Schlagwort: #Aufschrei

Wie #Aufschrei alles verändert hat

Violence against women, we can stop it!

"Violence against women, we can stop it!" by European Parlament via Flickr, [CC BY-NC-ND 2.0]

Bis vor nicht allzu langer Zeit hätte und habe ich auf die Frage ob ich jemals Beziehungsgewalt erlebt habe voller Überzeugung und ohne zu zögern „Nein“ geantwortet. Durch zahlreiche Fälle sexueller und häuslicher Gewalt in meinem Umfeld (meist im Kindesalter, aber nicht nur) begann ich mich näher damit zu beschäftigen. Aber erst durch das sich in Windeseile verselbstständigte Hashtag #Aufschrei auf Twitter wurden mir die Augen bezüglich meiner eigenen Betroffenheit geöffnet. Plötzlich wurden mir einige Dinge bewusst, wurden fast vergessen wieder erinnerlich, bzw. erschienen mir in einem anderen Licht.

  • Emotionale Gewalt I: Als ich 16 war führte ich eine (sehr) kurze Fernbeziehung. In zwei Monaten habe ich ihn wegen der großen Entfernung genau einmal sehen können. Ansonsten sprachen wir nur am Telefon. Außer Küssen lief aus Mangel an Gelegenheit nie etwas zwischen uns. Das alles war mir, beschäftigt mit Schule und zahlreichen zeitintensiven Hobbies, viel zu anstrengend, so dass ich die „Beziehung“, von der man nicht wirklich sprechen kann, beendete. Zwei Tage später erhielt ich einen Brief: „Wenn du das liest bin ich tot. Ich habe mir Schlaftabletten besorgt und werde die jetzt nehmen“ Auf der Stelle rief ich an und hatte seine Schwester am Apparat: „C. ist nicht zu Hause, er hat versucht sich umzubringen und liegt auf der Intensivstation“ C. hat den Selbstmordversuch überlebt. Ich brach den Kontakt vollkommen ab, weil ich damit überhaupt nicht umgehen konnte und überhaupt nicht verstehen konnte warum er das getan hat. Ich verdrängte und versuchte so schnell wie möglich zu vergessen
  • Sexuelle Gewalt und Betrug: Ein Jahr später hatte ich das lang ersehnte erste Mal. Viel später als alle meine Freundinnen. Ich hatte einen neuen Freund und wollte es so unbedingt. Leider blutete es wie verrückt und tat entsetzlich weh. Das Laken sah hinterher aus als wäre darauf jemand geschlachtet worden. Ich sagte ihm dass er aufhören soll und dass es weh tut. Seine Antwort war: „Ist gut. Ich bin gleich fertig.“ Ich musste die schrecklichen Schmerzen noch etwa 10 Minuten länger ertragen bis er endlich gekommen war. Hinterher stellte ich fest, dass er das Kondom, das er eh nur sehr widerwillig und auf meinen eindringlichen Wunsch übergezogen hatte, heimlich abgestreift hatte und es unbenutzt daneben lag. Darüber, dass dies alles so gar nicht okay war machte ich mir zum damaligen Zeitpunkt keine Gedanken. Das erste Mal tut halt weh, da muss man halt durch. So dachte ich. Außerdem fühlte ich mich geehrt, dass dieser 24-Jährige coole Typ, auf den alle standen, sich ausgerechnet für mich interessierte. Also war auch das schnell abgehakt. Nicht so schnell kam ich darüber hinweg, dass dieser Typ es schaffte mich innerhalb des einen Monats in dem wir zusammen waren insgesamt mit drei anderen Frauen zu betrügen, darunter meine seinerzeit beste Freundin. Darüber hinaus erfuhr ich von seinem besten Freund, dass er einmal tatsächlich direkt von mir ins Bordell gefahren ist. Er hatte mich auch darüber bewusst getäuscht, dass er Fan von damals angesagten Nazibands war, die ich wie er wusste abgrundtief hasste. Sein CD-Regal hat er vor meinen Besuchen extra gründlich „bereinigt“. Auch das erfuhr ich alles erst viel später. Ich brach auch hier den Kontakt ab und beschloss diesen Vollidioten einfach so schnell wie möglich zu vergessen. Nun ja, nachdem ich zunächst voller Angst einen AIDS-Test hinter mich gebracht hatte
  • Emotionale Gewalt II: Ein weiteres Jahr später begann ich eine Beziehung, die insgesamt knapp sieben Jahre anhielt. 4 davon mehr oder weniger glücklich, 3 Jahre lang alles andere als das, mit täglichen Streitereien und der Drohung, dass er sich umbringen wird wenn ich ihn verlasse. Damals war mir nicht bewusst, dass das zuvor geschilderte Erlebnis mit dem durchgeführten Selbstmordversuch der Grund war warum ich diesen notwendigen Schritt nicht gehen konnte. Hinzu kam die Angst davor mich ganz alleine durchschlagen zu müssen, inbesondere finanziell (ziemlich bescheuerte Angst wenn man bedenkt, dass ich ihn mit meinem geringen Gehalt noch mit durchgebracht habe weil er sein damals höheres bereits am 5.ten eines Monats erfolgreich für seine Wünsche durchgebracht hatte). Das Ende vom Lied: Er, der sich so sicher war sich niemals in eine andere Frau verlieben zu können hatte nach zwei Monaten eine neue Freundin, ich hingegen bin bis heute, rund 6 Jahre später, noch immer (aufgrund bewusster Entscheidung) mehr oder weniger ledig.

