Ein Donnerstagnachmittag im Puff

Pixabay, CCO Public Domain

Ein Gastbeitrag von Huschke Mau

Dieser Text ist ein Tagebucheintrag aus dem Jahr 2005, als Huschke noch gar nicht Huschke hieß, sondern als SvenjaoderCharlotteoderwieauchimmer im Puff rumsaß.

Warum gestern dieser Zusammenbruch, dieses totale Absacken und Aufgeben?

Vielleicht kann ich diesen Job nicht mehr machen, vielleicht halte ich es jetzt schon nicht mehr aus, dass dieses verlogene System existiert, wo alte, geile Männer junge Mädels ficken, ja, sich richtiggehend zurechtzüchten – denn so wie früher „geschändete“ oder „gefallene“ Mädchen in die Prostitution gegeben wurden (gängige Praxis im Mittelalter – und danach auch noch, einmal „entehrt“ kommts ja nicht mehr drauf an) – so werden auch jetzt Töchter von ihren Vätern, Brüdern, Großvätern und Onkeln missbraucht und steigen danach folgerichtig in diese Branche ein und werden weiterhin behandelt wie Dreck, kriminalisiert, diskriminiert und missbraucht.

An meiner Notlage, an der ich eine Teilschuld auch dem deutschen Staat zuschiebe, der es eben nicht für nötig hält, missbrauchten, misshandelten, „asozialen“ Kindern eine Chance, eine zweite wenigstens, wenn die Startbedingungen an denen Kinder nunmal nichts ändern können schon so beschissen war, zu geben, an dieser Notlage jedenfalls verdienen gleich mehrere Männer und patriarchale Systeme: meine Freier, mein Zuhälter und der deutsche Staat. Ich wurde benutzt und rausgeschmissen aus der Gesellschaft, als sei es meine Schuld gewesen, dass ich misshandelt wurde, und jetzt stehe ich im Abseitsjeder kann mit mir tun was er will, scheinbar kann mich jeder, der es nur will, ficken, naja, nicht mehr ganz jeder, jetzt nur noch die, die zahlen, und am liebsten hätten sie es ja, würde ich ihnen endlich alle Löcher zur Verfügung stellen, und daran verdienen die Herren vom Finanzamt ja gerne auch noch was, nicht wahr, mal abgesehen vom Zuhälter, dem ich sein Haus, seinen Jeep, seine S-Klasse erficke, während auch er mich freilich ficken kann, wenn er will, selbstredend, siehe sein Umgang auch mit meiner Kollegin, die ihm gegenüber nicht nein sagen darf sonst krachts.

Und auch der Freier hat viel davon, doch nimmt er sich zuweilen noch viel mehr heraus als er eigentlich darf, aber mein Gott, was soll man schon nicht dürfen mit einer, die so viele Schwänze lutscht, mit einer, die nach Freierlogik ja demzufolge den ganzen Tag geil sein muss, und auch dafür müsste man sie bestrafen, wahrscheinlich braucht sie es nur mal wieder so richtig besorgt.

Genau das spielen wir ihnen vor, jeden Tag, denn über Huren, die nichts mitmachen, beklagen sie sich ja täglich bei uns, entweder wir sind eine von den schlechten (und verdienen nichts) oder sie erzählen uns von ihrer Odysee durch die Puffs und all den schrecklichen Mädels, die du ja echt nicht ficken kannst, und wir kriegen dann immer unser „Lob“ ab. Das tut so weh, das kannst Du Dir nicht vorstellen.

Erstens machen wir nicht genug. Und dann empören sie sich: „Was, es ist kein französisch pur dabei, das ist doch längst Standard, und da fühl ich doch gar nichts, und du hast doch auch nichts davon, bei dem Gummi“ (was soll ich, denke ich mir, auch davon haben, denken die echt ich hab lieber fremdes Sperma oder einen ungewaschenen Pimmel im Mund? Dann doch lieber nen Gummi.) und „du schluckst das doch gerne, das gehört doch dazu, und was, kein anal dabei, wieso denn nicht, das kann doch so schön sein, und du hast es doch bestimmt noch gar nicht probiert“ (ja, vielleicht ist es für EUCH schön, und nein, ich wills auch nicht probieren, tut mir bei KG 34 vielleicht auch weh, schonmal daran gedacht?), aber ein Nein ist kein Nein: „aber wenn schon kein anal, darf ich doch wenigstens ein bisschen an die rumspielen, gelle“ und dann machen sie es einfach und versuchen dann eben doch, dir den Finger in den Arsch zu drücken. Und die Diskussionen gehen weiter: „was soll das heißen, Küssen ist in dem Metier nicht üblich, das wusste ich noch gar nicht, und wieso das denn, versteh ich gar nicht“ – genau, warum solltet ihr auch nicht auch das allerletzte von uns noch in Anspruch nehmen, wo ihr das meiste von uns eh schon habt? „Küssen macht man doch so beim ficken, und darf ich dir auf den Bauch spritzen, auf die Titten, aufs Gesicht, auf die Fotze – nicht, wieso denn nicht, davon wird man doch nicht schwanger, und ich bin doch gesund wie du siehst“ (ja, der kommt tatsächlich immer wieder, dieser Spruch) und überhaupt, „komm, so ein bissl kann ich meinen Schwanz doch blank an deiner Muschi reiben, passiert doch nichts, sonst ist das doch alles so unpersönlich, da kommt doch gar kein Gefühl auf“.

Und so gehen sie munter den ganzen Tag an unsere Grenzen, und wenn ich eins gelernt habe, als ich meinen „Service“ „erweitern“ musste, damit ich überhaupt was verdien und nicht verhunger, dann das: es ist nie genug. Nie genug „Service“. Bläst du pur und schluckst, bietest du Küssen an, dann wollen sie dich fisten, dir nach einem harten Analfick ins Gesicht spritzen und dich würgen. Bietest du das an, wollen sie dir in den Mund pissen, sich den Arsch lecken lassen und dich mit Deepthroat an den Rand des Erstickens oder Kotzens bringen.

Mal davon abgesehen kann man, wie es beliebt, Dildos und Schwänze in mich reinstecken, wie´s einem halt grad lustig ist, und Gleitgel oder nass machen oder überhaupt vorher mal fragen muss nicht sein, ich bin ja eh den ganzen Tag geil. Am besten mache ich mich auch noch über sie her und tu so, als hätte ich nur auf einen wie sie gewartet. Ich wollte es ja so, heisst es dann danach, hab mich doch benommen wie ein Tier – teilweise vor Schmerz übrigens, physischem und psychischem.

Und wie sie jammern! Gott, haben sie es schwer. Erstmal muss man ja so lange suchen, bis man ein Mädel gefunden hat an dem man sich auslassen kann ohne dass sie „widerspenstig ist“ (= es sich erlaubt, Sexualpraktiken abzulehnen oder Grenzen zu setzen). Besser noch sie ist dauergeil wie eine läufige Hündin, natürlich schön eng, und gut aussehen muss sie freilich, sonst lässt man sich nicht dazu herab sie zu missbrauchen, sonst ist sie nicht annehmbar, und während draußen die Freier zu Recht nicht mal mit dem Arsch angeschaut werden, sind ihnen hier manchmal meine Tittchen zu klein, ist ihnen mein Französisch mit Gummi nicht recht, habe ich nicht die richtige Haarfarbe oder sonstwas. Manchmal sehe ich ihnen auch nicht „deutsch“ genug aus.

Wenn sie sich dann aber dazu „herablassen“ (ja, so empfinden sie es) mich zu ficken, wollen sie das ganze große Programm, der König heißt Kunde, und wann kommt denn schon mal einer, der es mir so richtig, richtig besorgt? Und dann höre ich mir noch so Sachen an wie „ich bin richtig gut im Bett, was? Eigentlich müsste ich ja Geld dafür bekommen“ oder „komm, so schlecht schau ich doch nicht aus, da können wir es doch auch für 80 Tacken machen, oder?“.

