen stromlinienförmige massenmediale Schönheitsnormen, Selbstakzeptanz anstelle von Selbstzweifeln. Nele jedenfalls träumt nicht von einer Brustvergrößerung, sondern findet ihren kleinen Busen richtig gut, vor allem seit sie ausprobiert hat, wie toll der auf Fotos wirkt. Und Dominic ist stolz darauf, dass Nele gern seine Nacktfotos anschaut, wenn sie ihn vermisst, obwohl er doch gar nicht so viele Muskeln hat.
Beide Autoren romantisieren und tun so als ginge es bei Sexting ausschließlich oder zumindest in erster Linie um den Austausch von „heißen Bildchen“ zwischen verliebten Teenagern.
Solche verharmlosenden Texte, die aktuelle, gefährliche Phänomene verharmlosen regen mich massiv auf. Verlassen wir doch mal die schöne flauschige, sexuell befreite Wunschwelt der „Expert*innen“, bzw. Journalist*innen:
1) In der Regel sitzen junge Mädchen nicht zu Hause rum und kommen auf die Idee ihrem Freund oder Schwarm Nacktfotos von sich zu schicken. Ganz im Gegenteil: Die Initiative diesbezüglich geht in der Regel von den Jungs aus. Die Mädchen zieren sich zunächst (weil ihr Bauchgefühl ihnen sagt, dass sie das eigentlich gar nicht wollen) und werden dann Schritt für Schritt überredet, damit er seinen Willen doch noch bekommt. Dies wurde in vielen vielen Gesprächen mit Betroffenen von diesen bestätigt. (Das Gleiche berichten übrigens auch erwachsene Frauen egal welchen Alters). Häufig werden die Fotos auch bewusst als Druckmittel benutzt. In einer Beziehung um Mädchen und Frauen gefügig zu machen für sexuelle Handlungen, die sie eigentlich gar nicht wollen. Oder am/nach dem Ende einer Beziehung oder Affäre um das Mädchen oder die Frau weiter an sich zu binden (obwohl sie eigentlich gar nicht mehr will). Sexting hat also großes Erpressungspotential.
2) Sexting findet nicht nur „bei der ersten großen Liebe“ statt. Oft handelt es sich um Zufallsbekanntschaften oder den „älteren, supercoolen Typen aus der Schule, auf den alle stehen“. Die Mädchen fühlen sich geschmeichelt und fühlen sich unter Zugzwang gesetzt, denn sie denken wenn sie seinem Wunsch nicht nachkommen, dann interessiert er sich nicht mehr für sie (weil sie „langweilig“, „prüde“, „verklemmt“ sind). Es geht für sie um Anerkennung, nicht das Ausleben von Sexualität. Schulleiter berichten von Jungs, die mehr als 200 Nacktfotos auf ihrem Handy mit sich rumtragen. Interessanterweise werden auch Mädchen, die sich weigern dem Wunsch nach einem Nacktfoto nachzukommen als „Schlampe“ bezeichnet. Wie sie es auch machen, sie sind am Ende eh immer eine „Schlampe“.
3) Es muss einfach mal festgestellt werden: Ein bspw. 14-Jähriges Mädchen hat überhaupt keinen eigenen sexuellen Gewinn davon einem bspw. 17-jährigen Jungen ein Nackt- oder Sexfoto von sich zu schicken. Es bedeutet keinerlei Lustgewinn für Sie, wenn er ein Foto oder Video von ihr als Trophäe oder Wichsvorlage besitzt. Es steht außer Frage, dass auch Mädchen masturbieren (und es ist ja auch vollkommen okay seinen eigenen Körper und die eigene Lust kennenzulernen) aber Sexting-Fotos oder Pornos kommen dabei bei ihnen eher weniger zum Einsatz. Es gibt hingegen kaum ein Mädchen oder eine Frau, die noch niemals in ihrem Leben ungefragt das Fotos eines erigierten oder nicht erigierten Geschlechtsteils zugeschickt bekommen hat. Und in der Regel werden sie eher mit Ekel (nicht weil sie etwa Penisse ekelhaft fänden, sondern ob der massiven Grenzüberschreitung, die das ist) als mit Freude darauf reagiert haben.