Was ist nun also bei #Aufschrei passiert? Es ist als wären mir die Augen geöffnet worden. Ich habe zum allerersten Mal in meinem Leben die geschilderten Ereignisse reflektiert und verstanden, dass sie mein Leben viel mehr beeinflussen als ich jemals gedacht habe. Mir ist erstmals bewusst geworden, dass mir Gewalt angetan wurde, auch wenn ich bis heute noch oft den Reflex in mir habe auf eine, wie eingangs formulierte Frage spontan mit „Nein“ zu antworten.

Ich habe zum ersten Mal das Gefühl des Ekels und des mich Übergeben Müssens beim flüchtigen Geruch eines bestimmten Parfums in der Stadt einordnen können (glücklicherweise benutzen das offensichtlich nicht viele Männer, dabei fand ich damals vor dem Ereignis den Geruch eigentlich eher sehr angenehm) – nämlich das meines Vergewaltigers wie ich es heute benenne. Die Ironie der Geschichte ist, dass jene Person mir ausgerechnet zu der Zeit als mir bewusst wurde, dass es sich um nichts anderes als eine Vergewaltigung gehandelt hat, eine Freundschaftsanfrage auf Facebook geschickt hat. Ich habe kurzzeitig überlegt ihm zu schreiben was für ein Arschloch er doch ist, habe aber dann davon abgesehen und ihn blockiert.

Durch #Aufschrei habe ich mich erstmalig auch mit emotionaler Gewalt auseinandergesetzt und verstanden, dass meine heutige Weigerung mich an eine Person fest zu binden, zusammen zu ziehen, eine gemeinsame Zukunft zu planen und dergleichen, mit dieser katastrophalen Beziehung zusammenhängt. Ich brauche eine Pufferzone, einen Sicherheitsabstand zwischen mir und meinen Partnern, was natürlich in den seltensten Fällen auf Verständnis stößt.

Ich kann heute darüber sprechen, ich kann darüber schreiben. Und ich bin froh, dass ich mein eigenes Verhalten besser verstehen und einordnen kann. #Aufschrei ist so viel mehr wie die Debatte über ein zweifelsohne widerliches Fehlverhalten von Rainer Brüdele. Viele haben dies leider nicht verstanden.

Ich frage mich sehr oft: Wie vielen Frauen geht es wie mir, dass ihnen gar nicht bewusst ist, dass sie Betroffene von Gewalt sind? Welchen Auslöser werden sie brauchen, damit ihnen die Augen geöffnet werden? #Aufschrei hat ohne Zweifel mein Leben geändert.