Schlagwort: Islamismus

#IranProtests: Es geht um alles oder nichts

Manchmal ist das Leben geprägt von merkwürdigen Zufällen. Erst vor knapp zwei Wochen habe ich auf der Plattform eines großen internationalen Buchhandels eine Rezension zu „Islamists Ruined My Iran: The Second Coming“, einem Buch eines jungen, talentierten Autors über die Situation im Iran veröffentlicht, und nur wenige Tage später erlebt das Land Aufstände gegen das Regime, die von ExpertInnen bereits als die größten seit ca. 40 Jahren beschrieben werden.

Seit fünf Tagen ist der Aufstand im vollen Gange, seit mehr als vier Tagen haben Auslands-IranerInnen bedingt durch die Abschaltung des Internets durch das Mullah-Regime, nun bereits keinen Kontakt zu ihren Angehörigen. Nur ca. 5% der Tweets zu den Protesten kommen aus dem Iran selbst, hauptsächlich von Regime-Vertrauten und Funktionären – für die Handvoll anderer Tweets mussten Aktivistinnen mit komplizierten Proxy-Server-Umwegen agieren.

Währenddessen wurden bereits Tausende verhaftet, die Zahl der Todesopfer hat die 200er Marke überschritten. Im „Westen“ wird der Protest verkürzt auf einen Konflikt um eine „Erhöhung der Benzinpreise“, für die die US-Sanktionen gegen das Land verantwortlich seien. Die schiere Verzweiflung (und Wut) ist bei Twitter unten den Hashtags #IranProtests und #Internet4Iran zu spüren: Warum kommt dem Aufbegehren gegen die nunmehr vier Jahrzehnte währende fundamentalistische Herrschaft keine internationale Aufmerksamkeit zu? Und warum ist es so schlecht bestellt um die Solidarität der „freien und demokratischen Welt“?

Das eingangs erwähnte Buch, oder wie der Autor es selbst nennt „Manifest“, zeichnet sich meines Erachtens dadurch aus, dass es zum einen auf knapp 79 Seiten einen sehr kompakten aber sehr umfangreichen Überblick über die Geschichte des Landes und die ökonomischen, sozialen, kulturellen und ökologischen Auswirkungen der „Islamischen Revolution“ von 1979 liefert. Zum anderen gelingt es ihm zwischen struktureller und individueller Ebene zu trennen. Trotz der Schilderung der Ernsthaftigkeit der Lage des Landes, die bereits vor dem 14. November als höchstkritisch zu bewerten war, wird vor allem auch die Verbundenheit zum Land und seinen Menschen und die Hoffnung auf eine Veränderung spürbar. Und, wie er angesichts der neuen Situation konstatiert wird sich in den aktuellen Protesten zeigen, ob diese Veränderung nun eintritt, oder – wenn der Versuch der Befreiung fehlschlägt – die gewaltvolle Reaktion des Regimes jeden Hoffnungsschimmer völlig zunichte macht. Es geht um alles oder nichts.

Wenn es jedoch nicht, wie allenthalben suggeriert, um steigende Benzinpreise geht, um was dann? Zum einen um die Tatsache, dass  das Land, welches einst für Modernisierung stand und für seine Dichtkunst von Autoren wie Hafez oder Rumi bekannt war, von einer „stabilen und prosperierenden Nation“, in eine ernsthafte Wirtschaftsrezession manövriert wurde, die Millionen von Iranerinnen und Iranern in die Armut getrieben hat: Steigende Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Inflation sind nur ein paar wenige Stichpunkte. Zum anderen geht das autoritäre Regime unerbittlich mit seinen KritikerInnen um: Inhaftierungen und Exekutionen sind an der Tagesordnung, freie Meinungsäußerung undenkbar. Die Abwendung von der Religion steht unter Todesstrafe, Händchenhalten eines unverheirateten Paares in der Öffentlichkeit führt mitunter zu stundenlangen Arrestierungen. Ethnische und religiöse Minderheiten werden diskriminiert und verfolgt.

Was bedeutet all dies konkret für das Leben von Frauen im Iran?

