Offener Brief gegen die sprachliche Verharmlosung sexueller Gewalt

Im vergangenen August erschien das Buch „Vergewaltigung“ der Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal.

Darin kritisiert sie, dass die gesellschaftliche Beschäftigung mit dem Thema sexuelle Gewalt innerhalb bestimmter Grenzlinien verlaufe.

„Im Vergewaltigungsskript gibt es nur zwei Geschlechter: Täter und Opfer. Wer Vergewaltigung sagt, denkt an aggressive Männer und ängstliche Frauen, an Penisse als Waffen und Vaginas als ungeschützte Einfallstore in ebenso ungeschützte Körper; oder weniger martialisch: an Männer, die meinen, »ein Recht« auf Frauenkörper zu haben.“ (Quelle: Edition Nautilus)

Das will Mithu Sanyal so nicht akzeptieren. Der „Opferdiskurs“ soll aufgebrochen werden, Opfer sollen sich nicht länger Opfer oder Überlebende nennen, sondern vielmehr „Erlebende“, wie sie jüngst in einem Artikel in der taz forderte.

Sprache strukturiert unser Denken. Wie wir etwas benennen, entscheidet darüber, wie wir es beurteilen. Opfer sexueller Gewalt zu „Erlebenden“ zu machen, lässt die Gewalt aus dem Sprachgebrauch verschwinden, die Tat und die Täter und bis nur noch die Betroffenen übrig sind, die sich selbst nun auch nicht mehr „Opfer“ nennen sollen, weil sie das degradiert. Hier sitzt Mithu Sanyal einem Irrtum auf. Es ist nicht der Opferdiskurs, der Opfer degradiert. Es ist die Tat, die aus Menschen Opfer macht, es sind die Täter, nicht die Selbstbeschreibung. Keine noch so euphemistische Umdeutung kann die Tat für ein Opfer ungeschehen machen – sehr wohl aber für den Rest der Gesellschaft – wie außerordentlich praktisch!

Zahlreiche Überlebende sexueller Gewalt und Organisationen, die sich gegen sexuelle Gewalt engagieren, weisen diese Umdeutung und Verharmlosung sexueller Gewalt entschieden zurück. Wir fordern die Medien, die Mithu Sanyal seit Erscheinen ihres Buches immer wieder ein Forum als angebliche „Expertin“ zum Thema geben auf, sich klar zu Gewalt gegen Frauen zu positionieren.

Sexuelle Gewalt ist kein Erlebnis. Sexuelle Gewalt ist eine Tat, vorrangig begangen von Männern an Frauen und Kindern. Von Erlebenden zu sprechen, bedeutet, die Tat selbst euphemistisch zum Erlebnis umzudeuten, ähnlich einem Konzertbesuch oder einem Urlaub. Opfer entscheiden nicht selbst, ob sie Opfer werden, es ist gerade Ausdruck des Gewaltverhältnisses, dass das Handeln der Täter sie zum Opfer macht. Sich als solche zu benennen, heißt, die Täter sichtbar zu machen, jene zu benennen, die die Entscheidung treffen, ein anderes Leben mit Gewalt zu überschatten. Viele Opfer wählen für sich den Begriff „Überlebende“, damit wollen sie zum Ausdruck bringen, dass sie überlebt haben, es ist ein stärkender, ein machtvoller Begriff, der weder Tat noch Täter unsichtbar macht. „Erlebende“ hingegen macht Tat und Täter unsichtbar und rückt nur die individuelle Ebene in den Vordergrund, wirft alle Verantwortung auf die Betroffenen zurück. Es degradiert die dieser Gewalt ausgesetzten Frauen zu beiläufigen Zeuginnen. Wenn sie nur aufhören, sich als Opfer zu fühlen, dann sind sie auch keine mehr. Damit entbindet sich die Gesellschaft ihrer Verantwortung für diese Opfer (rund 20 Frauen pro Tag zeigen eine Vergewaltigung an) und macht die Taten und die Täter unsichtbar. Angesichts der katastrophalen Zahlen von Verurteilungen von Vergewaltigern ist eine solche Euphemisierung nicht nur moralisch untragbar, sie bedeutet auch eine Mitschuld daran, sexuelle Gewalt zu einem individuellen und nicht mehr gesellschaftlichen Problem zu machen.

Sexuelle Gewalt ist ein patriarchal strukturiertes Verbrechen. Sie ist Ausdruck des Missverhältnisses zwischen Männern und Frauen, der nach wie vor allgegenwärtigen Benachteiligung von Frauen, ein Verbrechen, das zutiefst geschlechtlich strukturiert ist. Nur wer ihr den Kampf ansagt, kann die Gleichberechtigung von Mann und Frau ernst meinen, nur wenn sie als allgemeines, gesellschaftliches Problem erkannt und bekämpft wird, können wir sie überwinden. Sexuelle Gewalt ist kein individuelles Erlebnis, sondern ein gesellschaftliches Problem und eine patriarchale Strategie. Ein Blick in die öffentliche Debatte seit dem Erscheinen von Sanyals Buch zeigt aber eine gegenteilige Entwicklung. Es scheint fast, als sei man erleichtert, dass Sanyal dort, wo die Gesellschaft seit Jahrzehnten scheitert, endlich zumindest sprachlich einen Ausweg bietet – gefeiert in der taz mit: „Doch keine Sorge, es gibt eine Lösung!“. Die Freude darüber ist groß:

„Mithu Sanyal bringt Aufklärung in einen irrationalen Diskurs, faktenreich, objektiv und plausibel“

schreibt Eva Thöne für SPIEGEL ONLINE. Ein irrationaler Diskurs? Was an einer Vergewaltigung ist rational? Eine klare Analyse wäre: männliches Anspruchsdenken. Doch davon redet Sanyal nicht. Im Gegenteil. Sie vermutet hinter dem Widerstand gegen Vergewaltigung Prüderie und eine gouvernantenhafte Agenda einiger Feministinnen, die Penisse per se bedrohlich finden.

