Der Radikalfeminismus in Deutschland ist erstarkt

Woman Power Symbol, Feminist Fist

Public Domain C00

Als wir im Jahr 2014 diesen Blog gründeten, geschah dies u. a. aus der gemeinsamen Wut gegen die bestehenden Zustände und weil wir uns in dem, was die feministische Landschaft in Deutschland uns bot, nicht (mehr) aufgehoben und vertreten fühlten. Einige von uns waren lange Zeit sehr intensiv in linken Zusammenhängen unterwegs, um letztlich festzustellen, dass auch hier eine radikale Kritik am Patriarchat lediglich einen weißen Punkt auf der politischen Landkarte bildete.

Der liberale Feminismus und der Queerfeminismus dominierte die Debatten, ließ aber keine Differenzen zu und gab die Meinungen vor, die die Feministin von heute zu den Kernthemen zu haben hatte: Prostitution und Pornografie z. B. galten und gelten hier u. a. als Ermächtigungstool oder als Ausdruck (vermeintlich) weiblicher sexueller Befreiung. Dass aus beiden Institutionen die Unterdrückung der Frau als Klasse nur so herausschreit, stieß und stößt auf taube Ohren. Schließlich sollte es darum gehen, das Patriarchat nicht etwa abschaffen zu wollen und es radikal zu analysieren, sondern sich möglichst gemütlich darin einzurichten: Empowerment und Choice als Wohlfühlkonzepte und individuelle statt universelle Werte. Wie viel eine Frau unterdrückt wird, das bestimmt sie einfach selbst: ganz schön praktisch.

Weiterlesen

#IranProtests: Es geht um alles oder nichts

Manchmal ist das Leben geprägt von merkwürdigen Zufällen. Erst vor knapp zwei Wochen habe ich auf der Plattform eines großen internationalen Buchhandels eine Rezension zu „Islamists Ruined My Iran: The Second Coming“, einem Buch eines jungen, talentierten Autors über die Situation im Iran veröffentlicht, und nur wenige Tage später erlebt das Land Aufstände gegen das Regime, die von ExpertInnen bereits als die größten seit ca. 40 Jahren beschrieben werden.

Seit fünf Tagen ist der Aufstand im vollen Gange, seit mehr als vier Tagen haben Auslands-IranerInnen bedingt durch die Abschaltung des Internets durch das Mullah-Regime, nun bereits keinen Kontakt zu ihren Angehörigen. Nur ca. 5% der Tweets zu den Protesten kommen aus dem Iran selbst, hauptsächlich von Regime-Vertrauten und Funktionären – für die Handvoll anderer Tweets mussten Aktivistinnen mit komplizierten Proxy-Server-Umwegen agieren.

Währenddessen wurden bereits Tausende verhaftet, die Zahl der Todesopfer hat die 200er Marke überschritten. Im „Westen“ wird der Protest verkürzt auf einen Konflikt um eine „Erhöhung der Benzinpreise“, für die die US-Sanktionen gegen das Land verantwortlich seien. Die schiere Verzweiflung (und Wut) ist bei Twitter unten den Hashtags #IranProtests und #Internet4Iran zu spüren: Warum kommt dem Aufbegehren gegen die nunmehr vier Jahrzehnte währende fundamentalistische Herrschaft keine internationale Aufmerksamkeit zu? Und warum ist es so schlecht bestellt um die Solidarität der „freien und demokratischen Welt“?

Das eingangs erwähnte Buch, oder wie der Autor es selbst nennt „Manifest“, zeichnet sich meines Erachtens dadurch aus, dass es zum einen auf knapp 79 Seiten einen sehr kompakten aber sehr umfangreichen Überblick über die Geschichte des Landes und die ökonomischen, sozialen, kulturellen und ökologischen Auswirkungen der „Islamischen Revolution“ von 1979 liefert. Zum anderen gelingt es ihm zwischen struktureller und individueller Ebene zu trennen. Trotz der Schilderung der Ernsthaftigkeit der Lage des Landes, die bereits vor dem 14. November als höchstkritisch zu bewerten war, wird vor allem auch die Verbundenheit zum Land und seinen Menschen und die Hoffnung auf eine Veränderung spürbar. Und, wie er angesichts der neuen Situation konstatiert wird sich in den aktuellen Protesten zeigen, ob diese Veränderung nun eintritt, oder – wenn der Versuch der Befreiung fehlschlägt – die gewaltvolle Reaktion des Regimes jeden Hoffnungsschimmer völlig zunichte macht. Es geht um alles oder nichts.

