Sonia Johnson: Unseren Blick von den Typen abwenden

Ausschnitt Buchcover, Sonia Johnson: From Housewife To Heretic

Wir wollen den feministischen Diskurs beleben und unterschiedliche Ansätze zur Diskussion stellen. Deshalb erscheinen bei uns regelmäßig Gastbeiträge, die nicht zwangsläufig die Haltung der oder aller Störenfriedas wiedergeben, aber wichtige Impulse für die feministische Debatte geben können.

Auszüge aus einer Rede, gehalten am 8. April 1987 an der New York University Law School, veröffentlicht im Sammelband “The Sexual Liberals and The Attack on Feminism“, herausgegeben von Dorchen Leidholdt und Janice G. Raymond im Jahr 1990. Vollständiger Text „Taking Our Eyes Off the Guys, Sonia Johnson“ (auf englisch) auf radfem.org

Alle von uns – alle Frauen im Patriarchat – wurden daran gewöhnt Sklavinnen zu sein, wurden daran gewöhnt Prostituierte zu sein. Alle von uns sind oder waren, in einem gewissen Sinne, Prostituierte und Sklavinnen, und die meisten von uns werden das für den Rest ihres Lebens sein. …

Die patriarchale Familie ist das Modell für jegliche Unterdrückung: Die patriarchale Familie mit dem Mann an der Spitze als Gott und die Frau und die Kinder als Würmer unter ihm – zu oft im wahrsten Sinne des Wortes unter ihm.

Wir haben verstanden, dass das Paradigma – das Macht-über Paradigma, dieses sadomasochistische Paradigma, welches das Patriarchat darstellt – sich auf alles erstreckt, dass es das Modell ist für alle sozialen Institutionen, für alle wirtschaftlichen Strukturen, für die internationale Politik. Die Weißen an der Spitze als Gott, ethnische Minderheiten in der Position der Frauen als Würmer darunter. Es sind die Reichen an der Spitze als Männer, die Armen als Frauen am Boden. Es sind die Menschen oben, alle anderen Lebewesen unten. Es ist groß oben, klein am Boden – große Länder männlich, kleine Länder weiblich – und so weiter. …

Wenn ich sage alle Frauen wurden daran gewöhnt Sklavinnen und Prostituierte zu sein, dann spreche ich von einer Gewöhnung, die zuhause beginnt. Alle sozialen Institutionen haben daran partizipiert, natürlich. Aber unabhängig wie wir gewöhnt wurden – als Prostituierte oder Ehefrau, was dasselbe ist – wurden wir in der patriarchalen Familie fast ausschließlich daran gewöhnt sexuelle Funktionen zu erfüllen.

Egal auf welche Weise die Gewöhnung von statten geht, sie hat immer das gleiche Ziel – dass wir uns wertlos und abhängig fühlen. Ganz offensichtlich ist sexuelle Gewalt in der Familie das Gewöhnungswerkzeug par excellence; es braucht nur einen einzigen Akt davon, um uns unsere Rolle im Patriarchat beizubringen. Es handelt sich um so einen profunden Missbrauch von Vertrauen, vor allem unseres Vertrauens in uns selbst. Sein Ziel ist es uns machtlos zu fühlen, unseren inneren Kern der Zuversicht zu trüben, und uns deshalb abhängig von Männern zu fühlen. Sie funktioniert so, dass sie uns leidenschaftlich glauben lässt, dass wir einen Retter brauchen, dass Männer uns retten müssen, dass wir nur durch sie gerettet werden können. Dass wir sie irgendwie dazu bringen müssen, ihre Meinung über uns zu ändern. Wir müssen sie dazu bringen, uns zuzustimmen, dass ihr Verhalten schrecklich ist und sie dazu bringen damit aufzuhören. Unsere Gewöhnung lehrt uns Nonsens: Dass wir die Sklavenhalter dazu bringen müssen, die Sklavinnen zu befreien.

Das ist das Ziel der Gewöhnung: Uns glauben zu machen, dass wir immer nur durch andere befreit werden können.  Natürlich ist der Grund, dass uns das beigebracht wird, der, das Freiheit niemals so passiert. Tyrannen befreien niemals die Sklaven. Es ist eine historische Wahrheit, dass die Unterdrückten sich immer erheben und sich selbst befreien müssen, und mit ihrer Befreiung, alle anderen befreien. Die Wahrheit ist, dass radikaler Wandel, Wandel von der Wurzel, von UNS gemacht werden muss. …

[Virginia Woolf] sagte in „Three Guineas“, dass Frauen die Gemeinschaft der Außenseiterinnen sind, dass wir dort unsere Macht haben.

