Weibliche Genitalverstümmelung (FGM) – ein muslimisches Frauenunterdrückungsinstrument?

Anti Infibulation Logo, FGM

By Rugby471 (SVG); User:Shir Khan~commonswiki (PNG) (Own work) [Public domain], via Wikimedia Commons

Vor rund einem Monat machte die Nachricht die Runde, dass man in Schweden eine ganze genitalverstümmelte Mädchenschulklasse entdeckt habe. Tausendfach wurden entsprechende Links geteilt, häufig mit dem Verweis auf die rückständigen, frauenfeindlichen Muslime, die mit großer Freude die Messer wetzen (lassen) und ihre kleinen Mädchen der Klitorisverstümmelung zuführen. Wir haben hier über die wahren Hintergründe dieser Meldung berichtet.

FGM im Irak

Knapp einen Monat später dann die Nachricht, dass die etwa 10.000-Mann starke Al-Qaida-nahe salafistische ISIS, die insbesondere in Syrien und dem Irak aktiv ist, eine Fatwa herausgegeben habe, nach der alle 11-46-Jährigen im Irak einer FGM zu unterziehen seien. Die ISIS ist sicherlich nicht die Vorfeldorganisation des internationalen radikalen Feminismus, aber wer sich auch nur ein bisschen mit der Verbreitung von FGM befasst hat, der weiß, dass es sich dabei insbesondere um ein in 28 afrikanischen Staaten vorkommendes Phänomen handelt und weniger in anderen Regionen der Welt und dem Nahen Osten angewandt wird. Im Irak ist FGM bisher nur in Zusammenhang mit einigen kurdischen Stämmen im Nordirak bekannt geworden, von denen ein kleiner Teil jüdisch und zwei weitere, größere Teile christlich, bzw. muslimisch sind (genauer gesagt im 7. Jahrhundert islamisiert wurde) Im Irak verhält es sich übrigens grundsätzlich nicht anders als im Rest der Welt: „Den Islam“ und „die Muslime“ gibt es in dieser Form nicht: Es gibt Schiiten, Sunniten, Sufis, Ahl-e Hagg, Schabak, Hagga usw. usw. usw.

Das irakische kurdische Regionalparlament hat 2011 ein umfassendes Gesetz gegen Genitalverstümmelung und andere Formen von Gewalt gegen Frauen und Kinder verabschiedet. FGM ist damit dort, wo sie (von Christen, Muslimen, Jesiden) angewandt wird, seitdem verboten. Nichtsdestotrotz braucht es eine lange Zeit und viel Aufklärung und Prävention, um jahrhunderte alte Traditionen endlich über Bord zu werfen. Die Arbeit der Hilfsorganisation „Wadi“ mit ihren Ausklärungsteams ist deshalb nicht genug wertzuschätzen. Die Tatsache, dass FGM insbesondere in ländlichen und verarmten Regionen angewandt wird zeigt auf, dass mit Bildung und Aufklärung hier viel erreicht werden kann. Inzwischen gelten einige Dörfer bereits als „FGM-frei“.

Am Mittwoch dann setzte die UN-Funktionärin Jacqueline Badcock dann die Falschmeldung einer angeblichen Fatwa der ISIS in die Welt – bereits einen Tag später ruderte die UN zurück. Die Zweifler*innen waren leider rar gesät. Dies zeigt wie gut die Vorurteilskette Muslime – Ewiggestrige –  Frauenunterdrücker doch funktioniert.

Islam und FGM

Um das von vornherein klarzustellen: Female Genitale Mutilation (FGM) ist für mich ein schreckliches Verbrechen und überhaupt nicht schönzureden. Und das unabhängig davon, WER Mädchen und Frauen so etwas antut. Punkt. [Ich gebe zu: Damit kann man mir bereits Kulturchauvinismus vorwerfen (siehe unten) aber es ist mein Standpunkt den ich hier relativ zu Beginn deutlich machen will] Es ist jedoch in keinem Fall  hinnehmbar, dass der Kampf gegen FGM einhergeht mit der Verbreitung antimuslimischer Ressentiments – die Wurzeln dieser patriarchalen Tradition ebenso wie die Tatsache, dass sie von Muslimen wie Nichtmuslimen aufrechterhalten und gelebt wird, vollkommen ausblendend.