Wenn es jedoch nicht, wie allenthalben suggeriert, um steigende Benzinpreise geht, um was dann? Zum einen um die Tatsache, dass  das Land, welches einst für Modernisierung stand und für seine Dichtkunst von Autoren wie Hafez oder Rumi bekannt war, von einer „stabilen und prosperierenden Nation“, in eine ernsthafte Wirtschaftsrezession manövriert wurde, die Millionen von Iranerinnen und Iranern in die Armut getrieben hat: Steigende Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Inflation sind nur ein paar wenige Stichpunkte. Zum anderen geht das autoritäre Regime unerbittlich mit seinen KritikerInnen um: Inhaftierungen und Exekutionen sind an der Tagesordnung, freie Meinungsäußerung undenkbar. Die Abwendung von der Religion steht unter Todesstrafe, Händchenhalten eines unverheirateten Paares in der Öffentlichkeit führt mitunter zu stundenlangen Arrestierungen. Ethnische und religiöse Minderheiten werden diskriminiert und verfolgt.

Was bedeutet all dies konkret für das Leben von Frauen im Iran?

  • Insbesondere in der ölreichen, aber dennoch von niedriger Beschäftigung und schlechter Luftqualität geprägten Khuzestan-Provinz und in den westlichen Städten des Irans, sehen sich junge Frauen zur Prostitution aus ökonomischer Not gezwungen. Auch Anzeigen für Organverkäufe sind an der Tagesordnung, die Straßen Teherans von Obdachlosigkeit geprägt.
  • Das Tragen des Hijab ist verpflichtend. Die Initiative „My Stealthy Freedom“, im Jahr 2014 initiiert durch die Aktivistin und Exil-Iranerin Masih Alinejad, zeigt Fotos von mutigen Frauen im Iran, die trotz aller Repression ihre Verschleierung ablegen.  Yasaman Aryani , Monireh Arabshahi und Mojgan Keshavarz zeigten sich am diesjährigen Internationalen Frauentag ohne Hijab und wurden wegen Verstoß gegen das Verschleierungsgesetzes und damit der „Anstiftung und Begünstigung von Verdorbenheit und Prostitution“ zu Haftstrafen von zusammen 55 Jahren verurteilt.
  • Fussballfan Sahar Khodayari , auch bekannt als „Das blaue Mädchen“ schlich sich, wie viele andere Frauen als Mann verkleidet in die iranischen Fussballstadien, und wurde für diese „sündhafte Tat“ verhaftet und zu einer Haftstrafe verurteilt. Nach der Anhörung übergoss sie sich vor dem Gerichtsgebäude mit Benzin und zündete sich an. Sie starb eine Woche später im Krankenhaus. Erst im Oktober diesen Jahres durften Frauen erstmalig nach 40 Jahren wieder offiziell ein Fussballstadion betreten
  • Frauen wie die Rechtsanwältin Nasrin Sotudeh, die sich für die Rechte von Frauen und politisch Verfolgten stark machen, werden wegen „Propaganda gegen den Staat“ inhaftiert und mit Peitschenhieben bestraft. Sie sitzt derzeit im Evin-Gefängnis in Teheran eine Haftstrafe von 33 Jahren ab
  • Die 17-Jährige Nazanin Fatehi erstach im Jahr 2004 in Notwehr einen der drei Männer, die sie und ihre 15-Jährige Nichte vergewaltigen uns wurde hierfür 2006 zum Tod durch Erhängen verurteilt. Erst nach internationalem Protest, inklusive der UN, konnte 2007 ihre Freilassung gegen Zahlung eines „Blutgeldes“ erwirkt werden
  • Homosexuelle Handlungen werden im Iran bestraft– bei Männern sofort mit der Todesstrafe, bei Frauen zunächst mit 100 Peitschenhieben und bei der vierten Wiederholung ebenfalls mit der Todesstrafe. (siehe auch)
  • … Die Liste könnte wohl  endlos weitergeführt werden

Die aktuellen Proteste sind deshalb kaum überraschend geprägt von Rufen nach dem Sturz des „islamistischen Regimes“ und der Beendigung der fundamentalistischen Herrschaft.