Wir haben Macht – das meint die Möglichkeit zu handeln, Veränderungen zu beeinflussen – außerhalb des Systems, denn das ist es wo wir wirklich leben, politisch, psychisch; es ist deshalb der einzige Ort an dem wir authentisch sind; und wir können nur dann Macht haben wenn wir authentisch sind. Auch haben wir dort Macht, weil außerhalb zu sein und Sklavinnen zu sein, bedeutet flexibel zu sein; SklavInnen müssen übernatürlich flexibel sein um zu überleben. Und eines der wichtigsten Gesetze der Kybernetik ist es, dass das flexibelste Element in einem System das kontrollierende Element ist. Privilegien sind Ketten. Männer sind an ihre Privilegien gebunden, sie haben keine Flexibilität, sie können das System nicht ändern, selbst wenn sie es wollten – und sie wollen nicht. Als flexibelste Elemente in diesem System, haben Frauen die Kontrolle auf diesem Planeten. Unser Verhalten, nicht das der Männer, wird den Kurs der menschlichen Ereignisse bestimmen.

Aber konditioniert und gewöhnt wie wir sind, ist das die schwerstmögliche Konzeption für uns, und die meisten von uns glauben weiter daran, dass wir Männer dazu bringen müssen andere Wege einzuschlagen, zum Beispiel, dass wir davon abhängig sind, dass Gesetzgeber Gesetze erlassen. Du meine Güte! Wann haben die an der Macht jemals einen signifikanten Teil davon zugunsten jener unter Kontrolle aufgegeben? Könnt ihr euch an ein einziges Beispiel in der Geschichte erinnern? …

Das Hauptziel des Gewöhnung ist es uns glauben zu machen, dass Männer für uns die Welt verändern müssen, und dass wir machtlos sind die Realität zu verändern, wenn sich Männer nicht zuerst ändern. Die Wahrheit ist jedoch, dass sie sich nicht ändern WERDEN – sie KÖNNEN es nicht – also müssen wir auch nicht weiter unsere Zeit verplempern sie dazu zu bringen. WIR sind diejenigen, die sich ändern müssen, weil wir KÖNNEN. Und wenn WIR uns ändern, dann wird sich alles außerhalb ändern, um sich unserem neuen Sein in dieser Welt anzupassen – inklusive der Männer, aber darum geht es nicht.

Das Prinzip hinter all dieser Gewöhnung – also wie du diesen Effekt erreichst, dieses Ziel, dass Frauen glauben, dass ihr Heil von dem Verhalten von jemand anderem abhängig ist – liegt darin, jemanden dazu zu bringen, alles was er tut in Relation zu jemand anderem zu tun, den sie als machtvoller empfinden. … Es geht darum, dass ein Bild in den Gedanken des anderen erzeugt wird, dass sie zu sich selbst sagen – also wir als Frauen zu uns selbst sagen, zum Beispiel – „Wie werden die Männer jetzt hierauf reagieren?“ – jedes Mal wenn wir eine Entscheidung treffen, oder „Wenn wir das tun, was werden SIE dann tun?“ Immer relational sein, die Meister jedes Mal in unserer Psyche konsultieren – das ist Knechtschaft.

Wenn wir Frauen unseren inneren Zustand, unser Wohlbefinden, vom Verhalten der Männer abhängig machen, Verhalten, welches wir weder kontrollieren noch ändern können, dann geben wir jegliche Chance auf Unabhängigkeit und Freiheit auf. Unsere Freiheit darf ausschließlich von uns abhängen; denn wir sind die einzigen, die verändern und kontrollieren können.

Wir müssen verstehen und internalisieren, dass Männer jetzt total irrelevant für uns sind, in Bezug auf Veränderung. Damit wir unseren Blick von ihnen abwenden können und auf uns selbst um eine neue, strahlende Realität genau hier zu schaffen, genau hier, inmitten der alten, verfaulenden und zusammenbrechenden Welt der Väter.

So lange wir auf die Männer fokussiert sind, werden wir niemals sehen, dass die Tür zu unserer Zelle offen steht, dass sie nicht in Richtung Patriarchat offen steht, aber in Richtung unserer eigenen Macht. Solange wir uns auf die Männer konzentrieren, und alles tun mit unseren Zuhältern in unseren Gedanken, werden wir uns niemals befreien. Unsere Zuhälter sind die Männer um uns herum. Sie sind Gesetzgeber, Professoren, Minister … Unsere Zuhälter sind unsere Väter, unsere Ehemänner, unsere Söhne. Zu ihnen in Relation zu stehen ist Sklaverei.

Ich habe dieses Prostituierte-im-Training-Ding bei den Mormonen gelernt, im mormonischen Elternhaus und in der Kirche. Und in der demokratischen Partei. Und in liberalen und fortschrittlichen und linken Gruppen. Und in der National Organization for Women, die ebenfalls der patriarchalen Familie nachmodelliert ist. Ich habe diese Dinge an den selben Orten wie ihr gelernt. Und wir alle haben  dafür Lehrgeld bezahlt. …

Ich habe für mich entschieden, dass ich nicht dem einen Bordell entkommen werde, um direkt im nächsten gefangen zu werden; dass etwas grundsätzlich falsch läuft mit dem Denken in diesen Institutionen der Neuen Welt. Also war ich der Meinung, dass es Zeit für mich ist, den Blick von den Typen abzuwenden, und diesen abergläubischen Glauben loszuwerden, dass wenn ich nicht jeden Schritt den sie tun verfolge, wenn ich sie nicht umklammere und anbettele und sie inständig bitte und dann mit ihnen zusammen Interessen vertrete und trete und schreie und meinen Fuß aufstampfe und verlange, dass sie dann durchdrehen und uns töten würden.