  • Insbesondere in der ölreichen, aber dennoch von niedriger Beschäftigung und schlechter Luftqualität geprägten Khuzestan-Provinz und in den westlichen Städten des Irans, sehen sich junge Frauen zur Prostitution aus ökonomischer Not gezwungen. Auch Anzeigen für Organverkäufe sind an der Tagesordnung, die Straßen Teherans von Obdachlosigkeit geprägt.
  • Das Tragen des Hijab ist verpflichtend. Die Initiative „My Stealthy Freedom“, im Jahr 2014 initiiert durch die Aktivistin und Exil-Iranerin Masih Alinejad, zeigt Fotos von mutigen Frauen im Iran, die trotz aller Repression ihre Verschleierung ablegen.  Yasaman Aryani , Monireh Arabshahi und Mojgan Keshavarz zeigten sich am diesjährigen Internationalen Frauentag ohne Hijab und wurden wegen Verstoß gegen das Verschleierungsgesetzes und damit der „Anstiftung und Begünstigung von Verdorbenheit und Prostitution“ zu Haftstrafen von zusammen 55 Jahren verurteilt.
  • Fussballfan Sahar Khodayari , auch bekannt als „Das blaue Mädchen“ schlich sich, wie viele andere Frauen als Mann verkleidet in die iranischen Fussballstadien, und wurde für diese „sündhafte Tat“ verhaftet und zu einer Haftstrafe verurteilt. Nach der Anhörung übergoss sie sich vor dem Gerichtsgebäude mit Benzin und zündete sich an. Sie starb eine Woche später im Krankenhaus. Erst im Oktober diesen Jahres durften Frauen erstmalig nach 40 Jahren wieder offiziell ein Fussballstadion betreten
  • Frauen wie die Rechtsanwältin Nasrin Sotudeh, die sich für die Rechte von Frauen und politisch Verfolgten stark machen, werden wegen „Propaganda gegen den Staat“ inhaftiert und mit Peitschenhieben bestraft. Sie sitzt derzeit im Evin-Gefängnis in Teheran eine Haftstrafe von 33 Jahren ab
  • Die 17-Jährige Nazanin Fatehi erstach im Jahr 2004 in Notwehr einen der drei Männer, die sie und ihre 15-Jährige Nichte vergewaltigen uns wurde hierfür 2006 zum Tod durch Erhängen verurteilt. Erst nach internationalem Protest, inklusive der UN, konnte 2007 ihre Freilassung gegen Zahlung eines „Blutgeldes“ erwirkt werden
  • Homosexuelle Handlungen werden im Iran bestraft– bei Männern sofort mit der Todesstrafe, bei Frauen zunächst mit 100 Peitschenhieben und bei der vierten Wiederholung ebenfalls mit der Todesstrafe. (siehe auch)
  • … Die Liste könnte wohl  endlos weitergeführt werden

Die aktuellen Proteste sind deshalb kaum überraschend geprägt von Rufen nach dem Sturz des „islamistischen Regimes“ und der Beendigung der fundamentalistischen Herrschaft.

Unter den Todesopfern sind auch Frauen. Die wenigen verfügbaren Videoaufnahmen zeigen uns, dass Frauen bei den Protesten aktiv mitmischen: So sehen wir eine Frau, die ein antiamerikanisches Banner vom Mast reißt mit den Worten „Unser Feind sind nicht die USA, unser Feind derzeit ist das Iranische Regime“. Oder eine Frau, die sich ihren verpflichtenden Hijab auf einer Brücke unter Applaus der Umstehenden vom Kopf reißt und ruft „Wir leiden seit nunmehr 40 Jahren“. Die Iranische Autorin Roya Hakakian schreibt auf Twitter „So sieht #MeToo im Iran aus: Frauen, die seit 40 Jahren unter der Geschlechter-Apartheid leiden, sind führend bei den #IranProtests“

Was erwarten die Menschen aus dem Iran nun von uns und der internationalen Community? Vor allem internationalen Druck auf das fundamentalistische Regime den Zugang zum Internet im Land wieder für alle herzustellen. Da die Menschen vor Ort derzeit keine Stimme haben, ist es essentiell, dass wir nicht wegschauen, sondern unsere Stimmen erheben. Das Regime muss nun endlich, nach 40 Jahren Tyrannei gegen seine Bevölkerung zur Rechenschaft gezogen werden. 

Algerien-Aufbruch oder Salafismus

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/e/eb/Algiers_harbor_1899.jpg

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/e/eb/Algiers_harbor_1899.jpg

Seit mehreren Wochen ist Algerien erwacht. Es finden Massendemonstrationen gegen des fünfte Mandat des Präsidenten Bouteflika statt. Die Wahlen sind am 18 April geplant. Allerdings wird ein Systemwechsel gefordert, nicht nur das Ende seiner Präsidentschaft.

