Wenn man mit Krankheit kein vollwertiger Mensch mehr ist – Über den traurigen Zustand unserer Gesellschaft

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Public Domain (Pixabay)

Vorgestern postete die Süddeutsche Zeitung über einen Mittvierziger und seinen Umgang mit dem Alzheimer seiner inzwischen verstorbenen Ehefrau. Der Artikel stammt eigentlich schon aus dem März, er wurde den LeserInnen als eine der „Lieblingsgeschichten der Redaktion“ erneut ins Gedächtnis gebracht. Über den Fall gibt es auch eine Dokumentation. Die Darstellung des Falls und die Kommentierung lassen mich verstört zurück.

Autor Lars Langenau schildert die Geschichte einer Frau, die an Alzheimer litt. Yvonne H. war 31 als sich die ersten Hinweise auf die Erkrankung zeigten – im Alter von 46  Jahren starb sie.
Wir erfahren, dass um das Jahr 2000 herum Yvonne H. aufgrund der (da noch nicht diagnostizierten) Krankheit nicht mehr alles so hinbekam wie zuvor, was zu Streit mit ihrem Mann führte. Dadurch habe sie, der Darstellung zufolge, gemerkt „dass sie keine gleichberechtigte Partnerin mehr war.“ Auf der Arbeit bekam sie schlechte Beurteilungen, bei Zusammentreffen mit Freunden erzählt sie öfter mal die gleichen Geschichten, was Mann und Freunde vor eine Herausforderung stellten ihr gegenüber mit Taktgefühl umzugehen. Dies klingt nicht nach einem Umfeld welches erkennt, dass vielleicht eine Krankheit vorliegen könnte.

Die arg gebeutelte Yvonne musste sich dann auch noch zwei schwerzen Herzoperationen unterziehen. „Es erwachte eine andere Yvonne“ heißt es hier. Erschüttert muss man lesen: „Aber sie hatte plötzlich eine neue Ausrede: Klar, wenn man zweimal innerhalb kurze Zeit in Narkose versetzt wird, dann brauche man ein Jahr, um wieder voll da zu sein.“ – Moment! Was wurde denn hier Menschenunmögliches von ihr erwartet? Dass sie vom OP-Tisch aufspringt und von Jetzt auf Gleich, zack zack, „die Alte“ ist? Was für Vorstellungen herrschen denn da bitte?
2010 dann die Alzheimer-Diagnose, Yvonne ist nun 42 und kann schon nicht mehr alleine schreiben. Wie schrecklich muss es für sie gewesen sein 10 Jahre lang für all das verantwortlich gemacht worden zu sein, was aufgrund ihrer unentdeckten Krankheit nicht mehr so wie von ihr erwartet funktionierte.

Der Ehemann bringt sie in einer Tageseinrichtung unter, wo sie jedoch nicht dauerhaft bleiben kann.

Nachdem dieser Versuch die vermeintlich geliebte Partnerin in eine Einrichtung abzuschieben also gescheitert war, wird sie zuhause weiter geflegt. Zur Motivation erfahren wir: „Yvonne und ich hatten eine geile (sic!)  Zeit – und ich war es ihr einfach schuldig, sie zu Hause zu pflegen“ – Soso also. Das muss dieses Ding namens Liebe sein von dem immer alle sprechen.  Die Pflege zu Hause sei übrigens nur möglich gewesen aufgrund eines „breiten helfenden Umfelds“ – herzlichen Glückwunsch, das haben viele Menschen, die ihre Liebsten pflegen nicht. Nun erfahren wir aber mehr darüber: Der Ehemann erklärt „er sei kein Heiliger gewesen“, ging aber nicht einfach nur fremd (was schon schlimm genug gewesen wäre), sondern quartierte eine Freundin samt ihrer zwei Söhne in der gemeinsamen Wohnung ein und begann mit ihr „mit der Zeit“ eine Liebesbeziehung. Die Ersatzfrau, die er „auf einer anderen Ebene“ liebt als Yvonne darf dann gleich einen Teil der Pflege mit übernehmen: „Patchwork vom Allerfeinsten“ nennt er das.

Wir müssen lesen:
„Sandra und ich haben unsere Liebe nie vor Yvonne gezeigt, aber sie mag es wohl geahnt haben. In hellen Momenten kam es mir vor, als wisse sie, dass ich mit Sandra weiterleben werde, wenn sie nicht mehr ist. Zu einem Arbeitskollegen soll sie sich dazu auch positiv dazu geäußert haben. Aber zwischen Yvonne und mir war das Thema tabu.“
Ja meint er denn Menschen mit Alzheimer sind blöd? Natürlich hat sie das gemerkt. Hallo? Die Geliebte lebte mit in der GLEICHEN WOHNUNG!  Wie kann man nur so ignorant sein zu glauben, dass das irgendwie an ihr vorbei gegangen sein könnte?