Das demütigendste aber ist und bleibt denen auch noch einen Orgasmus vorspielen zu müssen. Dreckshuren sind wir, und wir haben es ja nicht anders verdient, aber jeder braucht uns, um seinen verdammten Schwanz in uns reinzustecken, und jeder verdient an uns. Das ist der Gipfel des Kapitalismus, glaube ich.

Und danach wollen sie dann ganz schnell weg, denn jetzt haben sie ja abgespritzt, dann wird noch kurz gejammert, „für uns ist das auch nicht leicht auszuhalten, dieser Konflikt, aber was soll ich machen, meine Frau ist da nicht so offen!“, kurzes Bad im Selbstmitleid, kurzes Vortäuschen von Reue, kurzer Tätschler auf den Po und „bis bald“. Ein großes Schauspiel und Kino. Das ist der Preis dafür, dass ihnen die Institution Prostitution zusteht, und, das muss man deutlich sagen, sie zahlen ihn gerne, denn er ist gering, geringer im Wert sind dann nur noch wir Huren.

Genug von dem Thema. Ich könnte heute keinen weiteren Kunden mehr machen, das täte mir zu weh. Es sich selbst einzugestehen und offenzulegen fühlt sich tödlich an. Zwar befreit es auch irgendwie, aber die Angst vor Montag ist wieder da, wo ich so verletzlich dann nicht mehr sein darf, wo ich dann wegschieben muss dass ich weiß dass es Missbrauch ist, wenn nicht ein weiterer Mord an meiner Seele geschehen soll.

 

  1. Januar 2005, Huschke Mau

Ist männliche Gewalt immer noch eine Privatangelegenheit?

"If I had a hammer… I'd SMASH Patriarchy"

T via Flickr, [CC BY 2.0] I FOUND IT!

Vergewaltigung in der Ehe wurde in Deutschland erst 1997 zum Straftatbestand. Vorher gab es das nicht, wurde von der Justiz einfach zur Privatangelegenheit erklärt. Denn: Der Staatsanwalt habe im Ehebett nichts zu suchen. Und außerdem herrscht bis heute noch weithin die Meinung vor, ein Ehemann habe nun mal Anrecht auf sexuelle Befriedigung durch die Ehefrau.

Mehr als jede dritte Frau in Deutschland wird im Laufe ihrer Lebens Opfer von männlicher Gewalt. Gewalt gegen Frauen wird überwiegend durch Partner oder Expartner und im häuslichen Bereich verübt. 25% der in Deutschland lebenden Frauen haben Gewalt durch aktuelle oder frühere Beziehungspartner erlebt (häusliche Gewalt).

Obwohl es ein wichtiger Erfolg der Frauenbewegung war, diese Taten im privaten Bereich in die öffentliche Debatte zu holen (Slogan: „Das Private ist politisch“) und ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es sich hier nicht um Einzelschicksale handelt, verweigert sich die Gesellschaft bis heute einer systemischen Analyse. Wenn eine Frau von ihrem Partner getötet wird lesen wir in den Medien immer wieder von „Beziehungsdramen“ oder auch „erweiterten Selbstmorden“ – Verständnis für die Frau die beim gewalttätigen Partner bleibt: kaum vorhanden. Dabei ist die Angst vor Eskalation, wenn man den prügelnden Mann oder Freund verlässt absolut berechtigt, denn: Frauen in Trennungs- oder Scheidungssituationen sind besonders gefährdet, Opfer von Gewalt durch den (Ex)Partner zu werden.

In meiner unmittelbaren Nachbarschaft wurde am 10. Januar diesen Jahres eine 35 Jahre alte Frau leblos in ihrer Wohnung aufgefunden. Der 42 Jahre alte Täter wurde festgenommen, da bei der Obduktion Spuren der Gewaltanwendung festgestellt wurden.  NachbarInnen berichten, sie hätten schon häufiger die Polizei gerufen, und zwar wegen regelmäßiger, ganz offensichtlicher, häuslicher Gewalt nach massivem Alkoholkonsum – Folgen für den Täter: Keine.

Auch fremde Männer können zur Gefahr werden. Amokläufer oder Serienkiller sind – das lässt sich nicht bestreiten – in aller Regel Männer. Immer wieder lesen dürfen wir dann wie zur Beruhigung: Der Täter war psychisch krank. Na, dann ist ja alles halb so schlimm, oder? Fragen, warum es überwiegend Männer sind, die Gewalttaten begehen oder warum die Zahl psychisch kranker Täter zunimmt, werden nicht gestellt. Dann müsste man sich ja kritisch mit dem Zustand der Gesellschaft auseinandersetzen. Lieber beruhigt man sich und uns mit der Feststellung „Die Majorität der Täter ist nicht psychisch krank“. Sicherlich ist auch die Mehrzahl psychisch kranker Menschen nicht gewalttätig. Zu einer pauschalen Beruhigung führt jedoch weder die Feststellung des Gegenübers als „männlich“, noch als „psychisch krank“.

Am 20. Dezember 2016 wurde im Wiesbadener Stadtteil Biebrich die 59 Jahre alte Manuela W. in ihrem Kiosk in Biebrich erschossen. Schwer verletzt wurden ihr 63 Jahre alter Ehemann sowie ihr 21 Jahre alter Neffe. Der 25 Jahre alte Täter Benjamin G. wurde erst nach einigen Tagen gefasst und in U-Haft überstellt. Als Motiv gab der Täter, der in Nähe des Tatorts wohnte, die Absicht eines Raubüberfalls an. Er war unter anderem der Polizei im Zusammenhang mit Betäubungsmitteln bereits bekannt. Aktenkundig war auch ein Verstoß gegen das Waffengesetz. Es war um ein verbotenes Butterfly-Messer gegangen. In seiner Wohnung fanden die Polizeibeamten Einschusslöcher in den Wänden und der Matratze, die von Schießübungen zeugten.

Immer wieder wurde ich in den vergangenen sieben Jahren gefragt ob ich eigentlich keine Angst habe, bis spät abends in einem Kiosk zu arbeiten. Immer antwortete ich mit „Nein“, da ich (bis auf zwei nächtliche Einbrüche) schlicht keinerlei Veranlassung dazu hatte. Knapp zwei Wochen nach dem Biebricher Kiosk-Mord an meiner Namensvetterin, der fast täglich in den Lokalmedien Thema war, und am eben jenem Tag des o.g. Mords in meiner Nachbarschaft, betrat ein mir unbekannter Mann den Laden und forderte mich auf die Kasse aufzumachen und ihm das Geld zu geben. Dabei fielen auch Worte wie „Schlampe“. Auch eine psychische Erkrankung des Täters war durch sein Verhalten offensichtlich. So fragte er mich beispielsweise aggressiv „Hast du mich gerade Hurensohn genannt?“ – obwohl ich vor Lähmung zunächst total sprachlos war und nur langsam überhaupt etwas sagen konnte, was sich dann aber auf den Hinweis der Kameraüberwachung beschränkte und die Aufforderung doch besser ohne Geld zu gehen, weil eh alles auf Band ist. Die Zeit erschien mir endlos und als er den Laden endlich verließ und ich die Tür hinter ihm zugeschlossen hatte, zitterten meine Knie wie Espenlaub. Ich war so verwirrt, dass ich der Polizei am Telefon einfachste Fragen, wie zum Beispiel was er trug, nicht beantworten konnte: So hatte ich unter Vorbehalt angegeben, eine grüne Bomberjacke gesehen zu haben, obwohl auf dem Video dann deutlich eine braune Lederjacke zu erkennen war. Im Moment des Telefonats war die Erinnerung an das was gerade geschehen ist, jedoch so gut wie ausgelöscht. Als die Polizei unmittelbar erschien, während ich noch mit ihrer Kollegin am telefonieren war, hielten die BeamtInnen mir ein Foto vor und fragten „War das der Mann?“ – was ich überrascht bestätigte. Er war also schon bestens bekannt. Wie ich im Nachhinein hörte, terrorisierte er die anderen Läden in der Straße schon eine ganze Weile und ich hatte wohl eher Glück, dass er bei mir bis dato noch nicht aufgetaucht war. Die Kioskbetreiberin gegenüber bekam fast täglich „Besuch“ von ihm, der im Übrigen selbst in der Straße wohnt. Meinen Kollegen hatte er im Übrigen bereits vor zwei Jahren in ähnlicher Weise wie mich bedroht – was der Polizei ebenfalls bekannt war. Einige Stunden nach dem Vorfall bekam ich einen Anruf von der Polizei, man habe den Täter in Gewahrsam genommen und der Psychiatrie überstellt.