FGM gilt in allen (!) muslimischen Rechtsschulen als „haram“ (verboten). Sure 95:4 lautet: „Wahrlich. Wir haben den Menschen in bester Form erschaffen“. Muslime sind der Meinung, dass Allah den Körper perfekt erschaffen hat (Sure 32:7) und dass der Wunsch nach Verunstaltung des Körpers von Satan herbeigeführt wird (Sure 4:119). Deshalb gelten zum Beispiel auch Tättowierungen als haram. In der vorislamischen Zeit war „khitan“ (arabisch für Klitorisvorhautentfernung) weit verbreitet. Es gibt die Überlieferung, dass der dritte Kalif Hadrat Uthman (1. Jhd. nach Christus) Frauen, die danach fragten, erlaubt hat, sich beschneiden zu lassen. Entscheidend ist jedoch hierbei, dass es ausschließlich um den FGM-Typ I a (siehe unten) ging, also die Beschneidung der Klitorisvorhaut.

Wer auch immer im Islam FGM rechtfertigen möchte, kann einzig und alleine auf einen, sehr schwachen, Hadithen (Überlieferungen über die Aussprüche und Handlungen des Propheten Mohammed sowie über die Handlungen Dritter, die er stillschweigend gebilligt hat), zurückgreifen. Schwach bedeutet, dass die Zeugenkette, dass der Prophet das ihm Zugeschriebene tatsächlich so sagte, nicht zurückverfolgbar ist. Muslime sind hier sehr kritisch, da gefälschte Hadithe bereits seit dem 2. Jahrhundert nach Christus bekannt sind.

In der Sunan Abu Dawood, einer bekannten Hadithensammlung, heißt es über die „khitan“: „Wenn du das machen möchtest, dann gehe nicht zu tief, denn dies bringt der Frau mehr Genuss, und damit auch dem Ehemann“. Daraus folgt, dass auf dieser Grundlage der Wille der Frau entscheidend ist und nur dann, wenn es um die Steigerung ihres Lustempfindens geht (die Beschneidung der Klitorisvorhaut), erlaubt ist. Die islamischen Rechtsgelehrten interpretierten dies so, dass die Freilegung der Klitoris bei der Penetration zu mehr Stimulation führt und damit Lustgewinn für sie bedeutet.

Es ist Konsens in allen vier islamischen Rechtsschulen, dass alle anderen Formen der „khitan“ „haram“ sind und bestraft werden müssen. Die Klitoris selbst darf nicht angerührt werden. Die heute weit verbreitete Labioplastik (Intimchirurgie), bei der die inneren und äußeren Schamlippen chirurgisch „angepasst“ werden, sind bereits aus muslimischer Sicht absolut verboten. Die massive Werbung der neuen Intimchirurgie-Industrie mit ihren Millionen Umsätzen pro Jahr muss damit in der muslimischen Community auf Ablehnung stoßen. Der Islam schränkt die FGM in unserer westlichen Gesellschaft damit sehr viel weiter ein als das aktuell gültige weltliche Gesetz.

Erst ab dem 14ten Jahrhundert finden sich vereinzelte Gelehrte, die anderes vertraten. Hier ist insbesondere Taqi Ab Din Ahmad Ibn Taymiyya zu nennen. Er war der Meinung das „khitan“ den Sexualtrieb der Frau reduziert und sprach sich deshalb dafür aus (wir reden immer noch nicht von der Entfernung der Klitoris). Es gibt zwei zeitgenössische Gelehrte, Nasruddin Albani und Muhammad Hasan, die sich in der Tat explizit für die Entfernung von Teilen der Klitoris aussprechen. Der 1999 verstorbene salafistische Gelehrte Abdul Aziz Bin Abdullah Ibn Baz war der Meinung, man sollte die Französinnen ob ihres starken Sexualtriebs der FGM unterziehen. Solche Meinungen, die eindeutig patriarchale und auch rassistische Muster in sich tragen, sind jedoch  eine absolute Ausnahme und wie gesagt von keiner der vier Madhhab (Rechtsschulen) getragen (auch wenn man vom Acht-Madhhab-System ausgeht ändert sich übrigens nichts).

Auf einer internationalen Konferenz von Islam-Gelehrten im Jahr 2006 im Kairo wurde ein islamisches Rechtsgutachten beschlossen, in dem es unter anderem heißt:

Die Genitalbeschneidung bei Frauen ist ererbte Unsitte (…) ohne Grundlage im Koran respektive einer authentischen Überlieferung des Propheten (…) Daher müssen die Praktiken unterbunden werden in Ablehnung an einen der höchsten Werte des Islam, nämlich den Menschen unbegründet keinen Schaden zufügen zu dürfen (…) Vielmehr wird dies als strafbare Aggression gegenüber dem Menschengeschlecht erachtet. […] Die Legislativ-Organe sind aufgefordert, diese grausame Unsitte als Verbrechen zu deklarierenIslam ächtet Mädchenverstümmelung

Danach ist FGM nicht mit dem Islam zu vereinbaren. In verschiedenen Staaten gibt es inzwischen Fatwas (Rechtsauskunft anerkannter Gelehrter), die FGM als „Teufelswerk“ verdammen (so z.B. in Somalia oder Katar). Solche Fatwas bedeuten vielerorts den Durchbruch im Kampf gegen FGM.