Aber damit nicht genug: „Einen Alzheimerkranken allein zu pflegen, daran geht man kaputt“, sagt er der Ehemann, und da es offenbar für ihn auch mit Zweitfrau nicht zu schaffen war, musste dann auch noch eine Pflegekraft aus Rumänien her. Bekannt ist, dass Pflegekräfte aus Osteuropa sehr begehrt sind, weil sie günstig sind und gleich noch (wie hier) mit im Haus wohnen und damit in aller Regel rund um die Uhr verfügbar. Deshalb sprechen einige von diesen (oft mafiös organisierten) Strukturen als Privatsklaverei.

Es gibt Tausende von Menschen, überwiegend Frauen aber auch Männer, die selbst im eigenen hohen Alter noch ihre Liebsten über Jahrzehnte hinweg aufopferungsvoll pflegen. Wie muss sich dies in deren Ohren anhören? Und nein, ich glaube nicht, dass es ein Spaziergang ist eine/n Angehörige/n zu pflegen. Ich habe Fälle in meiner eigenen Familie und weiß wovon wir sprechen.
Zusammenfassung: Ein Mann geht mit einer „schonungslosen“ Offenheit in die Öffentlichkeit und erzählt wie er quasi an allen Fronten mit der Pflege seiner kranken Frau gescheitert ist. Summa sumarum war sie rund vier Jahre pflegebedürftig, von der sie mindestens ein halbes Jahr in einer Pflegeeinrichtung verbrachte und eine ganze Zeit neben ihm, von der Geliebten und einer rumänischen Pflegekraft gepflegt wurde.

Wir lernen: Manche Männer lagern offensichtlich ihre Verantwortung für die Pflege von erkrankten Ehepartnerinnen bei anderen Frauen ab, statt dieser selbst nachzukommen. Auch nach 20 „geilen“ Jahren sind 4 Jahre Kümmern für diesen Mann offenbar nicht zumutbar. Traurig. Da hofft man wirklich, dass das Fundament der Liebe in anderen Fällen ein bisschen dicker konstruiert ist.
Statt sich in eine Ecke zu stellen und zu schämen hat dieser Mann also noch die Dreistigkeit seinen Verrat und sein Beziehungs-Versagen in die Welt zu posaunen, inklusive intimster Details über seine verstorbene Ehefrau (Stichwort Windeln etc. / Dokumentation). Dies ist extrem übergriffig und ethisch verwerflich, da sie dazu kein Einverständnis hat geben können.
Man könnte hier einen Schlusspunkt machen, wenn die Reaktionen auf diesen Artikel nicht mindestens genauso erschütternd gewesen wären. Während es allenthalben an (gesellschaftlicher und materieller) Anerkennung für die ganze, zumeist von Frauen geleistete, Erziehungs- und Pflegearbeit von Frauen mangelt, hagelt es in der Facebook-Diskussion bei der Süddeutschen für diesen Mann Respekt.

„Hochachtung vor diesem Mann“ – „Hut ab was der Mann getan hat, macht nicht jeder. Aber das ist LIEBE“ – „Ich wünsch diesem tollen Mann alles Gute und hoffentlich irgendwann wieder eine Frau und liebevolle Mutter für seinen Sohn!“ – „meinen absoluten Respekt vor dem Mann und der Familie „

Als ich anfing den Artikel zu kommentieren, gab es nicht EIN EINZIGES kritisches Wort. Zum Glück zogene dann jedoch schnell andere nach (was wieder zeigt wie wichtig es ist die Stimme zu erheben).
Aus den daraus entstehenden Diskussionen wurde ein erschütterndes Bild deutlich:

1) Eine erstaunliche Auffassung von Frauen, dass Liebe bedeutet, dass man den Partner frei gibt wenn man nicht mehr funktioniert

„Jeder Mensch der liebt lässt seinen Geliebten Menschen sein Glück finden wenn er bald gehen wird.“

„Ich würde mich schlecht fühlen und das Gefühl haben den Liebsten etwas vorzuenthalten oder zu nehmen wenn ich ihm verbiete eine neue Frau zu finden.“

„Ein toller Mann. Es freut mich für ihn, dass er sich nicht komplett aufgeopfert hat, sondern den Mut hatte, auch an sich selbst zu denken und eine Liebesbeziehung zu beginnen, weil ja absehbar war, dass seine Frau sterben wird. Alzheimer ist kein Krebs und kann nicht besiegt werden, insofern ist das ein Tod mit Ansage und 100%iger Wahrscheinlichkeit.“

2) Ein Anspruchsdenken auf Sex und wenn die Frau dazu nicht zur Verfügung steht, dann muss woanders kompensiert werden

„Liebe hat etwas mit geben und nehmen zu tun. Wenn ich tot krank wäre würde ich meinen Partner es zugestehen das er glücklich bleibt und leben kann ! Ein anderes Beispiel: ich sitze im Rollstuhl. Kann kein Sex mehr ausüben – muss mein Partner dann auch auf Sex verzichten, weil ich nicht mehr kann? Ist das Liebe? Oder ist es Liebe zu sagen: leb dein Leben und ich freue mich das Du trotzdem an meiner Seite bleibst ! […] Liebe heißt nicht, sich selbst zu verlieren und sein eigenes „Todesurteil“ zu unterschreiben, nur weil der Partner erkrankt ist.“