Aber das ist ja Quatsch, denn alle Beweise sprechen dafür, dass die Männer TROTZ ALLEM durchgedreht sind. Mit unseren auf ihre Gesichter gerichteten Augen, Tag und Nacht, für tausende von Jahren, sind sie zunehmend sauer geworden. Mit unserer an sie gehefteten Aufmerksamkeit töten sie uns und die Welt um uns herum täglich. Der Beweis ist, dass mit unserem reaktiven, ängstlichen und abhängigen Verhalten, haben wir das Patriarchat in all seinen Manifestationen im Laufe der Geschichte erleichtert. Wir wurden daran gewöhnt dies zu tun, unsere Augen auf die Patriarchen zu richten, unsere Zuhälter, damit wir nicht uns selbst betrachten und die atemberaubenden Alternativen sehen. …

Es hat uns nirgendwo hin gebracht. Wir haben keine tausend Jahre um genug Frauen in die Gerichte oder den Kongress zu bringen. Und selbst wenn wir das schaffen würden, wären sie sowieso alle weibliche Nachahmerinnen, wenn sie dort angekommen sind.

Wir haben die Zeit nicht. … Wir müssen aus der Geschichte lernen, dass Widerstand zu und Kooperation mit dem Unterdrücker nicht funktioniert. Alle Wege, die wir versucht haben, haben nicht funktioniert. Sie haben nicht funktioniert!  Hierarchische Strukturen funktionieren nicht. Sie sind alle Kopien der patriarchalen Familien, ein Paradigma an dem wir schrecklich gescheitert sind.

Also habe ich entschieden, dass es Zeit ist mich dieser Gewöhnung zu widersetzen. Dass es Zeit ist mich selbst zu ent-programmieren und aufzuhören, mich die ganze Zeit auf die Meister zu konzentrieren, auf die Zuhälter dieser Welt, und alles in Relation zu ihnen zu tun; mein Wohlbefinden von ihnen abhängig zu machen; aufhören über sie nachzudenken – die sind so langweilig, so betäubend langweilig! Wir können alles was sie tun werden voraussagen, jede primitive, grausame, ekelhafte, krasse Sache, die sie machen werden. Wir kennen das alles auswendig. Wir müssen uns das doch nicht länger anschauen. Müssen wir? Musst du? Ich sicherlich nicht. Ich hab genug davon gesehen und kenne es in und auswendig.

Es scheint mir so, dass wir genau das tun müssen, was meine tiefe Konditionierung mir sagt, was ich nicht tun sollte, genau das tun,  was mir am meisten Furcht einflößt, das tun, von dem mir beigebracht wurde, dass ich das NIEMALS tun soll, weil ich sonst sterben werde – und das ist, den Blick von den Typen abzuwenden und MICH SELBST ernst zu nehmen. Aufzuhören das System der Männer, das Patriarchat, zu ermächtigen. Aufhören zu glauben, dass sie die Welt verändern werden … Sie werden das nicht, sie KÖNNTEN es nicht. Und ich muss der Wahrheit ins Auge sehen, dass wenn ich will, dass die Welt anders wird, dann muss ich sie SELBST anders machen.

Die wichtigste Botschaft, die die weise Frau in mir, mir jemals gegeben hat, ist die, dass die Transformation dieser Welt von mir abhängt – und dir. Was für eine Erleichterung! Gott sei Dank hängt es von den Frauen ab, denn dann bekommen wir das hin!

2 Kommentare

  1. Puhh, schon krass. Und so einiges hat sich hier und dort seit dem Datum dieser Rede schon verändert, denke ich, z.B. in puncto wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen (zumindest mehr als damals, soweit ich das einschätzen kann). Doch Recht hat sie, denn wenn sich was verändern soll, dann muss frau es selbst machen, anders funktioniert es nicht.

  2. Ja, in der Tat! So einfach wäre das, wenn ALLE Frauen in diese Richtung
    denken und marschieren würden. Leider ist dem nicht so, wie wir wissen. Darum hüpfen wir auch seit Dekaden am selben Ort und gefühlte 90% schmachten immer noch dem Männlichen hinterher und warten auf den ultimativen Erlöser und/oder Beschützer. (Und wenn der einfach nicht kommt, soll’s der Staat richten…… oder andere Frauen, Mütter, Grossmütter, Tanten und Freundinnen, bei denen dann geweint, gejammert und “abgeladen” wird, bis die auch keine Kraft mehr haben. ) Und sobald der Nächste auftaucht, fängt alles wieder von vorne an………Und wenn sie nicht gestorben sind, dann……………

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