4) Jugendliche wie auch Erwachsene (!) reagieren auf Nacktfotos, die beispielsweise gegen den Willen der Betroffenen auf Facebook verbreitet werden, mit einer Ablehnung gegenüber dem Opfer (die Tat von der wir hier sprechen ist Cybermobbing): Mädchen, die Nackt- oder Sexfotos von sich verschicken sind Schlampen und haben es verdient wenn sie dafür öffentlich bloßgestellt werden. Nicht der Täter sondern das Opfer wird gedisst. Von den Jugendlichen weil sie „fett“, „hässlich“, „schäbig“, „unehrenhaft“ etc. und von den Erwachsenen weil sie eben „selbst schuld“ ist. „Was muss sie auch solche Fotos von sich ins Netz stellen, dann braucht sie sich auch jetzt nicht über die Reaktionen zu beschweren“. Solche Aussagen kommen selbst dann wenn ganz klar ist, dass „sie“ die Fotos gar nicht selbst eingestellt hat. Für alle ist ganz klar: Sie ist eine Schlampe und hat es nicht anders verdient. [Ich höre schon die Stimmen, die jetzt als Lösung vorschlagen das „Schlampen-Stigma“ abzuschaffen und dann wird alles gut. Das dass aber in den gegenwärtigen patriarchalen Verhältnissen gar nicht möglich ist, diesen Geistesblitz haben diese Leute leider nicht] Selbst wenn man bei Sexfotos auch die agierenden Jungs identifizieren kann, haben sie dergleichen nicht zu befürchten. Ganz im Gegenteil: Sie sind die „Checker“ und werden bejubelt. „Boah, der hast du es aber gegeben“ Das geht bis dahin, dass sie freimütig und ungestraft zugeben können, dass sie das Mädchen vorher mit Alkohol abgefüllt oder mit KO-Tropfen gefügig gemacht haben. Jungs, die um die 16 sind schreiben so etwas wohlgemerkt.
5) Einmal im Umlauf (insbesondere im Netz) besteht auch die Gefahr, dass Pädokriminelle Zugriff auf Nacktfotos von Minderjährigen erhalten. Darüber hinaus suchen erwachsene Männer im Internet bewusst auch Kontakt zu Kindern und Jugendlichen, indem sie sich entweder als Gleichaltrige ausgeben oder aber als sie selbst ihr Vertrauen erschleichen. Strategisch nutzen sie Grooming-Methoden. Das Erschleichen von pornographischen Fotos („Du siehst so hübsch aus, ich würde gerne mehr von dir sehen“) ist häufig nur ein erster Schritt einer Masche an deren Ende sexuelle Gewalt steht. Sexuelle Belästigung im Internet ist eher Alltag als Ausnahme.
6) Sexting ist nicht irgendein „Spass“, den wir den Jugendlichen doch einfach lassen sollten. Dies zeigt nicht zuletzt der Fall der 15-Jährigen Amanda Todd aus Vancouver/Kanada, die sich im Oktober 2013 nach massivem Cybermobbing das Leben nahm. Im Tod endet
Ich habe niemanden. Ich brauche Euch. Mein Name ist Amanda Todd.
Mit diesen Sätzen endet Amandas Youtube-Video, mit dem sie die Welt an ihrem Martyrium teilhaben ließ. Stumm, nur mit beschriebenen Karteikarten in der Hand, hatte sie acht lange Minuten vor ihrer Webcam gesessen und die Welt teilhaben lassen an den Cyber-Mobbing-Attacken, denen sie über Jahre ausgesetzt war. Sie berichtete von ihrem Peiniger, der sie im Netz erst zu einem Nacktfoto überredete und sie dann ein Jahr später vor der ganzen Welt bloßstellte, weil sie ihm nicht noch gefälliger war. Sie berichtet von Schulkameraden und von Schmäh-Mails, die sie jeden Tag aufs Neue auf ihrem Computer vorfand. Von ihren Weinkrämpfen und den vielen schlaflosen Nächten, die sie seit dem Vorfall mit dem Nacktfoto plagten. Von ihren Depressionen, ihrer Alkoholsucht und dem Selbstmordversuch mit Chemikalien. Amanda Todd hielt all das nicht mehr aus und setzte ihrem Leben ein Ende.