„glauben Sie der Patientin und der ganzen Familie wäre damit gedient gewesen wenn er statt dessen heimlich zu den Nutten gegangen wäre? Wenn Sie nicht mehr in der Lage wären eine sexuelle Verbindung zu Ihrem Partner zu pflegen, würden Sie ihn dazu nötigen wollen komplett auf Sex zu verzichten?“

Auf den Einwand „Es gibt kein Recht auf Sex am lebenden Objekt, auch nicht wenn die Partnerin krank ist und nicht zur Verfügung steht.“ wurde geantwortet:

„Steht das in der Bibel? Im Koran? Oder in sonst irgendeiner alten Schrift? Oder im Grundgesetz? Oder wo holen Sie das her? Sexualität ist (zumindest für mich) weit mehr als 30 Sekunden ‚Höhepunkt‘ … es ist auch und gerade die Zärtlichkeit mit und die Nähe zum anderen Menschen. Diese Nähe & Zärtlichkeit brauchen wir alle … auch und gerade in Zeiten großer Belastung“

Das prostituierte Frauen das was ihnen angetan wird nicht als „Nähe & Zärtlichkeit“ ansehen, sondern als traumatische emotionale Belastung interessiert natürlich nicht. Auch nicht, dass dies ein sehr merkwürdiges Verständnis von Liebe, Nähe und Zärtlichkeit ist. Es zählt offenbar nur Selbstverwirklichung und Egotrip, die jedem (Mann) unter allen Umständen zu ermöglichen sind.

Die offensichtliche Verbreitung dieser Positionen ist erschütternd. Da bleibt es vielen Menschen nur zu hoffen, dass sie niemals krank werden und auf die Pflege solcher „Liebes“-Partner angewiesen sind…

4 Kommentare

  1. Dazu gibt es viel zu sagen… einen alzheimerkranken Angehörigen allein zu pflegen, ist für niemanden möglich, auch nicht für Frauen. Die Freundin mit in die Wohnung einziehen zu lassen ist das Letzte, natürlich wird die Kranke dies wahrnehmen, was für sie unerträglich sein dürfte. Sich also Hilfe bei der Pflege zu holen ist sicherlich unabdingbar, wenn man die Heimunterbringung verhindern will, vor allem wenn der /die PartnerIn noch voll berufstätig ist- wie soll das sonst gehen?Auch wenn keine Berufstätigkeit da ist, ist das nicht allein zu schaffen, jedenfalls nicht im Endstadium.
    ich persönlich würde mir als kranke auch nicht gern von meinen Angehörigen den hintern abwischen lassen und es begrüßen, wenn eine professionelle Pflegekraft das tun könnte, was aber sicher nicht bedeutet, osteuropäische Frauen auszubeuten, sondern dass sich Angehörige mit ihr die Arbeit z.B. teilen und sie auch ordentlich bezahlen. Ich würde es begrüssen, wenn z.B. eine Freundin, die aus Polen stammt, selbst und ohne Zwischenschaltung einer (möglicherweise mafiösen)Organisation dann ein solche Pflegekraft im Land finden würde. Dafür u.a. habe ich eine Versicherung abgeschlossen und Geld zurückgelegt.
    Dass nach Jahren irgendwann auch ein/e andere/r Partner/in da ist, ist auch normal und nicht verwerflich, auch übrigens für Frauen. Man muss es dem/der Kranken aber nicht vorführen, das ist in der Tat vollkommen gefühllos und rücksichtslos. Die Sache mit der „geilen Zeit“ spricht aber sicher dafür, dass dieser Mann, der sich offenbar auch noch dafür feiern läßt, nicht wirklich weiß, was Beziehung ist.

  2. Ich fand den Artikel im März auch schon zum Kotzen. Vor allem das mit der zukünftigen Frau. Das ist an Perversion nicht zu überbieten. Die Reaktionen habe ich nicht gelesen, kann mir aber vorstellen, dass diese Haltung immer noch bei vielen verbreitet ist und weitergegeben wird (Mädel, stell‘ deinen Partner zufrieden, sonst geht er zur Professionellen oder worst case: er verlässt dich).

  3. Es mag sein, dass einiges am Verhalten des Mannes zu kritisieren ist.
    Ich habe aber den Eindruck, dass die Autorin hier keine Ahnung hat, was es Bedeutet einen Angehörigen mit Alzheimer zu haben. Ein Fall in der eigenen Familie erlebt und wie hier alles auf pratriarchale Strukturen zu reduzieren wird der Sache nicht gerecht.

  4. Mich hätten die Reaktionen interessiert, wenn exakt dieser Artikel von einer Frau geschrieben worden wäre, wie sie mit ihrem Neuen in die gemeinsame Wohnung zieht und der dann den Mann pflegt… das wäre in der Kommentarspalte ein „lustiges“ Spektakel geworden. Sowohl von männlichen als auch patriarchatshypnotisierten weiblichen Kommentator*innen. Garantiert!

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