Damit lenkt sie ganz geschickt das Augenmerk weg von der Tat und rückt die Opfer statt der Täter in das Scheinwerferlicht.

Das wollen wir nicht zulassen. Vergewaltigung ist eine Tat, die dadurch gekennzeichnet ist, dass das Opfer eben keine Wahl hat. Da verschafft sich ein Fremder mittels Gewalt Zugang zu einem anderen Körper und eine ganze Gesellschaft schützt und entlastet ihn mittels „Vergewaltigungswitzen“, Relativierung, Victimblaming und Einschüchterung. Vergewaltigung ist in Deutschland ein nahezu straffreies Verbrechen. Welche Antwort darauf wäre „rational“? Eine, die den Status Quo als fortschrittlich umdeutet, die „Täter auf Menschenmaß stutzt“ (Pieke Biermann, Deutschlandradio Kultur)? Genau das macht Mithu Sanyal. Sie formuliert Vergewaltigung als ein zufälliges, individuelles Erlebnis, das Männer wie Frauen trifft, und gegen das kein Kraut gewachsen ist, ähnlich wie die Herbstgrippe. Statt die Ursachen zu kritisieren, statt an die Wurzel zu gehen, betreibt sie Kosmetik. Die Opfer sollen sich „selbst ermächtigen“ statt die Täter und die sie stützende Gesellschaft in die Verantwortung zu nehmen. Diese Haltung ist ein zynischer Backlash gegen die seit Jahrzehnten andauernde Bemühung von Frauenrechtlerinnen, sexuelle Gewalt sichtbar zu machen und an den Pranger zu stellen. Wir verlangen von verantwortlich denkenden Medien eine Haltung, die Opfer ernst nimmt und ihnen nicht erneut durch sprachliche Umdeutung Gewalt antut. Davon sind wir, angesichts des Hypes um Mithu Sanyal und ihre Position weit entfernt. Jedes Interview mit ihr, jeder Artikel  von ihr ist ein Schlag in das Gesicht vieler Überlebender und der Organisationen, die sie unterstützen.

Als Überlebende sexueller Gewalt und ihre Unterstützerinnen lehnen wir die mediale Dauerpräsenz Mithu Sanyals  und ihre sprachliche Verharmlosung sexueller Gewalt ab. Wir lehnen es ab, „Erlebende“ genannt zu werden, wir fordern, dass man uns die sprachliche Selbstbestimmung darüber lässt, was uns angetan wurde. Wir sind Überlebende. Wir sind Opfer. Sexuelle Gewalt ist kein Erlebnis. Sexuelle Gewalt ist ein Verbrechen.

Mitunterzeichnerinnen wenden sich bitte an stoerenfriedas@googlemail.com

Erstunterzeichnerinnen (Unterstützerinnen und/oder Überlebende):