Geschichte der FGM

Wenn also FGM nicht islamisch begründet werden kann, worauf geht sie dann tatsächlich zurück?

Der ältesten Beleg für FGM findet sich auf einem uralten Papyrus aus dem antiken Ägypten aus dem 1. Jahrhundert vor Christus. Auch beschnittene Mumien wurden gefunden. FGM-Praktiken sind damit eindeutig älter als Christentum und Islam. Man geht davon aus, dass sich der Ritus von Ägypten aus über den afrikanischen Kontinent weiterverbreitete. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit FGM begann in Europa erst Ende des 19ten Jahrhunderts (Marie Bonaparte und Bronislaw Malinowski).

Was viele nicht wissen (oder aus ihrem kulturchauvinistischen Blickwinkel nicht wissen wollen), ist dass FGM (inklusive des gravierenden Eingriffs des Typ III, siehe unten) noch bis in die 60er Jahre auch in Europa und Nordamerika durchgeführt wurde um

weibliche Leiden wie Hysterie, Nervosität, Nymphomanie, Masturbation und andere Formen so genannter weiblicher Devianz zu heilen. The Oxford Encyclopedia of Women in World History

In vielen Stämmen wird FGM seit jeher als traditioneller Initiationsritus zelebriert, als Übergang vom Jugendlichen- ins Erwachsenendasein. Bei den Kinkuyu in Kenia beispielsweise bedeutet der Ritus eine Neugeburt als Kind des Stammes (und nicht als Kind der biologischen Eltern).

Weit verbreitet sind Mythen, nach denen die Nichtbeschneidung Gesundheit und Fruchtbarkeit der Frau negativ beeinträchtigt. Teilweise wird die Klitoris als „Stachel“ betrachtet, der unbeschnitten den Sexualpartner oder das Kind bei der Geburt töten könnte.

Bei der FGM spielen auch ästhetische Vorstellungen eine nicht unbedeutende Rolle. Dies gilt nicht nur für die westliche Kultur, in der die blankrasierte und perfekt „getunte“ 08/15- Vulva aus dem Porno (siehe auch unseren Bericht hier) zum absoluten Schönheitsideal erhoben wurde, sondern auch für andere Kulturkreise. Die Kulturwissenschaftlerin Kathy Davis erkennt „Verschönerung, Erhabenheit über die Scham sowie der Wunsch sich anzupassen“ als Hauptursachen, warum afrikanische Frauen die FGM befürworten. Einige Ethnien betrachten die Klitoris auch als Überbleibsel des männlichen Penis. Eine Entfernung bedeutet also in deren Augen eine stärkere Betonung der Weiblichkeit einer Frau.

Die durchaus auch vorhandenen Funktionen der Kontrolle und sexuellen Unterdrückung der weiblichen Sexualität wurden von Feministinnen in den 70er Jahren als die Hauptursachen der FGM ausgemacht. Dies kann so durch die Wissenschaft allerdings nicht bestätigt werden, denn die FGM wird in fast allen Zusammenhängen von den Frauen praktiziert und gefordert, teilweise sogar hinter dem Rücken und ohne die Kenntnis der Männer im familiären Umfeld. So sagten beispielsweise kurdische Türken als sie befragt wurden, FGM sei in ihrem Umfeld nicht verbreitet und waren erstaunt, als sie in darauf folgenden Gesprächen mit Familienangehörigen über das Gegenteil aufgeklärt wurden. Die Männer in praktizierenden Kulturen jedenfalls äußern häufig keine Präferenz für beschnittene Frauen. (Gegenbeispiele gibt es jedoch auch wie bspw. in Somalia wo Männer der Meinung sind, dass beschnittene Frauen „leichter zu lenken“ seien – was wiederum zeigt, dass es kein einheitliches Bild an Motivation und Hintergrund zwischen den einzelnen Ethnien gibt).

FGM ist jedenfalls zusammenfassend unter verschiedenen Religionsgruppen verbreitet: Muslime, Christen unterschiedlicher Glaubensrichtungen, äthiopische Juden und Anhänger traditioneller Religionen praktizieren u.a. FGM. in Sierra Leone (hauptsächliche Verbreitung von Typ II) wird FGM von allen christlich und muslimischen ethnischen Gruppen mit Ausnahme der Kreolen durchgeführt. Die Ursprünge sind eindeutig nicht religiös begründet.