Zum Selbstmord führt Cybermobbing dieser Art zwar in den seltensten Fällen – Leben können jedoch auch anders zerstört werden. Wenn Eltern beispielsweise auf Wunsch der Kinder, die keinen anderen Ausweg mehr sehen, nicht nur dem Wohnort sondern gleich Deutschland den Rücken kehren, dann kann man schwerlich noch von „Spass“ sprechen. Auch wenn es nur ein dadurch erzwungener Schulwechsel ist: Bagatellisieren wie in den beiden Artikeln ist extrem verantwortungslos. Und überhaupt: Die Langzeitfolgen dieses neuen Trends sind noch überhaupt nicht absehbar. Was wenn z.B. Betroffene bei Bewerbungen von potentiellen Arbeitgebern mit entsprechenden Fotos konfrontiert werden? Wir wissen doch alle: Das Netz vergisst nie.
Es ist nicht verwunderlich, dass Sexting insbesondere in den USA so weit verbreitet ist. Es hat jedoch nichts mit der „Prüderie der Amerikaner*innen“ zu tun, sondern eher damit, dass die USA der weltweit größte Pornoproduzent sind. Deutschland folgt direkt danach. Zusammenhänge dazu: Werden einfach ausgeblendet.
Inzwischen gibt es bereits zwei beliebte Apps, die überwiegend zum Austauschen von „sexy pics“ genutzt werden: Snapchat und Tinder Moments. Beide bieten die Funktion an, dass Bilder sich nach 10 Minuten, bzw. 24 Stunden selbst zerstören. Lächerlich, denn das ist verdammt viel Zeit um die Bilder via Screenshot zu sichern oder abzufotografieren. Mal abgesehen davon, dass es offensichtlich auch gar nicht stimmt, dass die Dateien sich „selbst zerstören“. Damit werden Nutzer*innen in falscher Sicherheit gewogen. Laut Snapchat-Aussagen werden täglich 400 Millionen Nachrichten ausgetauscht, 79% der Nutzer*innen sind weiblich.
Die beiden Artikel machen wieder genau das, was viele Prostitutions- und Pornokritiker*innen bereits hinlänglich kennen: Wer gesellschaftliche Entwicklungen, die Frauen zu überall sexuell verfügbaren Objekten männlicher Begierde machen, kritisiert, wird als „sexfeindlich“, „verklemmt“ und „prüde“ gebrandmarkt. Ich finde es ehrlich gesagt sehr befremdlich wenn Leute, die bereits erwachsen (also nicht mehr jugendlich) sind Jugendlichen erzählen wollen, dass es ganz superdupertoll ist, wenn sie intime Fotos von sich verschicken. Es hat Grenzen zu geben im Umgang mieinander. Und es ist total nervig, wenn in guter alter Victim Blaming Tradition, wie wir sie schon aus Vergewaltigungsszenarien bestens kennen, den Mädchen wieder beigebracht werden soll, dass im Zweifelsfall SIE die Schuld für Cybermobbing selbst tragen und deshalb bitte gut überlegen sollen wem sie welche Fotos schicken (oder tolle Tipps vom Taz-Redakteur bekommen, dass sie die Fotos so schießen sollen, dass man ihr Gesicht darauf nicht erkennen kann. Großartig!) Ich möchte in einer Gesellschaft leben in der nicht die Opfer gemaßregelt werden für vermeintliches Fehlverhalten, sondern in einer Gesellschaft in der die Täter beigebracht bekommen, dass sie kein Recht auf Nacktfotos von anderen Menschen haben und es eine unzulässige Grenzverletzung ist wenn sie andere dazu drängen und/oder überreden welche von sich anzufertigen. Den Jungs und Männern muss vermittelt werden, dass ein „Nein“ ein „Nein“ und kein „Ja, wenn ich nur lange genug Druck ausübe und eine Bringschuld suggeriere“ ist. Und es muss auch Jugendlichen wieder vermittelt werden, dass Sexualität auf Augenhöhe eben nicht bedeutet „ihm einen zu blasen“, sondern auch irgendwie irgendwas auch mit ihr zu tun hat. Egal ob Jugendliche*r oder Erwachsene*r: Es ist überhaupt gar nichts gegen Sexualität einzuwenden, so lange sie als vollkommen private, einvernehmliche (und damit ist nicht das hineindrängen in irgendwas gemeint) Face-to-Face-Intimität zwischen Personen, die diese Intimität genau so ausleben wollen, geschieht. Datenschleudern wie Google, Facebook, Snapshot oder Tinder sind per se nicht als „privat“ oder intim zu betrachten und allein deshalb schon grundsätzlich eine Gefahr. Insofern kann man nur den Kopf schütteln wenn so genannte „Medienexpert*innen“ meinen das ginge schon alles so okay wie es ist und all das ausblenden. Man kann sie bestenfalls als naiv bezeichnen. Meine Kinder würde ich ihnen sicherlich nicht zur Vermittlung von Medienkompetenz anvertrauen.