Mira Sigel, die Störenfriedas
Hanna Dahlberg, die Störenfriedas
Anneli Borchert, die Störenfriedas
Anna Hoheide, die Störenfriedas
Judith März, die Störenfriedas
Ariane Panther, die Störenfriedas
Eva Bachmann, die Störenfriedas
Svenja Pfeiffer, die Störenfriedas
Dr. Inge Kleine, #ichhabnichtangezeigt
Daniela Weber #ichhabnichtangezeigt
Christa Stolle, Bundesgeschäftsführerin Terre des Femmes
Solveig Senft, Terre des Femmes
Eva Buchholz, Politikwissenschaftlerin, Terre des Femmes
Inge Bell, Terre des Femmes, Solwodi e.V.
Karen Ehlers, #RotlichtAus
Anita Kienesberger, Stopp Sexkauf Österreich
Dr. Ingeborg Kraus, Fachtherapeutin in Psychotraumatologie, Initiatorin des Appells der deutschen Traumatherapeuten gegen Prostitution
Heidemarie Boscher, Systemische Sexualtherapeutin
Caroline Schenkenbach, Psychoanalytikerin
Bärbel Rockstroh, Vitarium – Praxis für Coaching und ganzheitliche Psychotherapie
Sebastian Rockstroh, Vitarium – Praxis für Coaching und ganzheitliche Psychotherapie
Cathrin Schauer-Kelpin, KARO e.V.
Marie Merklinger, SPACE Intl.
Yvonne Smidt, Terre des Femmes, Abolition 2014
Carolin Werner, Abolition 2014
Manuela Schon, Abolition 2014, Initiative für Gerechtigkeit bei sexueller Gewalt
Corina Haurová, Initiative für Gerechtigkeit bei sexueller Gewalt
Gunhild Mewes, Initiative für Gerechtigkeit bei sexueller Gewalt
Annika Kleist, Sisters e.V.
Annina Meinlschmidt, Sisters e.V.
Klara Martens, FEMEN Germany
Birte Lühr, One Bilion Rising Hamburg
Christine Verselis, One Billion Rising Hamburg
Margot Müller, Bundessprecherinnenrunde Feministische Partei DIE FRAUEN
Sabine Scherbaum, Bundessprecherinnenrunde Feministische Partei DIE FRAUEN
Adelheid Wohlfart, Bundessprecherinnenrunde Feministische Partei DIE FRAUEN
Birgit Knaus, Feministische Partei DIE FRAUEN
Yasemin Ceylan, Feministische Partei DIE FRAUEN
Huschke Mau, Feministische Partei DIE FRAUEN
Marion Morassi, Sprecherin der BAG LISA (DIE LINKE)
Jeannette Hollmann, Verkehrsplanerin Köln A.D., SPD Mönchengladbach
Dr. Anita Heiliger, Soziologin Frauen- und Geschlechterforschung/Gewaltprävention
SARAH Kulturzentrum für Frauen
Birgit Gärtner, Publizistin
Juliane Beer, Autorin und Aktivistin für ein weltweites bedingungsloses Grundeinkommen
Sarah Rubal, Autorin
Verena Brunschweiger, Autorin
Gabriele Uhlmann, Autorin
Klara Zösmayr, Bloggerin
Redaktion Kritische Perspektive
Christine Ullmann, Autorin beim Onlinemag Szenelesbe
Claudia Lohmann, Rotes Zelt Braunschweiger Land
Rona Duwe, Phönix-Frauen
Wilma Liberta
Eva Lamparter
Britta Götzinger
Ingrid Aigner
Anne Spiegelberg
Yvonne Nüsken
Julika Martel
Lydia Wrobel
Gisela Jacobshagen
Corinna Weber
Rosanna Schafheitle
Dominique Bediako
Heidi Rohrmoser, bildende Künstlerin, Wien
Almut Riese
Belinda Göres
Jasmin Hutter
Christin Tomaszewski
Jasmina Krauss
Sylvia Genzmer
Rahel Vono
Mukadder Bauer
Natalia Draber
Dr. Marina Krug
Alexandra Preußner
Connie Tils
Michaela Lau
Gudrun Lindscheid
Ann-Katrin Müller
Susann Schmidt
Astrid Manthey
Dorette Wesemann
Shiva Yamini-Aiff
Una Steiner
Patrizia Schanz
Eva Bäck
Linda Unger
Anke Korbinsky
Franziska Baumgaertner
Hannah Kassimi
Liane Timmermann
Leila Bauer-Oesker
Elke Hölzer
Martina Goldmann
Andrea Schaaf
Donate McIntosh
Irmgard Rosemarie Leibl
Tina Weil
Sylvia Nitsche
Saskia Epler
Gabriele Mahler
Nadya Belli
Nadja Hempel
Ainca Kira
Anninka Enseroth
Hamida Deverall
Brigitte Köppel-Mutz (Brigitte Naporra)
Petra Witt
Corinna Behrens
Yael Schlichting
Frank Gommert
Alexandra Stalzer
Gaby Scheffler-Schulz
Nadja Schuler-Frey
Julia Bernasko
Sabine Hofmann
Eva Bruschek
Diana Aman
Sabrina Stolzenberg
Bettina L. Engelhardt
Katharina Winterhalder
Julia Bernasko
Vanessa Mohnke
Antje Dahm
Stefanie Tietz
Corinna Behrens
Lela Lemken
Gaby Merks
Inge Krug
Sabine Hofmann
Eva Maria Horstick
Sabine Krüger
Birgit Garling
Madeleine Heitmann
Anette Lauerer-Schmorleitz
Alexandra Stalzer
Alexandra Lange
Christel Buchinger
Thomas Hohnerlein-Buchinger
Ju Baxter
Diana Ko
Petra Brandt
Nicole Schmidt
Cordula Brockmann, Hebamme
Sandra Reitz
Maria Wendeler
Florence Humbert
Sabine Ehrensperger
Daniela Neubert
Stephanie Siegrist
Christina Mundlos
Uta Rotermund
Ingrid Keilbach
Dagmar Trüpschuch
Lea Kannetzky
Freddy Ossenberg
Peter Herold
John Strieder
Kai-Uwe Bevc
Claudia Mayr
Vik Roth, Lesbe und Langzeitaktivistin
Ronja Hackmann
Nabila Ibrahim
Claudia Eser-Schuberth, Kommunalpolitikerin Bündnis 90/Die Grünen, Friedberg/Bayern
Janine Löwenberg
Anne Busch
Gabriele Heinemann, MaDonna Mädchenkult.Ur e. V.
Beatrice Dannenberg
Birgit Dünkel
Eleni Gleißner
Tina Kühne
Silvia Melkonian
Ursula Düpper-Stemmer
Nadin Sternberg
Edith Jung
Monika Gai
Silke Thon
Heike Hügle
Natalie Frommherz
Roswitha Reger, Arbeitskreis Stop Sexkauf München
Brigitte Lunzer-Rieder
Dr. Horst Lunzer
Kerstin Schlax
Sonja Wilkens
Barbara Görner
T. Hoffmann (Opfer)
Claudia Lehleitner
Eva Scheufler, Wien
Sylvia Sophia Assmann
Katharina Münz
Corinna Schwarz
Kathrin Ambrozic
Pia Hamann
Anke Rammé Firlefanz
Sophia Reuter
Charly Göllner
Regina Schindler
Ingrid Weber
Dr. Ulrike Lischewsky
Antje Klink
Marion Olthoff
Jeanette Schäfer
Manuela Atz
Nora Räthzel, Soziologin
Till Amelung, M.A.
Ursula Kollenbach
Christina Ziegler
Martina Rausch
Monika Heck-Pleier
Anja Hollmeier
Valerie Johanna Jacob
Coryna Rasch
Jutta Hübl
Astrid Warburg-Manthey
Angelika Wiegand
Ingelore Seemann
Anne Schelzig
Karin Molina R., Erzieherin, Heilpraktikerin für Psychotherapie
Dagmar Spangenberg
Sibylle Görlich
Frauenhaus Nürnberg

28 Kommentare

  1. waltraut siemann

    die Verharmlosung durch begriffe wie „missbrauch“ ,Belästigung, u.A. festigt die bestehenden gewaltverhältnisse und es muss auf allen ebenen Veränderung stattfinden- auch im Sprachgebrauch!