Formen der FGM und Verbreitung

Eine international weitgehend anerkannte Typisierung der verschiedenen Formen der FGM sieht wie folgt aus:

FGM Typ I:

  • Klitorisvorhautreduktion (Entfernung der Klitorisvorhaut);
  • Klitoridektomie (teilweise oder vollständige Entfernung des äußerlich sichtbaren Teil der Klitoris, der Klitoriseichel)

FGM Typ II: Exzision (teilweise oder vollständige Entfernung des äußerlich sichtbaren Teils der Klitoris und der inneren Schamlippen mit oder ohne Beschneidung der äußeren Schamlippen)

  • Entfernung der kleinen Schamlippen
  • Entfernung der kleinen Schamlippen und ganz oder teilweise Entfernung der Klitoriseichel
  • Entfernung der kleinen und großen Schamlippen und ganz oder teilweise der Klitoriseichel

FGM Typ III: Infibulation: Verengung der Vaginalöffnung, Aufschneiden und Zusammenführen der inneren und/oder äußeren Schamlippen, mit oder ohne Entfernung des äußerlich sichtbaren Teils der Klitoris (auch „pharaonische Beschneidung“)

  • betreffend die kleinen Schamlippen
  • betreffend die großen Schamlippen

FGM Typ IV: Alle Praktiken die nicht Typ I, II oder III zugeordnet werden können. Inklusive: Durchbohren (piercen), Einschneiden (Introzision), Abschaben von Genitalgewebe, Ausbrennen der Klitoris, Einführen ätzender Substanzen in die Vagina. (Auch: Wiederherstellung des Jungfernhäutchens)

Selbst innerhalb einer Ethnie oder geographischen Region sind teilweise unterschiedlichste Formen verbreitet. Der schwerste Eingriff ist Typ III, dem etwa 20% der FGM-Betroffenen unterliegen. Hier wird lediglich eine kleine Öffnung für den Austritt des Urins und der Menstruation gelassen. Es besteht eine massive Einschränkung durch Schmerzen und hohen Infektionsrisiken. Für Geschlechtsverkehr und Geburtsvorgang ist ein Aufschneiden unerlässlich.

Lamilli, Afrol News

Lamilli, Afrol News

FGM ist insbesondere in 28 Staaten des westlichen und nordöstlichen Afrikas verbreitet. (siehe Karte) In sieben Staaten (Somalia, Ägypten, Eritrea, Dschibuti, Guinea, Mali, Sierra Leone und dem Nordsudan) sind mehr als 90% der Frauen zwischen 15 und 49 Jahren betroffen. Außerhalb Afrikas ist FGM in einigen wenigen Regionen der Welt verbreitet, darunter z.B. bei indigenen wie zum Beispiel den Aboriginies in Australien oder in Südamerika/Kolumbien bei den Embera-Chami-Indianern.

Darüber hinaus ist FGM bekanntermaßen verbreitet in Teilen von Syrien und dem Iran, kurdisch besiedelte Regionen im Irak und der Türkei, Beduinen in Israel, Teile des nördlichen Saudi-Arabien und dem südlichen Jordanien, die Typen I und IV in Malaysia und Indonesien (insbesondere Vaginalpiercings bei Mann und Frau). Die Verbreitungsgrade liegen hier bei bis zu 22%.

Zu kritisieren ist, dass die unter die WHO-Klassifikation fallenden intimchirurgischen Eingriffe der westlichen Welt in der Regel bei der weltweiten geographischen Verbreitung ausgeklammert werden und somit Kulturrelativismus betrieben wird. Es kann im übrigen nicht argumentiert werden hier sei das ja etwas anderes, weil Frauen das ja „freiwillig“ und „selbstbestimmt“ tun vor dem Hintergrund, dass viele FGM-Betroffene in Afrika die an ihnen angewandten Riten als selbstverständlich und unproblematisch ansehen. Wer argumentiert, sie seien nur zu dumm um die Gewalt, die ihnen angetan wird zu erkennen, handelt ebenfalls kulturchauvinistisch.