Als ich am nächsten Tag bei der Polizei anrief, um zu fragen ob sie das Video brauchen für meine Anzeige, erlebte ich die erste Überraschung: Der Einsatz war zwar vermerkt, ein versuchter Raub, eine Bedrohung oder ähnliches, jedoch nicht. Ich brauche mir aber keine Sorgen machen, der Täter sei ja in Gewahrsam. Als ich das über Whats-App weitergab an meinen Kollegen, schrieb der zurück: „Wieso, der lief doch gerade hier wieder vorbei?“ – was bei mir eine Angstattacke auslöste. Die von mir herbeigerufene Polizei zuckte nur mit den Schultern, war sichtlich angepisst dass man sie überhaupt gerufen hatte (obwohl er in der Zwischenzeit schon wieder den Kiosk gegenüber aufgesucht hatte) und der Beamte meinte „Na dann nehmen wir den halt wieder mit und morgen ist er wieder frei. So läuft das in diesem Land.“

Lange Rede, kurzer Sinn: Ich musste eine Online-Anzeige aufgeben, damit überhaupt gegen den Täter ermittelt wurde, und wenige Wochen später wurde er wie ich erfuhr, wie der Zufall es will im Stadtteil Biebrich, einem Freund gegenüber gewalttätig, und stationär für mehrere Wochen eingewiesen. Medikamentös behandelt, erfuhr er dann wohl auch später über die Lektüre der Polizeiakten über seinen Anwalt, was er in der Zwischenzeit so alles angestellt hat und brach darüber einem seiner Freunde zufolge in Tränen aus. Im Moment ist er wieder zu Hause und offensichtlich friedlich. Die Straße hat zumindest derzeit Ruhe.

Als die Polizistin im Nachgang meiner Online-Anzeige den Fall aufnahm, sagte sie mir nach Betrachtung des Videos: „Hätten wir das damals schon gehabt, wäre er sicher nicht nach einem Tag vom Richter freigelassen worden“. Sie fand es schockierend anzusehen und ihn zweifellos sehr bedrohlich. Insbesondere wie er sich immer über den Tresen zu mir rüber beugte und ein Halsaufschlitzen andeutete.

Gestern nun erhielt ich Post von der Staatsanwaltschaft, darin heißt es auszugsweise (Fehler im Original!):

In dem Ermittlungsverfahren gegen … wegen des Verdachts der Bedrohung, Beleidigung … wird die Anzeigenerstatterin mit der Strafanzeige vom 11.01.2017 auf den Weg der Privatklage verwiesen.

Die Staatsanwaltschaft darf … von Amts wegen nur tätig werden, wenn ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht. Die Prüfung des Sachverhalts hat ergeben, dass diese Voraussetzung hier nicht vorliegt … Maßgebend für die Bewertung des angezeigten Einzelfalles sind folgende Umstände: Der unter einer Pschose leidende Beschuldigte betrat am 10.01.2017 den Kiosk der Anzeigenerstatterin und verwickelte diese in ein Gespräch. In diesem Rahmen zwischenzeitlich hervorgebrachten Äußerungen wie „Mach die Kasse auf!“ entkräftete er dabei unmittelbar mit den Worten „Alles nur Spaß“, womit ein Anfangsverdacht für einen versuchten Raub, auch im Hinblick auf die psychische Erkrankung des Beschuldigten nicht angenommen werden konnte. Die Anzeigenerstatterin fühlte sich durch die weiteren Gesten und Aussprüche des Beschuldigten („Schlampe“, Andeuten des Halsaufschlitzens) jedoch in ihrer Ehre gekränkt und bedroht. Der Verletzten steht es frei, gegen den Beschuldigte im Wege der Privatklage bei dem Amtsgericht vorzugehen. Dieser Weg reicht aus, ihr Rechtsschutz zu gewähren und Genugtuung zu verschaffen. … Der Erhebung der Privatklage muss in aller Regel eine Sühneverhandlung vorausgehen.

Halten wir fest:

  • Wer psychisch krank ist, stellt für die Staatsanwaltschaft offenbar pauschal keine Gefährdung für die öffentliche Sicherheit dar, selbst dann nicht, wenn er der Polizei bereits einschlägig bekannt ist.
  • Als Betroffene bleibt mir der Weg einer Privatklage, unter Einsatz privater Mittel, damit ich meiner „gekränkten Ehre“ „Genugtuung“ verschaffen kann.

??? WHAT THE HELL ???

Ich habe die Anzeige ganz sicher nicht gestellt, weil mich jemand „Schlampe“ genannt hat – Dann würde ich doch gar nicht mehr fertig werden mit Anzeigen schreiben, so oft wie das on- und offline passiert.

Ich habe die Anzeige gestellt, weil ich mich in der konkreten Situation ernsthaft bedroht gefühlt habe.

Ich habe die Anzeige gestellt, damit die Tat aktenkundig wird und niemand sagen kann „Wir haben von nichts gewusst“.

Mich interessiert keine „Genugtuung“ für irgendeine vermeintlich „gekränkte Ehre“ – mich interessiert ob und welche Maßnahmen ergriffen werden, damit keine weiteren Menschen geschädigt werden.

Musste es erst zu einer weiteren Tat mit tatsächlicher körperlicher Gewaltanwendung kommen, bis man sich endlich veranlasst sah den Täter vorrübergehend „aus dem Verkehr zu ziehen“?

Wer hätte eigentlich die Verantwortung übernommen, wenn diese schlimmer (zum Beispiel tödlich) ausgegangen wäre?

Was wäre gewesen, wenn mich das Erlebnis psychisch so stark beeinträchtigt hätte, dass mir die Tätigkeit im Laden nicht mehr möglich wäre?

Ganz allgemein gesprochen: Wie viele (insbesondere tödlich endende) Taten hätten eigentlich bereits verhindert werden können, bzw. könnten zukünftig verhindert werden, wenn man vorliegende Hinweise ernst nehmen würde?

Und: Können wir vielleicht endlich aufhören, männliche Gewalt immer und immer wieder zu einem privaten Problem zu machen?

Die Hure ist schuld

Fight Sexism Graffiti

by Metro Centric via Flickr, [CC BY 2.0]

Bushido und Kollegen haben angeklopft – der linke deutsche Indie-Pop hat aufgemacht. Dass „Singer-Songwriter vom Musikgymnasium“ jetzt auch Slut-Shaming im Repertoire haben, findet „Die Zeit“ derweil „bemerkenswert“.

Wir müssen unsere Männlichkeit wieder entdecken. Denn nur wenn wir unsere Männlichkeit wiederentdecken, werden wir mannhaft. Und nur wenn wir mannhaft werden, werden wir wehrhaft, und wir müssen wehrhaft werden, liebe Freunde!