  2. Katharina Morik

    Das Wort „Überlebende“ ist genau richtig und damit treffe ich auf Menschen, die mich verstehen, weil sie auch Überlebende sind. Natürlich erlebe ich auch Dinge — zum Glück sehr schöne Erlebnisse! Die benenne ich sehr verschieden von der Vergewaltigung!

  3. Alexandra Zürn

    Ich würde den offenen Brief eigentlich gerne unterzeichnen, weil ich das Thema „sexuelle Gewalt“ genauso sehe wie im Brief beschrieben, und daher ebenfalls die euphemistische Umdeutung von Mithu Sanyal als „Erleben“ strikt ablehne.

    Allerdings habe ich ein Problem mit dem letzten Abschnitt des Briefes, in dem es um darum geht, dass „wir“, also die UnterzeichnerInnen, Überlebende bzw. Opfer sind. Ich bin allerdings (zum Glück!) nie vergewaltigt worden: Wie kann ich dann den Brief zwecks Unterstützung der Sache mit unterzeichnen?
    Oder sollen dies explizit nur Betroffene tun?

  4. irmhild Specka

    Hat Mithu Sanyal je eine Vergewaltigung erlebt….? Was masst sich diese Frau an…?
    Und dass sie anscheinend soviel Gehoer/Aufmerksamkeit fuer ihr Buch erhaelt ist das Ergebnis patriarchalen Denkens….
    Überlebende ist das einzige, richtige Wort fuer solch ein Verbrechen…..
    mir fehlen so die Worte…..
    natuerlich muessen wir differenzieren: sexuelle Uebergriffe sind nicht immer Vergewaltigung, oder doch….?
    ich moechte nicht naementlich erscheinen, denn ich kann mir vorstellen, dass der Taeter von damals noch lebt.
    Keine(r) weiss, wer neben dem BKA,Geheimdiensten etc. ihre Seiten liest. Mein Mißtrauen ist besonders gross und im Laufe der Jahrzehnte leider gewachsen.
    Auch ist mein Hass auf Maenner gewachsen, obwohl ich weiss, dass es einige, viele ? gibt, die ebenfalls unter Gewalterfahrungen/Verbrechen leiden…und es auch genuegend „gute“ Maenner gibt……!
    Verharmlosung all der Taten ist mit das schlimmste, was man Frauen antun kann : eine Therapeutin meinte einmal zu mir: „als Opfer kann ich mit Ihnen nicht arbeiten“…., das hat mich zusaetzlich gekraenkt…..
    ich habe nie die Kraft gehabt, das Verbrechen von damals gut zu verarbeiten und ich glaube kaum, dass Psychoanalytikerinnen „die Weisheit mit Loeffeln gefressen haben….“ Und gerade im Alter draengt sich dieses Verbrechen von damals immer wieder in den Vordergrund, weil es niiiiiiiieeeee vergessen werden kann…

    Der Wettermoderator hat garantiert „Dreck am Stecken“ , aber wenn die Justiz ihr Urteil gefaellt hat, soll „Ruhe im Karton sein“…..Und wie die Justiz heutzutage wieder arbeitet – na, das ist ein anderes Thema…..

    Heute denke ich manchmal, dass ich die Tat von damals „vorschiebe“, um mein verkapptes Liebesleben zu rechtfertigen….und dann denke ich wieder, dass es mehr mit dem Verbrechen von damals zu tun hat, als ich mir eingestehen kann…
    und dann kommen da noch viele andere Dinge dazu: sporadisch auftretendes, vermindertes Selbstwertgefuehl durch Lebenserfahrungen, die auch nicht unterbewertet od. verharmlost werden duerfen….
    Erwerbslosigkeit z.B. kann sehr demuetigende Gefuehlsreaktionen ausloesen – manche koennen sich gut daraus befreien, andere schaffen es nicht od. lassen sich erneut demuetigen durch z.B. „prekaere Beschaeftigungsverhaeltnisse – Ehrenamt mit Aufwandsentschaedigung u.v.m.
    Immerhin habe ich eine Erwerbsminderungsrente von heute 750,-€ monatl. erworben und das ist schon mal besser, als Hartz IV oder „in die hohle Hand geschissen….“
    Wenn Sie eine Therapeutin kennen und empfehlen koennen, wuerde ich immer noch gerne einen weiteren Versuch, die o.g. Thematik zu bearbeiten, starten….
    innerlich habe ich jedoch ziemlich resigniert….
    ich moechte keine FRAU od. keinen Mann verurteilen, die ein anderes Sexualleben fuehren als das, was wir fuer allgemein als „normal“ bezeichnen…..und ich glaube zu wissen, dass ich mich dennoch von einer heterogen orientierten Frau besser verstanden fuehle….als von einer lesbischen….aber so genau weiss ich das selbst nicht….

    Fuer heute genug: Euer Kampf fuer mehr Bewusstwerdung in Sachen Verbrechen und dem umgehen damit ist wichtig und gut und ich hoffe, dass sich in manchen Dummkoepfen und Dumpfbacken dadurch auch ein Bewusstseinswandel vollzieht…
    mit freundlichen Gruessen
    irmhild

  5. Hanna Dahlberg

    Der Brief ist in der Wir-Perspektive verfasst, weil die Überlebenden im Fokus stehen und Überlebende den Brief verfasst haben, aber wenn du mal schaust steht vor den Unterschriften „Erstunterzeichnerinnen (Unterstützerinnen und/oder Überlebende)“.