Abdelaziz Bouteflika befindet sich im Universitätskrankenhaus in Genf und mittlerweile hat amüsanterweise eine Algerierin eine gesetzliche Betreuung für ihn in der Schweiz beantragt, da er nicht mehr für sich selbst entscheiden können soll.

Bisher waren die Proteste friedlich, aus Angst vor davor, dass Algerien eine ähnliche Entwicklung wie Libyen oder Syrien nehmen könnte (das Ausland will an die Buletten sozusagen, an das Erdöl und an das Gasvorkommen), und aus Angst vor der Zeit des “schwarzen Jahrzehntes” in den 90er Jahren.

Ab heute beginnt ein Generalstreik in ganz Algerien. Am 08. März demonstrierten Frauen, Kinder und Männer friedlich gemeinsam, was deutlich in den Medien betont wurde. Die Ferien der Universitäten wurden gestern um eine Woche vorgezogen und beginnen ab heute, da die Studenten und Studentinnen maßgeblich an den Protesten beteiligt waren und dies weiter verhindert werden soll. An den Universitäten liegt der Frauenanteil der Studierenden übrigens auch bei über der Hälfte (in den wissenschaftlichen Studiengängen bei 54 Prozent).

Algerien ist reich an Erdöl und Erdgas, mit engen Verbindungen zu Frankreich. Wenn Algerien zerfällt,  betrifft dies Europa nochmals mehr wie Syrien und Libyen.

Im Moment wirken die Proteste einheitlich und dies wird betont gefeiert, als “ein vereintes Algerien”, dass den Aufbruch geschafft hat zu einer neuen Zeit.

Aber ist es das wirklich, vereint?

Nein, Algerien ist nicht wirklich vereint und eine Spaltung im Land bestand schon länger. Was wird also passieren wenn der gemeinsame “Feind”, Bouteflika und die “Macht/das System” (le pouvoir) besiegt sein sollten?

Es ist eine spannende Zeit. Wird dafür optiert, die Kandidatur von Bouteflika doch zu beenden, aus gesundheitlichen Gründen um die “Macht” fortführen zu können? Wer wird das Machtvakuum füllen?

Vor Allem, wie sah die Situation im Land vorher aus?. Was wird im Augenblick durch die Proteste überdeckt? Jede Thematisierung eines eventuellen internen Konflikts in Algerien wird im Moment als Gefahr gesehen, auch wenn dieser Konflikt, insbesondere die Zunahme des Salafismus, vorher ein offenes Thema war.

Viele bezeichnen Algerien seit längerer Zeit als Tschkoupistan-eine Wortmischung aus Scheiße/Idiotisch und Afghanistan. Das liegt auch an der Zunahme des religiösen Extremismus, es bezieht sich deshalb ja auf Afghanistan. Der Salafismus  nahm zu ohne nennenswerten Widerstand des Staates. Und angesichts der Auswirkung auf Frauen und zunehmende salafistische Übergriffe auf Frauen, sind die Strukturen im Hintergrund dieser Entwicklung spannend, für Frauen, für uns.

In Algier, auf den Straßen, waren 2018 mehrheitlich nur dunkel verschleierte Frauen zu sehen. Dies war noch vor wenigen Jahren nicht der Fall; es waren nur vereinzelte Frauen dunkel verschleiert. Es gibt mittlerweile eine ganze Reihe von Geschäften die dunkle muslimische Kleidung bis hin zur Burka verkaufen. Unverschleierte Frauen sind im Straßenbild wirklich nicht mehr präsent. In der Kabylei, Heimat der Imazighen, Berber, nur wenige hundert Kilometer von der Hauptstadt Algier entfernt, zeigt sich ein völlig anderes Bild. Nur wenige Frauen tragen ein Kopftuch, und mehrheitlich werden bunte kabylische Kleider getragen.

Allerdings stellt auch das Tragen kabylischer Kleider eine Art Zwang für Frauen dar. Die eigene Identität als Imazighen muss durch die weibliche Kleidung Aufrecht erhalten werden. Männer tragen westliche Kleidung, auch wenn man sie im Winter teilweise noch Burnus tragen sieht.

Kabylen wurden durch Araber im siebten Jahrhundert besiegt, und ihre Kultur sozusagen kolonialisiert. Viele Kabylen wünschen sich immer noch häufig die Trennung des Staates von der Religion, einen “etat laic”. Der Hass auf alles arabische ist groß. Viele bezeichnen sich offen als Rassisten gegenüber Arabern.