Björn Höckes Plädoyer für mehr deutsche Männlichkeit 2015 in Erfurt war so derbe autsch, oder? Auf der Fremdschämskala von 1-10 ne‘ glatte 11! Und trotzdem: Die Rufe nach Rückbesinnung auf deutsches Machotum sind voll im Trend – zunehmend überall, zunehmend links von Björn und Frauke. So ist auch Zeitjournalist Lars Weisbrod begeistert auf den Zug nach vorvorgestern aufgesprungen und feiert mit seinem Artikel „Du Nutte“ etwas, das er in einem argumentativ so halsbrecherischen wie dürftigen Akt die „Remaskulinisierung“ der deutschen Popmusik nennt.

Diese, wenn man so will, neue deutsche Männlichkeit besteht für ihn nämlich nicht etwa in neuem Mut zu revolutionären Lyrics mit politischer Kante, die die Mächtigen geißeln und die A&R’s der Plattenfirmen vor Verzweiflung in die Kragen ihrer Camp-David-Poloshirts beißen lassen. Nein und weit gefehlt!
Männlichkeit, wie sie Weisbrods Text versteht, meint eigentlich nur das hier: Mal wieder gepflegt Hure sagen zu einer, die nicht mit dir will.

Weiterlesen

Mehr Feminismus in der L-Community (und umgekehrt) – ein Plädoyer

Anlass für diesen Text: Die Ankündigung einer „European Lesbian* Conference 2017“ (1) mit folgender Erläuterung:

„Our aim is to hold an inclusive European Lesbian* Conference. We insist on calling it a lesbian conference although we recognize that, as with any category or label, it may be contested and insufficient to describe the diversity of our communities. We are aware that many previous lesbian gatherings have struggled with issues about who should or should not be included at the conference. However, using the word “lesbian” is part of the political struggle for visibility, empowerment and representation.
Therefore we will use “lesbian*” with an asterisk, so as to include anyone who identifies as lesbian, feminist, bi or queer, and all those who feel connected to lesbian* activism.“

Soweit.

Trotz des Instant-Dementi mit dem * und der dazugehörigen Erläuterung war der erste Kommentar, der mir auf einer größeren englischsprachigen Facebookseite zu der Konferenz begegnete und auf der ich die Konferenz gefunden hatte, ein Wutgeheul darüber, dass „gay women“ – also „schwule Frauen“ hier eine Konferenz hätten, ohne sich im geringsten zu bemühen „Transpersons“ einzubeziehen und wieso ihnen dies gestattet würde.

Was mich zu „Beißreflexe“ von Patsy L’Amour LaLove bringt, und zu der Hoffnung, dass sich die Queer-Community endlich ihren inneren Problemen widmet anstatt immer wieder ausgerechnet und fast ausschließlich auf Feministinnen oder Lesben loszugehen.

Weiterlesen

Beißreflexe – Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten

Beißreflexe - Buchcover

Beißreflexe - Querverlag, 2017

Heute scheint es selbstverständlich, dass queer irgendwie alles ist, was sich selbst eine Abweichung von Norm zuschreibt. Niemand will heute mehr normal sein, also sind alle queer, denn jede sexuelle Differenz, jeder Fetisch wird zum Bestandteil einer Identität.

Ein AutorInnen-Kollektiv rund um Patsy L’Amour lalove hat einen Sammelband herausgebracht, dessen Beiträge sich kritisch mit der queerfemistischen (Netz)szene (in Berlin) und den dort vorherrschenden Strukturen, der Meinungs- und Diskussionskultur und ihren Reglements auseinandersetzen. Auch wenn Kritik und das Aufzeigen dieser destruktiven Strukturen und Dynamiken bereits stattgefunden hat und glücklicherweise zunimmt: Die Beiträge füllen in ihrer Komprimiertheit und Klarheit eine Lücke und eine längst fällige und breite Debatte könnte mit dem vorliegenden Band angestoßen werden (oder schon angestoßen worden sein, das illustriert jedenfalls das korrespondierende Twitter-Spektakel).

Die AutorInnen widmen sich den übergeordneten Themen Betroffenheit, Schmutzräume und Trigger, Privilegiencheck, Queere Theorie, Pinkwashing und Antisemitismus, Queering Islam, Queer in Berlin.

Weiterlesen

Kulturrelativismus vs. Universalismus. Oder: Warum der Kontext immer eine Rolle spielt

Pixabay, Public Domain CCO

Radikalfeministische Theorie nimmt in hohem Maße Bezug auf wissenschaftliche Erkenntnisse und empirische Befunde. So begründen sich abolitionistische Positionen (die auf die Abschaffung der Prostitution abzielen) insbesondere in wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Tatsache, dass vor allem marginalisierte (arme, ethnisch diskriminierte) Frauen in der Prostitution landen, und solche, die sexuelle (oder andere) Gewalterfahrungen machen mussten. Auch historisch-feministische Analysen bezüglich der gesellschaftlichen Position der Frau und der Reproduktion der Unterordnungsverhältnisse durch die Prostitution spielen eine bedeutende Rolle. Es ist sinnvoll und zielführend so vorzugehen, auch in Bezug auf andere gesellschaftliche Phänomene.

Leider werden in meinen Augen öfter mal einige Dinge durcheinander gebracht und mit wissenschaftlichen Begriffen oder Konzepten umher geworfen, deren Hintergründe vielleicht nicht immer so klar sind. Dieser Beitrag versucht hier ein wenig zu erklären und Ordnung zu schaffen. Dabei gilt: Ein Blogbeitrag soll und kann keine wissenschaftliche Abhandlung sein.

Grundsätzliches zu wissenschaftlichen Konzepten

Sozial- und Geisteswissenschaften versuchen Gesellschaft und gesellschaftliche Mechanismen erklärbar zu machen. Man spricht deshalb auch von der „Psychologie der Gesellschaft“. Individuelles und menschliches Verhalten wird demnach in Bezug auf das Kollektiv (die Familie, die Peer Group, die Subkultur, die Gesellschaft eines Landes, …) analysiert.

Nicht nur weil gesellschaftliche Entwicklungen nicht statisch sind, sondern ständigen Veränderungen aufgrund vieler Faktoren unterworfen sind, kann man diese Analysen auch als Annäherung an Phänomene verstehen, die immer wieder weiterentwickelt und überprüft werden müssen. Selbst eine Theorie, die im Verlaufe weiterer Forschung empirisch widerlegt werden kann, kann deshalb durchaus Erkenntnisgewinne hervorbringen. Manche Theorien und Konzepte sind auch in der Lage Teilphänomene zu erklären, scheitern aber in anderen Punkten. Auch müssen Konzepte immer in ihrem historischen Kontext betrachtet werden.

Gesellschaftswissenschaftliche Analysen sind nicht vergleichbar mit mathematischen Gleichungen: Einmal aufgestellt, kaum mehr in Frage gestellt. Das ist der Komplexität menschlichen Verhaltens und sozialer Interaktionen geschuldet. Und trotzdem gelingt es ihnen Dinge zu erklären und begreifbar zu machen. Das müssen wir uns vergegenwärtigen.

Ethnologische Paradigma – ein Kurzüberblick (= Wissenschaftliche Ebene)

Die Ethnologie ist eine Wissenschaft, die sich traditionell mit anderen Gesellschaften und Kulturen („dem Fremden“) auseinandersetzt, während die Kulturanthropologie/Volkskunde sich eher mit der heimischen Gesellschaft und Kultur auseinandersetzt („das Eigene“). In der zeitgenössischen Wissenschaft sind die Grenzen nicht mehr ganz so starr, so befassen sich sehr viele Ethnographien auch mit Aspekten der „eigenen“ Kultur. Das Fach hat im Laufe der Zeit vielfältige und tiefgreifende Wandel durchgemacht: Von der Lehnstuhlethnologie (ForscherInnen, die am heimischen Schreibtisch Theorien entwickelten) hin zu verschiedenen Formen des Eintauchens in das Untersuchungsobjekt (langzeitige Feldstudien, „going native“, …). Auch die theoretischen Konzepte wurden entwickelt, diskutiert, weiterentwickelt oder verworfen. Ethnologische Forschung arbeitet in hohem Maße deskriptiv (beschreibend). Detaillierte Aufzeichnungen und Protokollierungen sowie Tonband- und Filmaufnahmen sollen es Dritten ermöglichen Gedankengänge nachvollziehen und einer kritischen Überprüfung unterziehen zu können. Das ist wichtig, da Interpretationen nie frei von eigenen Denk- und Wertungsschemata sind.