  6. Hallo,

    erst einmal danke, dass Ihr Euch so intensiv mit meinen Vorschlägen auseinandersetzt. Das ist mir wichtig. Gleichzeitig möchte ich ein paar Missverständnisse aufklären: Der Begriff „Erlebende“ soll den Begriff „Opfer“ keineswegs ersetzen, sondern er soll ihn nur ergänzen. In meinem Artikel in der taz steht explizit, dass jede*r selbstverständlich das Recht hat, sich weiterhin Opfer oder Überlebende zu nennen. Der neue Begriff ist aus einer Veranstaltung entstanden, auf der viele Menschen, die von sexualisierter Gewalt betroffen waren, sich gegen den Opferbegriff gewehrt haben. Das könnt Ihr hier nachlesen: http://www.taz.de/!163660/
    Den Artikel war ein Angebot und keine Vorschrift.
    Ich finde es wichtig, wenn wir miteinander sprechen, auch wenn wir nicht immer einer Meinung sind.
    Herzliche Grüße
    Mithu Sanyal

  7. Ich bin Mithu Sanyal dankbar, weil ich noch vor wenigen Monaten in einem Gespäch demonstrativ erklärt habe, „ich bin kein Opfer“. Dann habe ich diesen Diskurs gelesen und war im innersten getroffen, fast re-traumatiert. Mir wurde klar, dass dieses ständige Beharren darauf, kein Opfer zu sein, mich subjektiv erleichtert hat, damit ich das erlebte traumatische Ereignis wegschieben konnte. Und natürlich will ich auch im Kontakt mit anderen nicht nur als Opfer gesehen werden, sondern als ganzer Mensch. Aber bin ich eine „Erlebende“? Nein, das bin ich nicht. Ich bin ein Opfer, eine Überlebende. Ich werde das sicherlich mündlich schlecht aussprechen können, da rede ich auch lieber von betroffen und so. Aber objektiv gesehen ist es so, sonst verschwinden Täter und Tat. Da ich – wie viele andere, die ich kenne – nur ganz wenig darüber in der Öffentlichkeit sprechen kann, oder gar nicht – danke ich all jenen, die das für mich mit auf den Punkt gebracht haben. Die engagierten Frauen (und ggf. Männer), die Vergewaltigung im Sinne einer Machtbeziehung definieren und in die Öffentlichkeit tragen, entmündigen mich als Opfer nicht. Ent-mündigt im wahrsten Sinne hat mich die Tat. Denn mir fehlt der Mund – selbst wenn ich darüber reden will, ich kann es nicht. Danke für euren offenen Brief.

  8. P.S. Vielleicht haben „wir“ uns auch lange darauf ausgeruht, dass es bisher einen klaren Diskurs dazu gab. Eventuell sollten wir – ich, vielleicht auch andere? – mal versuchen, aus dem Schneckenhaus rauszukommen. Denn wenn wir nicht mitreden, reden andere über uns. Und was dabei rauskommt, sieht man ja jetzt.

  9. Wie und wo genau kann man unterschreiben? Bitte etwas klarer ausführen, danke!

  10. Hallo Mithu Sanyal es ist gut, dass du dich der Debatte stellst. Jedoch ist der Begriff „Erlebende“ ein Schlag ins Gesicht für uns Opfer. Ich empfinde ihn als erneute Demütigung. Auch als „Ergänzung“ ist er eine Verharmlosung des Geschehenen. Natürlich ist man erst einmal Opfer, wenn so etwas geschieht. Heute bin ich kein Opfer mehr, denn ich habe es geschafft ein fast normales Leben aufzubauen, aber ich bin eine Überlebende und keine Erlebende. Sexuelle Gewalt zerstört, sie zerstört nicht nur das Sicherheitsgefühl, sondern auch ein Stück Seele. Ich kenne einige, die daran zerbrochen sind und kann nicht verstehen, wie man durch so einen Begriff diese Taten verharmlosen will. Im Gegenteil man sollte diese Taten niemals mit Bewährung bestrafen dürfen. Für mich ist es Mord an der Seele und der Täter sollte wesentlich härter mit Gefängnis bestraft werden. Wenn eine Frau danach nicht mehr arbeiten kann, sollte er auch finanziell zur Rechenschaft gezogen werden. Was in diesem Land teilweise mit Opfern sexueller Gealt geschieht ist schon schlimm genug, da brauchen wir nicht noch eine Begriffsverharmlosung. Wir Überlebenden sind in jedem Fall auch Opfer, denn wir haben diese sexuelle Gewalt nicht gewollt. Es reicht, wenn unsere Gesellschaft und die Politik versucht uns in den Schatten zu schieben, damit sie das Thema unter den Tisch kehren können und dies seit Jahrzehnten. Eine weitere Verharmlosung braucht niemand.

  11. Ich finde den Begriff Erlebende auch falsch aber ich bin Mithu Sanyal sehr dankbar dafür, dass sie die festgefahrene Aufteilung in Täter ( Männer)und Opfer ( Frauen) neu in die Diskussion bringt. Bei einem ganzen Teil dieser schrecklichen Verbrechen beteiligen sich Frauen als Helfershelferinnen und genauso gibt es Männer, die gegen sexuelle Gewalt kämpfen z. B. Der kongolesische Arzt Mukwege, der für seinen Einsatz mit dem Tode bedroht wird und den Frauen aus dem Kongo schützen samt seiner Fanilie. Natürlich haben wir ein patriarchales System, dass Frauen per Geschlecht unterdrückt , aber auf der anderen Seite ist es nicht das Geschlecht, das einen Mensch zum Täter bzw. Opfer macht.und deshalb finde ich es sehr gut, das Mithu Sanyal diese Auseinandersetzung initiiert.