Gesellschaftliche Debatte und Bekämpfung von FGM

Der ursprünglich verwendete Begriff „weibliche Zirkumzision“ (Beschneidung), der die FGM mit der nicht vergleichbaren männlichen Beschneidung in Zusammenhang brachte, wurde im Laufe der 80er Jahre mit der Neubewertung dieser Praxis als Menschenrechtsverletzung durch „Female Genitale Mutilation“ ersetzt und in den 90er Jahren weitgehend übernommen. Auch der Begriff „Female Genitale Cutting“ (FGC) wird verwendet. Dabei zu berücksichtigen ist, dass Betroffene sich häufig nicht als „verstümmelte“ Personen ansehen und den Begriff deshalb als ab- und bewertend ablehnen. In der Präventions- und Aufklärungsarbeit wird deshalb häufig der von den Betroffenen selbst verwendete Begriff „Beschneidung“ weiter verwendet. Kritiker*innen müssen deshalb aufpassen, von Seiten der Betroffenen nicht in der Tradition der Kolonialisten betrachtet zu werden (diese versuchten nämlich im 20. Jahrhundert FGM als „heidnisches Ritual“ zu bekämpfen). Angesichts der lokal total unterschiedlichen Ursprünge und Begründungen kann es im Kampf gegen FGM keine „Einheitslösung“ geben, sondern muss immer an den Ursachen vor Ort ansetzen. Wer meint, FGM sei islamischen Ursprungs, macht einen gravierenden Fehler, denn gerade der Islam und seine irdischen Vertreter*innen bieten sich angesichts der vorangegangenen Ausführungen doch als Bündnispartner*innen im Kampf gegen FGM geradezu an. Wer das nicht sieht (oder sehen will), verbaut sich einen wichtigen Ansatzpunkt in der Überwindung dieser Praktik.

Nur gut gemeint ist manchmal eben richtig Scheiße fürs Zusammenleben

Es ist absolut kontraproduktiv, wenn die tatsächlichen Ursachen bei der Benennung von gesellschaftlichen Missständen nicht mit benannt werden, sondern Meldungen über FGM des Skandals willen erfolgen, nämlich im Kontext der (willentlichen) Verbreitung von Ressentiments gegen Muslime. Antimuslimischer Rassismus weist in Form und Inhalt in Deutschland erschreckende Parallelen zum klassischen Antisemitismus auf. (siehe Wolfgang Benz: Antisemitismus und „Islamkritik“. Bilanz und Perspektive. Metropol, Berlin 2011) 37% der Deutschen wollen einer Leipziger Studie zufolge beispielsweise die Zuwanderung von Muslimen nach Deutschland untersagen.  Wer nicht in der Lage oder willens ist, zu differenzieren zwischen „den Muslimen“ und „dem Islam“ einerseits und andererseits Muslime und Islamisten ebenso wie Traditionen und Religion einfach in einen Topf schmeißt und einmal kräftig umrührt, tut sehr vielen Menschen unrecht und trägt dazu bei, ein bereits jetzt unerträgliches gesellschaftliches Klima anzuheizen. Das Klima, in dem Marwa El-Sherbini starb. Das Klima, welches ermöglicht hat, dass eine mordende Nazibande namens NSU jahrelang ihr Unwesen treiben konnte und die Taten statt als Nazimorde als ethnische „Milieutaten“ abgetan wurden. Die Art von gesellschaftlichem Klima, in dem Taten wie die von Anders Breivik, dem Massenmörder von Utøya/Oslo, gedeihen.

Was die Ursache von Unterdrückung von Frauen angeht bleibt festzuhalten: It`s the fuckin`patriarchy, stupid!

Weiterlesen:

(zu FGM in Europa und Nordamerika) Marion Hulverscheidt: Weibliche Genitalverstümmelung: Diskussion und Praxis in der Medizin während des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum, Dissertation, Georg-August-Universität Göttingen, 2000. – Anna Kölling: Weibliche Genitalverstümmelung im Diskurs. Lit Verlag, Berlin 2008

Sandra D. Lane und Robert A. Rubinstein: Judging the other: responding to traditional female genital surgeries (PDF; 1,0 MB). In: The Hastings Center Report 26 Nr. 3, 1996, S. 31–40.

3 Kommentare

  1. Das, was mir immer schon auf der Seele brannte und ich versuchte in die richtigen Worte zu fassen, steht nun in diesem Artikel.

    Bravo!

  2. KritischDenkenIstGut

    leider keine aktuelle Karte, keine aktuelle Studien, stark stereotypisierend und generalisierend: das Thema ist viel komplexer als wie radikal und vereinfacht es hier dargestellt wird…
    Bspw. wird FGM_C in der aktuellen Debatte als SOZIALE NORM und nicht mehr als Tradition definiert: ortsunabhängig und stark von Meinungen/Werte/Definitionen v. Sauberekeit, Gesundheit, weiblich, etc. geprägt…

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