Folgende wichtigen Strömungen werden in Bezug auf Kulturentwicklung unterschieden (Achtung, nicht vollständig!):

Evolutionismus (18. /19. Jahrhundert)

Der Evolutionismus der frühen Lehnstuhlethnologie ging in seiner darwinistischen Prägung aus von einer unilinearen Gesellschafts- und Kulturentwicklung, die jede Gesellschaft in der gleichen Weise durchlaufen werde. Adam Ferguson (1723-1816) beispielsweise prägte das bekannteste Drei-Stufen-Modell:  Wildheit –> Barbarei –> Zivilisation. Den „primitiven“ Völkern wurden also „entwickelte“ Völker gegenüber gestellt und eine klare Wertung vorgenommen. Bei James George Frazer (1854-1941) ging hingegen von folgendem Modell aus: Magie -> Religion –> Wissenschaft.  Diese Theorie wurde kritisiert für ihren Ethnozentrismus und ihre wenig fundierten Kenntnisse über andere Kulturen.

Evolutionistische Arbeiten waren stark geprägt von kolonialistischen Vorstellungen über „die Anderen“. Relikte evolutionistischen Denkens in politischen Diskussionen finden sich auch heute noch sehr oft in politischen Diskussionen, wenn andere Kulturen als „rückständig“ beschrieben werden und die eigene als „weiterentwickelter“. Oder wenn gesagt wird eine Gesellschaft ist noch „im Mittelalter steckengeblieben“.

Kulturrelativismus (auch: Amerikanische Kulturanthropologie) (19./20. Jahrhundert)

Der Begründer der amerikanischen Kulturanthropologie ist Franz Boas (1858-1942), der stark beeinflusst wurde vom Deutschen Historismus. Boas ging davon aus, dass jede Kultur ihre eigene Geschichte hat  (Partikularismus), einzigartig und nur aus sich selbst heraus zu verstehen ist (emische Sichtweise). Er beschreibt Kultur als individuellen Lernprozess (Enkulturation). Im Gegensatz zu den Evolutionisten setzte er stark auf empirische Forschung. Boas Schüler führten umfangreiche Feldstudien in vielen Teilen der Welt durch. Zu seinen Schülerinnen der 2. Generation gehörten Margaret Mead (1901-1978) und Ruth Benedict (1887-1948), die beide die culture and personality studies entscheidend prägten – das Banard College an dem er unterrichtete war ein College ausschließlich für Frauen.

Positiv hervorzuheben ist, dass der Kulturrelativismus mit der Vorstellung der Überlegenheit des „Eigenen“ brach und anderen Kulturen eine Eigenständigkeit zugestand und diese nicht mehr einer vergleichenden und hierarchisierenden Wertung unterzog. Auf die Kritik, die er auf sich zog wird zu einem späteren Zeitpunkt im Text näher eingegangen.

Funktionalismus/Strukturfunktionalismus (auch: Britische Sozialanthropologie) (19./20. Jahrhundert)

Bronislaw Malinowski (1884-1942) gilt als Begründer des Funktionalismus. Er betrachtete gesellschaftliche Phänomene nach ihren Funktionen zur Erfüllung biologischer und abgeleiteter Bedürfnisse. Bei der Betrachtung der Institutionen ist für ihn deren Effizienz diesbezüglich relevant. Kultur ist die Summe der Institutionen. Der Funktionalismus wurde von Edward Evan Evans-Pritchard (1902-1973) als unzureichend kritisiert, da er der Meinung war man müsse erst die innere Struktur einer Gesellschaft verstehen, bevor eine funktionale Interpretation vorgenommen werden kann. Zeitgleich entwickelte Alfred Radcliffe-Brown die Theorie des Strukturfunktionalismus: Geschichte, Struktur und Komplexität werden zum zentralen Zugang für die Rolle sozialer Institutionen. Die Sicht der Angehörigen einer Gesellschaft ist entscheidend für die Bewertung einer gesellschaftlichen Institution, die nur aus ihrem Kontext heraus erklärbar ist. Da Struktur-/FunktionalistInnen von universellen Merkmalen aller Menschen ausgehen stehen sie in evolutionistischer Tradition und orientierten sich an weltweiten Gemeinsamkeiten kultureller Phänomene.

Neoevolutionismus (20. Jahrhundert)

Seit den 1930er Jahren und nach dem Zweiten Weltkrieg wurden neoevolutionistische Theorien entwickelt und weiterentwickelt und erlebten ihren Durchbruch in den 1960er Jahren. NeoevolutionistInnen gehen davon aus, dass gesellschaftliche Entwicklungen unterschiedlich verlaufen können, auch rückwärts. Damit wird der Idee der Entwicklung von der Rückständigkeit hin zum sozialen Fortschritt eine Absage erteilt: Der Neoevolutionismus verzichtet auf Werturteile und Vermutungen über den Untersuchungsgegenstand und setzt auf nachprüfbare empirische Belege. Einige NeoevolutionistInnen plädieren auch dafür keine hierarchische Bewertung der Kulturphänomene vorzunehmen.

Exkurs:  Trommelnde Frauen oder: Warum kontextbezogene Betrachtungen wichtig sind

Die große Errungenschaft aus den kulturrelativistischen Theorien ist die Erkenntnis, dass für das Verständnis kultureller Phänomene ein Eintauchen in die Denk- und Wertesysteme des Untersuchungsgegenstands unabdinglich ist, da es sonst unweigerlich zu Fehlinterpretationen kommt. Dies soll an einem Beispiel, mit dem ich ausführlich befasst habe, verdeutlicht werden.

Theodor Baker stellte 1882 die These auf, dass Frauen nicht gleichermaßen an indigener Musik (hier gemeint sind die First Nations in Kanada und den USA) partizipieren wie Männer. Auch heute noch wird die Repräsentation von Frauen am PowWow (Algonkin für Ratsversammlung, Zusammenkunft von nordamerikanischen Indigenen um gemeinsam zu singen, tanzen, storytelling, diskutieren, …) marginalisiert: Der PowWow sei männlich dominiert, die Rolle der Frau sei auf die einer Backgroundsängerin beschränkt, usw. Erst Ende der 1980er und in den 1990er Jahren setzte sich die Erkenntnis bei den ForscherInnen durch, dass indigene Frauen immer eine wichtige Rolle in der indigenen Musik gespielt haben und Hatton/Vander stellen fest, dass Frauen in vielen nördlichen Gemeinschaften aktiv und gleichberechtigt in die PowWow Musik involviert sind.

Trommeln ist von zentraler Bedeutung in der indigenen Musik. Die Beobachtung, dass es häufig Männer sind die trommeln führte ohne emische Betrachtungsweise der indigenen Kulturen zu Fehlinterpretationen.