  12. Ich war auch mal ein Opfer, nicht von sexueller, sondern von Gewalt an sich, was ich sehr knapp mit viel Glück _überlebt_ habe. Ein Überfall. Und wenn ich über den Diskurs nachdenke und versuche den Satz zu formulieren: Ich habe eine Gewalttat _erlebt_ dann ist das irritierend, allerdings aber auch wahr. Im eigentlichen Wortsinne. Erleben tu ich mein ganzes Leben, egal was oder wie was darin passiert währenddessen. Aber ich habe auch überlebt. Weil ich fast getötet wurde. Und so seh ich mich auch und sah mich vorallem, unmittelbar nachdem es passiert war. Und ich war Opfer, weil ich nicht in der Lage war mich zu wehren, oder weil mein Wehren nicht genügte.
    Also ist sowohl das eine wie auch das andere richtig.

    Der Euphemismus-Vorwurf greift im Übrigen meines Erachtens nicht, es sei denn man interpretiert statt den Begriff wortwörtlich zu nehmen.

    Erleben ist das was passiert wenn man nicht tot ist.

    Von Verharmlosung kann keine Rede sein. Diese Beitrag schiesst denn auch meines Erachtens übers Ziel hinaus, Feministinnen sollten weniger auf andere Frauen (verbal) einprügeln und sich stattdessen solidarisieren.

  13. @Doris Braune. Die Diskussion ist doch uralt – kenne ich seit den 80ern – und wurde nie beendet. Schau doch mal unter beliebige Internet/Facebookbeiträge zum Thema, die Mehrzahl äußert sich relativierend. Neulich fand ich einen Beitrag, der sich dafür aussprach, dass sich Männer mehr gegen Männergewalt engagieren. Darunter fanden sich nur Kommentare von Männern und Frauen, die meinten, es gäbe doch auch sexuelle Gewalt, die von Frauen an Männern ausgeübt werde.
    Und niemand, wirklich niemand zweifelt daran, dass auch Frauen Gewalt ausüben und dass es unterstützende Männer gibt. Das hat doch mit einer strukturellen Analyse des Problems und Lösungsansätzen, die wirklich tiefgehend und nachhaltig sind, überhaupt nichts zu tun. Beispiel Rassismus: Wenn man über den strukturellen Rassismus in den USA schreibt, nimmt auch niemand zwangsläufig an, (a) dass man etwas gegen Weiße hat oder (b) dass es das Problem nicht gibt, weil man nette Weiße kennt oder weil im Bekanntenkreis oder in der Heimatregion alle friedlich zusammen leben. Und die Lösung ist da auch nicht, wir benennen die Opfer rassistischer Gewalt mal in „Erlebende“ um, und die dürfen dann mit ihren rassistischen Tätern ein bisschen reden, um die „festgefahrene Opfer-Täter-Debatte“ aufzulösen. Und danach ist alles wieder gut.

  14. Der Support von Vergewaltigern kommt oft aus unerwarteten Ecken.
    In diesem Sinne sehe ich die von Frau Sanyal versuchte begriffliche Umbewertung von Opfern zu „Erlebenden“ und den damit verbundenen
    Medien Hipe.
    Ferner erkenne ich darin auch keine sinnvoll begriffliche „Ergänzung“,
    als vielmehr den Versuch fachlicher Profilierung Frau Sanyals, die darüber hinaus Menschen die Opfer von Vergewaltigungsverbrechen wurden zur Gegenwehr zwingt (wieder einmal).
    Für mich ist die Alltag. Ich habe mich entschlossen kein Blatt mehr vor
    den Mund zu nehmen. Ich spreche über meine Geschichte. Ich thematisiere Täterprofile, Opfer und Wirkungen in Prosa und Lyrik
    in Lesungen. Seitdem ich das tue fliegt mir einiges um die Ohren.
    Tenor der letzten Lesung: „Das ist mir zuviel!“, „Ich will sowas nicht
    hören!“, „Ich komme nur wieder wenn etwas lustiges gelesen wird!“ .
    Mir zeigt das nur wieder einmal deutlich wo unsere Gesellschaft steht.
    Aufklärung und Auseinandersetzung tuen Not, aber nicht auf der
    Basis solcher Versuche wie der von Frau Sanyal.

  15. Mein Schmerz ist unsichtbar

    Ich bin eine Überlebende. Ich bin ein Opfer von männlicher sexueller Gewalt.
    Und ich überlege immer ganz genau, wann und wem ich das erzähle. Ich habe es zu oft erleben müssen, dass Frauen wie Männer es nicht aushalten konnten oder wollten. Hinzu kommt, dass unsere Sprache nur ein schwaches Vehikel ist, um mein erlittenes Martyrium zu benennen.

    Nun kommt Frau Sanyal daher und schlägt auch noch vor, diese Möglichkeiten zu verharmlosen. Ein Schlag in mein Gesicht? Nein, eher ein Anschlag auf meine Würde, meine Würde als Überlebende eines grausamen Verbrechens.