Absolut super geschriebener Beitrag!
Heutzutage wird mit Bildern – und eben auch mit Nacktbildern – im Internet viel zu lässig umgegangen. Und wer sich diesem Diktat des „Zeig alles“ und in jedem Bereich nicht beugt, ist gleich die/der Dumme und wird komisch angesehen.
Ich wurde selbst schon als „verklemmte Zicke“ und „Schlampe“ bezeichnet, weil ich keine Nacktbilder per Internet schicken wollte. Mir wurde nicht einmal geglaubt, dass ich solche Bilder nicht besitze.
Eine Zeitlang habe ich – und darauf bin ich nicht stolz – unter Geldnot als professionelle Erotikchatterin gearbeitet. Dort hatten wir alle verschiedene Profile, die bestimmte Foto hatten. Bei einigen waren eben nur angezogene Frauen zu sehen, bei einigen alles und auch sehr intime Nahaufnahmen.
Die Männer, die nicht wussten, ob sie mit einer realen Frau chatten oder mit einer Moderatorin (oder einem Moderator, das war aus den weiblichen Profilen nicht ersichtlich) und zu 90 % von einer realen, echten Frau ausgegangen sind, haben oftmals direkt den Kontakt abgebrochen, wenn die Frau nicht auf Anfrage sofort Nackbilder oder Nahaufnahmen ihrer Vulva geschickt hat.
In den Erotikchats sind ca. 90 % Männer und nur 10 % reale Frauen, die restlichen „Frauen“ sind Fake-Profile, die von Leuten zu einem Hungerlohn bedient werden. Dadurch, dass diese Moderator/innen dazu angehalten werden, den Männern zu geben, was sie wollen und dadurch, dass die Männer (und das sind nicht wenige!) immer bekommen, was sie wollen, entsteht noch mehr das Bild der „Schlampenfrau“.
Diese „realen Frauen“ posten völlig ungeniert ihre Intimregion in jeder Stellung und Weise … Und wenn ein solcher Mann dann einmal an eine echte Frau gerät – oder an ein Profil, was kein solches Bild zu bieten hat – dann flippt er aus und wird verbal übergriffig, um die Frau dazu zu zwingen, ihm doch noch ein solches Bild zu schicken.
Erschreckend.
Ich habe die Arbeit dort drei Monate ausgehalten, in jener Zeit hatte ich im Monat durchschnittlich 250 – 300 € damit verdient (meine einzigen Einkünfte). Dann konnte ich nicht mehr mit machen, an dieser Erniedrigung und Verfestigung des deprimierenden Frauenbildes.
Schickt keine Nacktbilder per Internet! An niemanden! Morgen könnte eure Ehe/Beziehung/Freundschaft zerbrechen und dann seit ihr die Gelackmeierten, denn noch ist – wie super in dem Beitrag dargestellt – von Opferschutz immer noch Fehlanzeige.