Die Bedeutung der „Big Drum“ geht auf Wiyaka Sinte Win (Tail Feather Woman) zurück, einer Dakhota-Frau, die Ende des 19. Jahrhunderts lebte. Die Geschichte ist heute unter den Ojibwe weiter verbreitet als unter den Dakhota und es gibt zahlreiche Variationen, aber die Kerngeschichte lautet: Wiyakas Dorf wurde von amerikanischen Soldaten (blue coats) angegriffen. Sie versteckte sich in einem See, die meiste Zeit unter Wasser. Sie wandte sich hilfesuchend an den Schöpfer, der ihr die Vision der „Big Drum“ brachte: Das Schlagen der Trommel würde den Menschen Heilung und Einheit bringen (weshalb man heute auch von einer „Healing Ceremony“ spricht). Tail Feather Woman verließ geleitet durch den Ruf eines Spirits und der Hilferufe der Familie das Wasser und wurde von den Soldaten nicht gesehen, weil sie für diese unsichtbar war. Erschöpft und krank fand sie ihre Familie, die sie gesund pflegte. Sodann zog sie durch das Land und erzählte den Menschen von ihrer Vision und brachte die „Big Drum“-Zeremonie überall hin. Bei der ersten Zeremonie wurden amerikanische Soldaten durch das Schlagen der Trommel aufmerksam und dachten es handele sich um ein Kriegsfest – als sie aber in das Dorf kamen saßen jedoch alle friedlich zusammen. Die Soldaten wurden eingeladen, man aß und trank zusammen und ging in Freundschaft auseinander.

Der Trommel, die den Frieden bringt, symbolisiert den Herzschlag von Mutter Erde. Es herrscht die Vorstellung einer komplementären Beziehung zwischen Männern und Frauen. Die Trommel ist weiblichen Geschlechts (essence of women`s spirit) und wurde den Männern von einer Frau gebracht. Frauen sind in der Vorstellung der indigenen Gesellschaften bereits heilig, stark und machtvoll dadurch, dass sie gebären können, die Schmerzen ertragen und Leben schenken können. Männer hingegen müssen die Erdverbundenheit und das Gleichgewicht mit der Natur durch das Trommeln jedoch erst herstellen. Auch wird durch das Trommeln das Herstellen von Frieden gewährleistet, gegen die kriegerische Natur der Männer. Die weibliche Trommel und die männlichen Trommler symbolisieren das Idealbild der Beziehung zwischen Mann und Frau.

Zu der Frage ob Frauen trommeln dürfen gibt es zwischen den Stämmen unterschiedliche Meinungen:

1)      Ja, aber es ist nicht notwendig

2)      Ja, und deshalb tun sie es auch

3)      Nein

In nur sehr wenigen Stämmen ist es Frauen verboten zu trommeln. In einigen Fällen sehen Frauen das Verbot als Resultat der Internalisierung der Frauenverachtung in Folge des Kolonialismus (Übernahme von weißen Männern).

Frauentrommelgruppen sind sehr willkommen auf den PowWows und nur auf sehr wenigen nicht erwünscht. Es gibt Mixed und All Women Drum Groups. Die einzige Einschränkung: Während der Schwangerschaft oder der Menstruation darf nicht getrommelt werden, da die Frauen währenddessen besonders stark sind und die starke Verbindung mit der Trommel diese zum Zerbrechen bringen könnte.

Man muss sich also hüten aus einer Beobachtung, dass mehr Männer als Frauen auf öffentlichen Veranstaltungen trommeln, die falschen Schlüsse zu ziehen – oder im politischen Kontext verfehlte Forderungen.

Kulturrelativismus versus Universalismus ( = Politische Ebene)

Wenn politisch diskutiert wird, kommt es häufig zu einem Streit zwischen kulturrelativistischen und universalistischen Standpunkten.

Beim Universalismus handelt es sich um eine ethische Betrachtung. Ein ethisches Prinzip wird zu einem Universalismus, einem Ordnungsgesetz erhoben. Die Moralphilosophien von Platon, Aristoteles, Hegel oder Kant oder die Menschenrechtspositionen gehen davon aus, dass es nur eine gültige Ethik gibt, die für alle Menschen in allen Situationen gilt.

Der Kulturrelativismus hingegen versucht die Einstufung aller anderen Kulturen im Hinblick auf die eigene Weltanschauung zu vermeiden: Jedes Moralprinzip ist nur innerhalb einer bestimmten Kultur gültig. Deshalb gilt er in den Augen von Verfechtern der allgemeinen Menschenrechte als verpönt: KulturrelativistInnen sind in deren Augen Menschen, die den Verstoß gegen Menschenrechte als entschuldbar betrachten.

Aber: Das Prinzip der Enkulturation (Sozialisationsprozess) weist in den kulturrelativistischen Positionen darauf hin, dass Moralprinzipien wie zum Beispiel die Menschenrechte nicht einfach da sind und schon immer da waren, sondern sie wurden erst erworben. Der Universalismus hingegen geht davon aus, dass die Menschenrechte (oder andere Moralprinzipien) aus dem abgeleitet werden, „wie jeder Mensch im inneren Kern ist“ (naturalistische Argumentation).

Zwischen diesen beiden Positionen tobt so ein erbitterter Streit:

UniversalistInnen sind der Meinung, dass durch den Kulturrelativismus alle Grausamkeiten, die Menschen angetan werden, ihre Rechtfertigung finden und letztlich dazu diene, dass Kulturen sich gegen Kritik von außen völlig abschotten können. Die Kritik von FGM (Female Genitale Mutilation) würde damit beispielsweise demnach im Sande verlaufen.

KulturrelativistInnen sehen im Universalismus und den Menschenrechten dagegen ein Produkt von „Dead White European Males“ – verwiesen wird auch darauf, dass diese Gleichheitskonzepte die angeblich universell waren, immer Menschengruppen ausschlossen (im alten Griechenland zum Beispiel waren nur Bürger der Stadt inkludiert, Menschenrechte waren zunächst als Männerrechte konstituiert und schlossen Frauen von ihrer Gültigkeit aus).

Eine Kompromissposition strebt deshalb eine Kombination von kulturrelativistischen und universalistischen Prinzipien an, zum Beispiel der „schwache“ Kulturrelativismus, dem an kulturspezifischen Formen und Interpretationen von Menschenrechten gelegen ist. Dem entspricht u.a. das Vorgehen von Entwicklungszusammenarbeits-Projekten auf ein erkanntes Problem Möglichkeiten zur Vermittlung zu finden, die von den Menschen auch angenommen werden.  Ein weiterer Ansatz ist es die drei Generationen der Menschenrechte unterschiedlich zu behandeln, sprich die Menschenrechte der ersten Generation gelten als unantastbar, bei denen der zweiten und dritten Generation sind zumindest Diskussionen möglich.

Exkurs: Amnesty und die Prostitution

Amnesty International begründet seine Position der vollständigen Entkriminalisierung der Prostitution (inklusive Bordellbetrieb und Freiertum) mit dem Argument der Menschenrechte. Nach deren Meinung fällt explizit der Zugang von Männern zu Prostitution unter deren Menschenrechte, da Sexualität (am lebenden Objekt) als Grundbedürfnis konstruiert wird.

Amnesty Prostitution Policy document S.6

Amnesty Prostitution Policy document S.5

Dieses Beispiel einer bekannten und vielfach geschätzten Menschenrechtsorganisation sollte zeigen, dass das mit dem Universalismus mindestens auch nicht so eindeutig oder einfach ist.

Fazit

Wenn ich versuche eine Kultur aus sich heraus zu verstehen und soziale Mechanismen nachzuvollziehen, heißt das nicht gleichzeitig, dass ich sie legitimiere.

Wissenschaftliche Konzepte sind erst einmal wissenschaftliche Konzepte, jeweils mit ihren Vor- und Nachteilen. Manche erweisen sich als hilfreich, manche als unbrauchbar

Wissenschaftliche Konzepte sind immer auch ein Spiegel ihrer Zeit – Denk- und Wertstrukturen einer Epoche spiegeln sich mitunter in ihnen wieder.