    Das Unaussprechbare soll nicht gesagt werden und somit kann es auch nicht mehr gesehen werden. Durch die Gewalttat bin ich nach und nach unsichtbar geworden. Unsichtbar für meine Familie, die sich komplett von mir abgewandt hat. Unsichtbar für die arbeitende Gesellschaft, da ich durch die schwere Traumatisierung arbeitsunfähig geworden bin. Und unsichtbar für viele sogenannte Freunde und Bekannte, die sich auch von mir abgewandt haben.

    Jetzt soll ich davon profitieren, dass ich mich nicht mehr Opfer nenne, sondern Erlebende. Das schreit zum Himmel. Denn in dieser verwässernden Bezeichnung ist kein Täter mehr vorhanden, keine Tat, und auch kein Opfer.

    Was für eine Erleichterung für alle, die unfähig sind und oder Angst haben sich mit einem Vergewaltigungsopfer auseinanderzusetzen. Denn es macht selbst verständlicherweise Angst, die allgegenwärtige Bedrohung einer möglichen Vergewaltigung zu begreifen. Jeder Frau, jedem Mädchen, zu jeder Zeit und an jedem Ort kann es passieren. Wir sind niemals sicher. Mit dieser Erkenntnis wollen die Allerwenigsten leben. Offensichtlich auch Frau Sanyal nicht.

    Ich lag nachts in meinem Bett, in meiner Wohnung, als ich brutal überfallen und vergewaltigt wurde. Hatte meine Wohnung eine Opferpersönlichkeit?

    Eine Vergewaltigung ist meistens mit Todesangst verbunden und die hinterlässt physische Spuren im Gehirn. Damit verändert sich auch die Persönlichkeit. Frau ist nicht mehr die, die sie vorher war. Somit ist es doch wohl legitim von meinem Gegenüber zu erwarten, dass er oder sie darauf Rücksicht nimmt. Bei einem offensichtlich körperlich Versehrten wird das ja auch zu recht erwartet.

    Der Schmerz bleibt unausgesprochen, er ist unsichtbar. Das Tabu lebt weiter, wenn von einem „Erlebnis“ statt von einem schrecklichen Verbrechen gesprochen wird. Die vergewaltigte Frau ist unsichtbar.

  16. anonymus

    Ich wurde selbst nicht nur einmal in meinem Leben vergewaltigt und kann mit dem Opferbegriff als Selbstbezeichnung für mich überhaupt nichts anfangen. Als „Erlebende“ fühle ich mich auch nicht – aber ich finde den Anstoß gut, nach neuen Worten zu suchen. Ihr tut hier so, als würdet Ihr für alle Betroffenen sexueller Gewalt sprechen – das tut Ihr aber nicht! Mithu Sanyal hat beschrieben, dass ihr Vorschlag aus einer Diskussion mit Betroffenen entstanden ist. Was ist so schwer daran anzuerkennen, dass Menschen sexuelle Gewalt unterschiedlich erleben – und sich somit auch unterschiedlich bezeichnen?? Niemand will Euch den Opferbegriff wegnehmen. Ihr solltet ihn nicht allen aufzwingen!

  17. Ein „Opfer“ sein wollte ich nie, da dem Begriff eine Hilfslosigkeit anhaftet, die wohl richtig ist, mir aber bei Nutzung dieses Begriffs ständig unter die Nase gerieben wird.
    Eine „Erlebende “ … nun, auf dieses Erlebnis hätte ich gerne verzichtet.
    „Überlebende“ bin ich wohl. Obwohl man diesen Begriff eher mit einem Terroranschlag oder einem schlimmen Unfall verknüpft.

    Aber das ist nicht mein Problem.

  18. Well, eine Vergewaltigung ist eine Art Terroranschlag! Es geht darum den Willen und die Würde der Frau zu verletzen und die körperliche Integrität zu verletzen.

  19. sternenfrau

    diese debatte zeigt wieder mal das wir überlebenden keine lobby haben.
    seid 30 jahren gehe ich mit diesem thema nach draussen und stelle auch
    heute noch fest, das niemand, auch sogenannte fachkräfte sich damit
    wirklich auseinandersetzen wollen. wenn ich sage, ich bin überlebende
    sexueller gewalt, was für mich der absolut richtige ausdruck ist, weil ich es
    mehrfach überlebt habe, dann ist schweigen. jede krebskranke, jede behinderte, jeder flüchtling etc. kriegt mehr geld und beachtung als sexuelle
    gewalt überlebende. nichtmal vor gericht wird es anerkannt. das patrarchat läßt grüssen. wir sind alle so patriarchalm vergiftet, das die
    meisten es nicht sehen können. wir müssen uns erstmal alle entgiften.
    mich macht so eine debatte wütend,. noch meh, wenn sie von nicht
    betroffenen geführt wird. lest mal bücher von Michaela Huber. sie
    nennt es radikal beim namen. und das tut mir gut. zum glück gibt es
    auch ein paar emphatische menschen und therapeutinnen und beraterinnen. ach ich hätte dazu noch viel mehr zu sagen. aber das
    ist mir jetzt zuviel. danke fürs lesen.