Umgekehrt ist die Abwertung auch groß. Es wird gesagt, dass Kabylen nicht gläubig sind, da sie Alkohol trinken (was sie tun) und Wildschwein essen. In einem Museum in Algier zum Beispiel sieht man in einer Ausstellung Figuren in einem Dorf der Kabylei, wie sie Wildschwein rösten. Das ganze wird untermalt durch bestialischen Schinkengeruch, damit es auch jede/r wahrnimmt.

Männer in der Kabylei trinken tatsächlich Alkohol in Mengen (im Vergleich zu dem Rest Algeriens, und natürlich nicht alle Männer), was zwar gegen eine Islamisierung spricht, aber das knappe Familieneinkommen wird trotzdem für den Alkohol ausgegeben und den Frauen sozusagen entzogen. Frauen „dürfen“ keinen Alkohol trinken, sofern sie als einigermaßen respektabel gelten möchten. Da das Leben in dörflichen Gemeinschaften stattfindet, sind die Optionen zu anderem Handeln gering. Die soziale Kontrolle ist stark. Frauen werden im öffentlichen Raum nicht belästigt, da jeder jeden kennt. Oder um einen Bekannten zu zitieren ” Ich weiß nicht, was die Männer hier machen würden, wenn sie bei Belästigungen keine auf das Maul bekommen würden..”

Es gibt, sehr wenige, Diskotheken mit Alkoholausschank, Orte der Prostitution. Die Welt ist geteilt, Algier und die Bergregion der Kabylei. Ja, es gibt noch andere Teile Algeriens, aber die Bevölkerung lebt mehrheitlich im Norden des Landes und der Unterschied der “Welten” ist hier besonders groß.

Die Träume über eine matrifokale Kultur der BerberInnen liegen weit in der Vergangenheit, Jahrhunderte weit. Und auch die Tuareg, die dies noch eher bewahren konnten, kämpfen durch die Klimaveränderung nur noch um ihr nacktes Überleben.

Männer können, im Geheimen, trinken und prostituierte Frauen kaufen. Mädchen und Frauen suchen ihren Ausweg im Bereich Bildung. Die Studiengänge in Algerien sind mehrheitlich besetzt durch Frauen und sie erreichen auch schon vorher in viel höheren Zahlen das Äquivalent des Abiturs.

Was diese Entwicklung bringen wird, wird spannend. Jetzt schon wird von gebildeten Frauen und „Eseln“ auf der Straße (Männern) gesprochen, wenn es um diese Bildungskluft zwischen Männern und Frauen geht. Immer mehr Frauen, ob mit Kopftuch oder ohne, drücken ihre Aversion gegen Männer in den sozialen Netzwerken aus, beschimpfen Sie für sexuelle Übergriffe in Algerien und im Ausland. Die Begeisterung in den sozialen Netzwerken bei Übergriffen von Algeriern im Ausland ist immer groß…”die Affen ruinieren unseren Ruf auch noch in Europa, überall wo sie herumhängen”.

Salafistische Frauen stellen das andere Spektrum dar.

Der Organisationsgrad der religiös extremistischen Strukturen ist bemerkenswert und wird ebenso zunehmend in den sozialen Medien thematisiert.

Moscheen werden mit verschiedenen Methoden von salafistischen Imamen übernommen, die Stadtteile Draria, Hydra, Kouba etc in Algier gehören dazu. Ein Gläubiger berichtet davon, dass seine Schwester, die Kopftuch trägt, in der Moschee zum Freitagsgebet von anderen Frauen wegen ihrer Kleidung zurückgewiesen wurde, da sie nicht komplett verschleiert war und keine Burka trug.

Es wird davon gesprochen, dass Salafisten einen wahren Angriff auf Moscheen durchführen, die nicht der wahren Religionsauslegung folgen, sondern der algerischen Variante des Islam folgen.

Es wird von verschiedenen Methoden berichtet, die angewandt werden um die Kontrolle der Gesellschaft zu übernehmen, und die eigene Auslegung des Korans zu predigen. Imame berichten davon, dass ihnen zum Beispiel Geld geboten wurde, und sie schließlich mit körperlicher Gewalt bedroht wurden um Platz zu machen für Salafisten in ihren Moscheen.