Aus feministischer Sicht ist es nicht problematisch kulturrelativistisch zu analysieren und zu verstehen – problematisch wird es, wenn (physische oder symbolische) Gewalt gegen Frauen mit dem Kultur-Argument legitimiert wird.

Aus feministischer Sicht birgt aber auch der Universalismus die Gefahr Gewalt gegen Frauen als ethisch korrekt zu proklamieren und damit zu legitimieren (siehe das Amnesty-Beispiel).

In Kombination mit evolutionistischen Denkweisen tappt man aus feministischer Sicht meines Erachtens ebenso in eine Falle, wenn man die Lage der Frau in der „westlichen“ (zivilisierten) Welt im Vergleich zu anderen (barbarischen, im Mittelalter feststeckenden) Kulturen als „freier“ und Fortschritt hierarchisiert. Hier besteht dann manchmal auch die Gefahr des Kulturrelativismus gegenüber der eigenen Kultur.

Andrea Dworkin und andere Radikalfeministinnen haben deutlich gemacht wie die vermeintliche sexuelle Befreiung zu einem Bumerang für die Frauen in den „westlichen“ Gesellschaften geworden ist. Der Soziologie Bourdieu schreibt in seinem beachtenswerten Buch „Die Männliche Herrschaft“ (im Rückgriff auf feministische Analysen) jene Anpassungsleistungen der männlichen Herrschaft, die sich in immer anderen Ausprägungen reproduziert.

Frauen überall auf der Welt teilen sehr ähnliche Unterdrückungssymptome. Andrea Dworkin schlug vor die gegen Frauen ausgeübte Gewalt durch Männer als Maßstab für den Befreiungsgrad der Fau in einer Gesellschaft zu nehmen. Wenn mehr als jede dritte Frau in Europa Opfer von männlicher Gewalt wird, wenn in „westlichen“ Ländern die kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Frauen hoch organisiert und legalisiert als Normalität gilt, erscheint es mir zynisch unsere Lage als Frauen als auch nur annähernd frei zu bezeichnen. Meine These wäre demnach: Ja, die Unterdrückung der Klasse Frau kommt in unterschiedlichen kulturellen Kontexten unterschiedlich daher. Wir sollten jedoch nicht den Fehler machen uns in einer Sicherheit zu wiegen in der wir uns nicht befinden und zu proklamieren wir seien weniger unterdrückt als „die Anderen“. Wir wurden in unsere jeweilige Unterdrückung sozialisiert, deshalb haben wir sie in vielfacher Weise unbewusst schon längst internalisiert. Woher wissen wir ob die Empfindung einer Frau aus einem anderen gesellschaftlichen Kontext, die mit der Hypersexualisierung unserer Gesellschaft und allgegenwärtigen Objektifizierung von Frauen bei uns konfrontiert wird, nicht bei ihr zu ähnlichen Bewertung („Ja in meiner Kultur werde ich unterdrückt, aber zum Glück bin ich noch ein bisschen freier als die…“) führt? Dies bringt uns nicht weiter, wir sollten schlicht dafür kämpfen, dass alle Frauen überall ein Leben ohne Gewalt, in Frieden und und ohne geschlechtsspezifische Unterdrückung leben können.

Buchrezension: Ware Frau. Prostitution, Leihmutterschaft, Menschenhandel

„Ware Frau. Prostitution, Leihmutterschaft, Menschenhandel“ ist die lang ersehnte deutsche Übersetzung von Ekmans bekanntem Buch „Being & Being Bought: Prostitution, Surrogacy & the Split Self“ (im schwedischen Original „Varat och varan: prostitution, surrogatmödraskap och den delade människan“).

Prostitution und Leihmutterschaft scheinen auf den ersten Blick zwei gänzlich unterschiedliche Themen zu sein. Doch Ekman analysiert präzise die beiden ausbeuterischen und menschenverachtenden Systeme und zeigt scharfsinnig die Parallelen auf. Beide Systeme funktionieren durch die Abspaltung des eigenen Selbst der Frauen. Dies ist einerseits ein Selbstschutz, um die Ausbeutung zu ertragen und spielt andererseits den Ausbeutern in die Hände, da dadurch das System aufrechterhalten bleibt.

Weiterlesen

Was bedeutet Solidarität mit Prostituierten?

Seit Tagen treibt mich die Frage um, wie ich ausdrücken kann, was für mich Solidarität mit Prostituierten ist. Der Grund dafür ist das Prostituiertenschutzgesetz, welches diesen Sommer kommt, und die darin enthaltene Anmeldepflicht.

Ich sage das gleich am Anfang: sollte ich jemals wieder anschaffen müssen, weil ich in einer Notlage bin, die jetzt noch nicht abzusehen ist, werde ich mich nicht anmelden. Eher hack ich mir die rechte Hand ab als das das zu tun.

Weiterlesen

Warum Radikalfeminismus nicht „transfeindlich“ ist

Transphobie, laut Duden: „starke Ablehnung von Transsexualität; ausgeprägte Abneigung gegen transsexuelle Personen“, Radikalfeminismus, (lat. radix: Wurzel) will, wie der Name schon sagt, Frauenunterdrückung an der Wurzel packen, diese Wurzel wird im Patriarchat gesehen. Patriarchat bezeichnet eine Jahrtausende alte Gesellschaftsform, die durch die Vormachtstellung von Männern gekennzeichnet ist, und die bis heute unsere gesamtgesellschaftliche Ordnung strukturiert.

Patriarchale Strukturen basieren laut feministisch-historischer Forschung auf der Zueigenmachung und Beherrschung des weiblichen Körpers besonders im Hinblick auf die Funktion der Reproduktion und Generativität, sprich im Fokus dieser Unterdrückung steht insbesondere auch der Faktor Gebärfähigkeit.

Unterdrückung ist dementsprechend immer an den weiblichen Körper gebunden – an den Körper, der gebiert. Dies war und ist auch immer noch Kampffeld männlicher Herrschaft: der weibliche, potentiell gebärende Körper.

Weiterlesen

Die große Scham – Feindbild Frau

Ein Gastbeitrag von M.

We raise girls to each other as competitors
Not for jobs or for accomplishments
Which I think can be a good thing
But for the attention of men.

Ein von Beyoncé gesampelter Ausschnitt der wundervollen Chimamanda Ngozi Adichie bei einem TED Talk zum Thema Feminismus. Ich habe mir das Lied unzählige Male angehört und diese Passage hat mir stets einen Stich bereitet. Die längste Zeit meines Lebens sah ich Frauen als Konkurrenz, ich habe sie teilweise mit einer Inbrunst gehasst, dass ich mich bis heute dafür schäme. Von ganzem Herzen.

Die Unterschiede der Geschlechter wurden mir selten so deutlich wie in der Pubertät und der Loyalität untereinander, die sich damals verstärkt entwickelte. Wie oft hörte ich von Jungs und später auch (jungen und nicht mehr so jungen) Männern das gute alte „Bros before hoes“, was nichts anderes ist als die Übereinkunft, dass Frauen sich zum Ficken und Putzen gut eignen und auch sonst ganz reizend sein können, aber eine echte Verbundenheit nur zwischen Männern bestehen kann. Denn nur Männer sind Menschen. Frauen sind eine Art Wurmfortsatz, Untermenschen, nicht vollkommen, schließlich stammen sie vom Mann ab. Bei uns Mädchen war es so, dass Jungs natürlich auf Platz eins standen, sie waren das Thema unserer Pausengespräche, stundenlanger Telefonkonferenzen und Ursache erbitterter Streits. Letztere insbesondere dann, wenn sich ein bis dato gebildetes Pärchen auflöste und der Junge im schlimmsten Fall eine weitläufige Bekannte oder gar Freundin datete. Es hieß so gut wie nie, dass der Junge ein blödes Arschloch sei, wenn er fremdging, oh nein, es hieß vielmehr, das andere Mädchen sei eine billige Nutte, Schlampe, Fotze… Dass der Mann einen ebensolchen Anteil daran trug wurde geflissentlich ignoriert. Bei den Jungs, denen das auch wiederfuhr, trug – wie könnte es anders sein – ebenfalls ausschließlich das Mädchen die Schuld, die den besten Kumpel vom Weg abbrachte, aber der männlichen Solidarität tat dies durchaus keinen Abbruch, siehe oben. Bei uns Mädchen führten derartige Konstellationen zu jahrelangen, unauflösbaren Zerwürfnissen. Wir sahen es nicht als das, was es war, zwischenmenschliche Beziehungen, sondern die Freundin wurde zur Konkurrenz um die Gunst von Männern. Das Feindbild Frau. Damals fing es an.