  20. Hallo,
    ich verstehe die Bedenken den Begriff Erlebende zu benutzen, da er mir ebenfalls nicht passend erscheint.
    Ich stimme euch zu: Opfer entscheiden sich nicht dazu Opfer zu sein, aber wir können entscheiden, ob wir Opfer bleiben oder nicht. Hier finde ich eure Argumentation schwach zu sagen, wir sollen weiterhin Opfer sein, um die Täter sichtbar zu machen. Ich persönlich will kein Opfer bleiben und fühle mich nicht als Solches. Durch den offenen Brief wird mir suggeriert, dass ich als Frau das Opfer zu sein habe, um für alle anderen Frauen als Exempel zu dienen. Wir tragen demzufolge die Verantwortung, die Missstände und die Misogynie der Gesellschaft durch ein Verbrechen, das an uns begangen wurde aufzuzeigen und werden faktisch instrumentalisiert, um die patriarchalen Strukturen der Gesellschaft aufzuzeigen; meint ihr das Ernst?
    Genau diesen Punkt macht Mithu auf in ihrem Buch. Sie schreibt nirgendwo, wie sich irgendwer zu bezeichnen habe, sondern bietet begriffliche Vorschläge an, wie Gesellschaft vergewaltigte Frauen eben als solche wahrnimmen sollte und das Verbrechen nicht zur Identität der Frauen gemacht wird. Sie erkennt damit die Frauen, also uns, als Subjekte an, die nicht ihr Leben lang das Stigma der passiv Vergewaltigten nach außen zu tragen haben, was mir persönlich, aber auch aus feministischer Perspektive sinnvoll erscheint.
    Ich stimme auch definitiv nicht zu, dass durch die persönliche Wahrnehmung und die begriffliche Änderung Täter unsichtbar werden. Über Vergewaltigungen als Verbrechen zu sprechen und damit Täter sichtbar zu machen geschieht nicht durch einen Begriff „Opfer“ sondern durch das Sprechen selbst, egal in welcher Terminologie( die von jeder Frau selbst gewählt wird).
    Insgesamt habe ich das Gefühl, dass hier Stimmung gegen ein Buch gemacht wird, dass die Verfasserinnen des offenen Briefs nicht oder nur zum Teil gelesen haben.
    Es gibt einige Punkte, die man meines Erachtens nach diskutieren kann, jedoch halte ich das Buch insgesamt für absolut gelungen, um den Diskurs anzustossen.

  21. Ich finde z.B. @sandras Standpunkt absolut nachvollziehbar und hoffe auch, dass es außer Frage steht, dass Jede ihren ganz persönlichen Umgang mit angetaner Gewalt finden darf! Das betrifft selbstverständlich auch den Aspekt: Wie will ich von meiner Umwelt wahrgenommen werden? Welche Sprache finde ich, um die Gewalt zu beschreiben und wie beschreibe ich mich selber und meine Gefühle in diesem Zusammenhang?

    Die Kritik bezieht sich (nach meinem Verständnis) in keinster Weise auf diesen individuellen Raum. Keiner Frau sollte das Recht abgesprochen werden, sich aus einer „Opferrolle“ zu emanzipieren.
    Gewarnt wird doch viel eher davor, dass eben diese Subjektivität (sprachlich) auf den gesamten Diskurs übertragen wird. Und das finde auch ich in der Tat problematisch. Jede Einzelne soll natürlich verarbeiten, was ihr angetan wurde; sich distanzieren, emanzipieren etc.
    Diese Strategie aber kann nicht gesamtgesellschaftlich angewandt werden. Hier nämlich findet sexuelle Gewalt tagtäglich millionenfach statt. Sie daher zu subjektivieren (und etwa als Erfahrungen zu beschreiben), verschleiert, dass es sich um strukturelle Gewalt, um ein weltweites Mittel von Repression handelt.
    So verständlich und wichtig es bzgl. der Einzelnen ist, nicht passiv und gebrochen zurückzubleiben, sondern sich Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit zu erhalten oder zurückzukämpfen. Im gesellschaftlichen Kontext wäre diese Herangehensweise fatal. Denn hier muss unbedingt darauf bestanden werden, dass es eben (übermächtige) Täter und (hilflose) Opfer gibt. Und dass es diesem Zustand abzuhelfen gilt!
    Wird es allerdings Konsens, Opfer sexueller Gewalt generell als „Erlebende“ zu bezeichnen, verschwimmt diese Realität immer mehr. Die Gewalt an Frauen wird zum Einzelschicksal marginalisiert. Und das Frauenbild wird immer mehr zu einem, dass der Einzelnen einredet, selbst die Deutungshoheit über Gewalt und Unterdrückung zu besitzen.
    Denn wenn Vergewaltigung zu „Erfahrung“ und Prostitution über den Begriff „sex work“ zum banalen Brotjob umdefiniert wird, dann scheint die Welt mit einmal ganz prächtig in Ordnung zu sein …

  22. Der Vergewaltiger benutzt gewaltsamen Sex zur Erniedrigung der Person, die ihm in die Hände gefallen ist und zur Demonstration seiner Macht über diese, weil er das NÖTIG HAT. Er bringt damit Not über sie, aber Schande über seine Männlichkeit. Es ist wichtig, den Gewalttäter als solchen sichtbar zu machen in Berichten der Medien. Die müssen deutlich machen, dass die mit der Tat verbundene Schande auf den Täter fällt und eben nicht auf das Opfer. Etwa Kinder’schänder‘ geht gar nicht ! Und das (erwachsene) Opfer muss Hilfe suchen und sich an der Beweisesicherung aktiv beteiligen, das hilft, aus dem Opferstatus heraus zu kommen.

  23. Ich würde gerne noch den Aspekt in die Diskussion mit einbringen, dass „Opfer“ leider zu einem Wort geworden ist, welches auf Schulhöfen benutzt wird, um andere zu degradieren. Ich habe das bisher nur aus Deutschland gehört (und finde es erschreckend). Dieser Entwicklung sollte Einhalt geboten werden. Dafür ist es wichtig, das Wort Opfer zu benutzen – in seinem richtigen ursprünglichen Kontext. Denn es ist nicht schlimm, ein Opfer zu sein, dafür muss man sich nicht schämen (aber der/die Täter sollte es stattdessen).

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