Die Organisation der Salafisten ist extrem strukturiert und organisiert. Die einzelnen Teile des Landes sind in Regionen aufgeteilt, mit jeweils einem Verantwortlichen. Der Salafismus wird durch soziale Medien verbreitet und ebenso durch Fernsehkanäle, auf allen Ebenen. Professionelles Propagandamanagement sozusagen.

In den Moscheen wird eine unendliche Anzahl von Broschüren wahabistischen Inhalts verteilt. Die Broschüren werden überall ausgelegt, zwischen die ausliegenden Exemplare des Korans.

Es wird in den Broschüren zum Beispiel dazu aufgerufen nicht den Geburtstag des Propheten zu feiern, wie sonst üblich, denn dies sei eine Feierlichkeit Satans. Ebenso wird sich mit der möglichen Rocklänge von Frauenkleidern befasst, es wird verboten Musik zu hören, oder Photos zu machen. Sufismus wird auch als das Werk Satans angeprangert.

Die Beamte des algerischen Ministeriums für religiöse Angelegenheiten konfiszierten hunderttausende dieser Broschüren bei ihren Überprüfungen, die der „Reinigung“ der Moscheen von anderen Auslegungen des Islam dienen. Einige der Broschüren kommen aus Saudi- Arabien, andere haben keinen Hinweis auf die Herausgeber oder überhaupt den Ort der Druckerei.

Die Broschüren sind mittlerweile auch in Arztpraxen zu finden, in den Wartezimmern.

Die Salafisten versuchen größere Ansammlungen von Moscheen zu übernehmen. Sie bieten freiwillig ihre Hilfe an um sich leicht Zugang zu verschaffen.

Die Kabylei und der Süden des Landes wurden angeblich als Orte des Djihad gegen die Häretiker erklärt.

In einigen Orten in der Kabylei wurden die Kontrolle über Moscheen schon durch Salafisten übernommen, laut einer Quelle sind 8 von 10 Moscheen schon in der Hand der Salafisten. Die Kabylei hat die größte Konzentration von Moscheen im gesamten Land, so dass das Ministerium für religiöse Angelegenheiten nicht alle Imamstellen besetzen kann. Die Situation ist insgesamt bekannt. Kabylen selbst sagen, dass die Kabylei ein Unruheherd sei und deshalb versucht wird durch Moscheen über Religion die Kontrolle zu bekommen.

Der algerische Unabhängigkeitskrieg hatte auch seinen Ursprung in der Kabylei und die Kultur hat, wie gesagt, viele Stimmen, die Säkularismus als Staatsform fordern.

Kabylische Medien sind einfach zu lesen, da sie in der Regel in Französisch veröffentlicht werden. Arabisch ist in diesem Teil des Landes verpönt, auch wenn es jede/r spricht, wenn notwendig. Eine kulturelle Spaltung, die sich durch den Salafismus bis über die Schmerzgrenze hinaus verstärken kann.

Aber auch in der Kabylei sind die Moscheen zur Freitagspredigt voll, sehr viel voller wie vor Jahrzehnten. Die Predigten werden, netterweise, über Lautsprecher verbreitet, so dass es kein Entkommen gibt. Durch die große Anzahl der Moscheen hört man die Predigt der nächsten Moschee, wenn man sich von einer Moschee räumlich entfernt hat und diese leiser wird. Dies war wahrscheinlich der Traum eines jeden Dorfpfarrers vor Jahrzehnten-die Predigt direkt nach draußen schallen zu lassen…

Einige der Moscheen, mit unklarer Finanzierungsquelle, sind größer wie das ganze Dorf. Teilweise schürt sich Widerstand gegen neue Konstruktionen in der Bevölkerung der Kabylei. Vor kurzem wurde in einem Ort in der Kabylei mit Gewalt gedroht, sollte ein weiterer geplanter Moscheebau durchgeführt werden.

In der Kabylei wird davon berichtet, dass viele Salafisten nicht aus der Region kommen, sondern aus Algier oder Blida.

Die Kabylei und der Süden des Landes sind „sensible Orte“. Wenn der Salafismus hier weiter zunimmt, werden religiöse Konflikte geschaffen und einige gehen davon aus, dass dies geplant ist, von wem auch immer. Die Salafisten kommen nicht in den Süden oder in die Kabylei um Urlaub zu machen, so schön es dort ist, sondern verfolgen eine andere Agenda.