Ich hatte selbst mehrmals diese Konstellation in meiner Jugend erlebt und danach große Schwierigkeiten, Frauen zu vertrauen und sie zu mögen. Für mich waren Frauen nur eines – eine unkontrollierbare Gefahr im Kampf um männliche Gunst. Die Verantwortung den fremdgehenden Männern zuzuweisen, darauf kam ich nicht. Denn hinter jedem verführten Mann steht eine Eva, die die Verantwortung trägt. Diesem Konflikt entging ich, indem ich nur noch männliche Freunde hatte (dass diese keine echten Freunde waren, geschenkt, dass ich mir in ihrer Nähe puren Frauenhass angeeignet hatte, ebenfalls), ich ertrug Frauen nicht mehr. Meine Unsicherheit und mein Selbsthass waren gigantisch und Frauen, egal welche, waren nichts anderes als eine Bedrohung. Ich hatte Furcht, meine Freundinnen meinem Partner vorzustellen, weil ich dachte, er würde mich sofort verlassen. Ich wusste nicht einmal, was Solidarität bedeutet. Ich habe Frauen verachtet, weil sie in meinen Augen, den Blick geprägt durch männliche Umgebung, sich als entweder billige Nutten darstellten (große Gefahr) oder als frigide Schlampen (langweilig, aber keine Gefahr, gut zum darüber Lustigmachen). Ich sah in allen Frauen Konkurrenz, und zwar ausschließlich um die Interessen der Männer. An Dinge wie Beruf oder ähnliches habe ich keinen einzigen Gedanken verschwendet. Frauen waren für mich schwach, lasch, und Feministinnen hysterische ungevögelte Irre, die lieber dahin gehen sollten, wo es echte Probleme gibt, denn in Deutschland hatten wir ja mehr als genug erreicht. Auch hat mir mein männlicher Umgang mit größtem Erfolg beigebracht, wie schlecht es sei, eine Frau zu sein, wir wissen es alle, sie sind zickig, hysterisch, dumm, quatschen den ganzen Tag, umso stolzer war ich, mir mit meiner burschikosen Art und der den Kerlen angepassten Sprache einen vermeintlichen Platz unter ihnen zu sichern, als „cooles Mädchen“, das so ganz anders war als die ollen Waschweiber. Dass ich nie zu ihnen gehören würde, merkte ich im Laufe der Jahre. Zwar lästerten wir gemeinsam über schlaffe Hintern, hängende Brüste und kurzhaarige Mannsweiber, aber ich spürte stets eine andere Atmosphäre, wenn ich als Fremde in die ausschließlich männlichen Zirkel eindrang. Ich war nie ein echter Teil dieser Kreise. Warum sie mich duldeten? Ich schätze, weil ich ein attraktives Mädchen war und sie die Hoffnung hatten, mich mal knallen zu können. Denn von echter Nähe, wie es in einer Freundschaft sein sollte, war nie die Rede. Ich akzeptierte diesen traurigen Umstand als mein Schicksal und versuchte, Männern zu gefallen, schminkte mich, trug enge Kleidung, lange Haare, hohe Schuhe, gab mich sexuell betont locker, alles, um die Billigung derer zu erhalten, die das weibliche Dasein so prägend bestimmten.

Ich bin jetzt Mitte 20. Bis vor zwei oder drei Jahren habe ich noch genauso gedacht. Dann kam ein Wendepunkt, als ich mich mit Feminismus, den zu verabscheuen und zu lästern mir ins Fleisch und Blut übergegangen war – ich war so stolz, keine „hässliche Emanze“ zu sein – kennenlernte. Nicht den queeren Feminismus. Dieser ist für mich nichts anderes als ein divide et impera der Frauenbewegung, aber das ist hier nicht das Thema. Den radikalen Feminismus. Je mehr ich davon las, desto mehr spürte ich die universelle Wahrheit dessen. Dass es Kasten gibt, nicht nur in Indien, sondern vor unserer Haustür, und dass sie undurchdringlich sind. Dass Männer einander immer den Vorzug geben werden, immer solidarisch sind, egal, ob sie sich kennen oder nicht, ob sie aus verschiedenen Schichten sind, oder nicht. Egal, welche politische Richtung sie favorisieren. Sie eint eines: das Wissen und die feste Überzeugung der eigenen Herrschaft, und dass Frauen nur da sind, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Unter den Frauen indes kann von so einer Solidarität keine Rede sein. Es gibt keine einheitliche Verbundenheit von Frauen. Sie sind darauf getrimmt, einander auszustechen, ja nicht zusammen zu agieren (Warum gibt es wohl nur den Begriff der Vetternwirtschaft?), einander nicht den Rücken zu stärken sondern sich vielmehr gegenseitig in selbigen zu fallen. Schuld sind andere Frauen. Die, die zu „leicht zu haben“ und eine Gefahr für die Treue der Männer (die sich als willenlose Opfer ihrer Biologie darstellen) sind, die, die keine Kinder wollen, ihre Kinder nicht wie gewollt erziehen, die, die Rabenmütter sind oder Glucken, egal was, eine Frau kann nur verlieren. Und eines kann sie dabei nicht: auf die Solidarität ihrer Geschlechtsgenossinnen zählen. Das Schlimmste für mich ist, dass die größten Kämpfe oft von anderen Frauen kommen, diese der anderen nicht die Butter aufs Brot gönnen. Mit Feuereifer nach Schwachstellen suchen, um sich im Kampf um die Männer höher positionieren zu können.

Ich schäme mich noch heute für mein Verhalten vor einigen Jahren. Inzwischen bin ich es, soweit ich kann, überkommen. Wir Frauen sind geeint durch unsere Körper und Geschlechtsorgane. Wir teilen, egal wo wir sind, dieselbe Erfahrung, nämlich die Objektifizierung durch Männer und die mangelnde Solidarität untereinander. Ersterem können wir kaum begegnen, da bin ich pessimistisch, aber wir können zusammenhalten. Wir können sehen, dass die Zwietracht, die auch von Frauen verbreitet wird, ihren Ursprung in einer zutiefst misogynen Gesellschaft hat. Wir können uns hinter andere Frauen stellen, egal, ob sie rechts oder links sind, religiös oder nicht, das ist bedeutungslos. Bedeutsam ist, dass wir einheitlich gegen sexistische Scheiße auftreten und andere Frauen, die darunter leiden, nicht im Stich lassen. Dass wir den allgegenwärtigen Hass nicht weiter reproduzieren. Andere Frauen nicht mehr verurteilen, für ihre Kleidung, ihre Entscheidungen, ihre Art. Ihre Existenz als Frau. Egal, ob sie uns gefällt oder nicht. Ich hasse Frauen nicht mehr. Ich freue mich über jede selbstbewusste und starke Frau, die ich sehe. Sie sind keine Konkurrenz. Ich hasse das Patriarchat und die Attitüde der meisten Männer. Ich habe begriffen, dass wirkliches Verstehen nur unter Frauen existieren kann. Und dass wir noch einen langen Weg zurückzulegen haben.