Vor einigen Jahren hat der Saudi-arabische Prinz Mohammed Ben Salmane in Zeitungsberichten behauptet, dass die Förderung des Wahabismus in anderen arabischen Ländern von amerikanischen und anderen Verbündeten vor Jahrzehnten gefordert wurde, um im kalten Krieg die Einflussnahme der Soviet Union auf arabische Länder zu verhindern und durch Religion selbst mehr Einfluss nehmen zu können. Eine wirklich spannende Idee, geostrategisch gedacht, vielleicht auch heute noch.

Seit einiger Zeit wird sich in Deutschland politisch und medial auf die Türkei konzentriert, aber was ist mit Saudi- Arabien angesichts der übergreifenden Einflussnahme? Ist dies nicht viel interessanter? Sollten wir nicht eher auf Saudi-Arabien achten?

Saudi-Arabien hat über Wohlfahrtsorganisationen (islamische Weltliga, Islamic Relief Organisation), schon im Kosovo, in Bosnien und in Albanien Moscheen und Imame finanziert, unter anderem.

Vorfälle im Kontext wahabitischer Gruppen gibt es seit den 90er Jahren vermehrt; hunderte von Kosovoalbanern sind dem Djihad im mittleren Osten beigetreten. In Libyen wurden salafistische Gruppierungen gegen Ghaddafi auch mit Geld überhäuft, mit Geld aus Saudi-Arabien.

2018 gab es über 100 Köpfungen in Saudi-Arabien. Eine der bekanntesten Tötungen war die der Menschenrechtsaktivistin Esra Al Ghamgam am 20 August 2018. Das Schweigen der internationalen Medien und der Politik hierzu war bemerkenswert. Es gab keinen Aufschrei, nichts.

Es gab ein paar Diskussionen in Europa auf politischer Ebene angesichts der Kriegsführung im Jemen und deutscher Waffenlieferungen an Saudi-Arabien. Das war es aber auch schon.

Wieso interessiert sich der Westen nicht wirklich für Saudi- Arabien, auch angesichts des „Überschwappens“ des Salafismus in den Westen?  Die Übernahme der Definitionsmacht des Islams mit der strengen Auslegung des Wahabismus, der alle, die dieser Auslegung nicht folgen, zu Ungläubigen erklärt ist bedenklich. Dies erinnert irgendwie an den IS, denn die Rigidität des Glaubens ist ähnlich, irgendwie.

Und natürlich, wieso interessiert sich niemand für Saudi-Arabien und die wahabistische Auslegung der Frauenrolle, die plötzlich zu einer islamischen Rolle umdefiniert wurde. War nicht die Rolle der Frau in Afghanistan so wichtig für den Westen im Kampf gegen die Taliban? Fragen über Fragen.

Man mag sich fragen, welchen Europäer sollte es interessieren, wenn Algerien im Bürgerkrieg endet. Wer interessiert sich überhaupt für Algerien, das Land der Bakterien und 2018 der Cholera? Algerien hat eine Bevölkerung von 40 Millionen Menschen, von denen schon im Augenblick viele ihre Lebenssituation als so unerträglich finden, dass sie davon träumen „Harraga“ zu machen, das heißt ihr Leben mit einem „Glücksboot“ (Glück in Bezug auf am Leben zu bleiben) zu riskieren und über das Meer nach Europa zu fahren. Die Entfernung zu Europa ist nicht wirklich unüberbrückbar, wenn man den Tod in Kauf nimmt.

Sollte es durch die Islamisierung und Spaltung der Gesellschaft zu einem Bürgerkrieg kommen, nach den Demonstrationen der letzten Wochen,  oder zu einer Situation wie im „schwarzen Jahrzehnt“ in den 90er Jahren, als Menschen durch Terror ermordet wurden und Ausgangssperre herrschte, wird der Flüchtlingsstrom ein neues Ausmaß annehmen.

Insbesondere aber Frauen werden im Patriarchat des Wahabismus zu Grunde gehen, und sich für die Anpassung durch religiöse Unterwerfung entscheiden müssen. Vielleicht schafft Algerien aber auch den Weg zu einem neuen System, dass Staat und Religion trennt, da die Angst vor einem völligen Bürgerkrieg eine wahabistische Übernahme unmöglich machen könnte. Die Angst vor der “fremden Hand” ( “la main etrangere”), den ausländischen Geheimdiensten, ist ebenso groß. Es bleibt spannend in den nächsten Wochen und Monaten.