Unter den Todesopfern sind auch Frauen. Die wenigen verfügbaren Videoaufnahmen zeigen uns, dass Frauen bei den Protesten aktiv mitmischen: So sehen wir eine Frau, die ein antiamerikanisches Banner vom Mast reißt mit den Worten „Unser Feind sind nicht die USA, unser Feind derzeit ist das Iranische Regime“. Oder eine Frau, die sich ihren verpflichtenden Hijab auf einer Brücke unter Applaus der Umstehenden vom Kopf reißt und ruft „Wir leiden seit nunmehr 40 Jahren“. Die Iranische Autorin Roya Hakakian schreibt auf Twitter „So sieht #MeToo im Iran aus: Frauen, die seit 40 Jahren unter der Geschlechter-Apartheid leiden, sind führend bei den #IranProtests“

Was erwarten die Menschen aus dem Iran nun von uns und der internationalen Community? Vor allem internationalen Druck auf das fundamentalistische Regime den Zugang zum Internet im Land wieder für alle herzustellen. Da die Menschen vor Ort derzeit keine Stimme haben, ist es essentiell, dass wir nicht wegschauen, sondern unsere Stimmen erheben. Das Regime muss nun endlich, nach 40 Jahren Tyrannei gegen seine Bevölkerung zur Rechenschaft gezogen werden. 

Frauen, werdet Juristinnen!

Manchmal frage ich mich, ob es mir irgendwie Spaß bereitet, mir das Leben besonders schwer zu machen. Als wäre es nicht schon schwer genug als Feministin und Lesbe im Patriarchat, studiere ich auch noch einen der wohl patriarchalischsten Studiengänge überhaupt: Jura. 

Ich kenne keine einzige andere feministische Juristin oder Jurastudentin, zumindest nicht im realen Leben. Nirgendwo ernte ich so angewiderte Blicke in Bezug auf meine Körperbehaarung wie im Juridicum. Ich freue mich, wenn ich in der Literaturliste meiner Hausarbeit mal eine einzelne Autorin aufzählen kann (die ich mühsam gesucht habe, denn die gängige juristische Literatur ist Männerterrain). Vermutlich fühlt man sich in kaum einem anderen Studiengang so alleingelassen und ins kalte Wasser geworfen. Es ist ein Studium für EinzelgängerInnen- und vielleicht liegt es mir auch deshalb so sehr. Ich habe mich mein Leben lang allein durchgekämpft und mein Ding gemacht- das setze ich in meinem Studium jetzt fort. Es ist nicht immer leicht; um ehrlich zu sein, ist es sogar meist sehr schwierig, aber für mich steht fest, dass ich diesen Weg gehen möchte.

Denn: Ich will Juristin werden. Ich liebe Jura, trotz allem. Ich liebe es, mich in Fälle einzuarbeiten, immer tiefer in die Materie abzutauchen, zu merken, wie meine Argumentationsfähigkeit und meine Allgemeinbildung immer weiter wachsen. Oft werde ich gefragt, wie das denn eigentlich zusammen passt: Jura studieren und Feministin sein. Anfangs war Jura ein bisschen so etwas wie mein dunkles Geheimnis, das nicht so recht zu meinem sonstigen Leben passen wollte. Mittlerweile habe ich festgestellt: Jura und Feminismus, das schließt sich nicht aus, ganz im Gegenteil. Recht organisiert Herrschaft (wie Catherine MacKinnon prägnant auf den Punkt brachte), insofern ist es nur logisch, dort anzusetzen, wenn man Herrschaft verändern möchte. 

Jura ist ein sehr patriarchalischer Studiengang, das ist wohl ein offenes Geheimnis. Wer Jura studiert, braucht ein enorm dickes Fell. Der Druck und der Konkurrenzkampf sind oft kaum auszuhalten, ab dem ersten Semester schwebt ein unsichtbares Schwert namens Staatsexamen über einer und an allen Ecken und Enden wird geraten, man solle vielleicht doch etwas anderes machen, wenn man sich nicht sicher sei, ob man wirklich gut genug ist für Jura. Letztes Jahr erschien eine Studie über die Benachteiligung von Frauen im mündlichen Staatsexamen. Je höher die Punktzahl, desto größer die Geschlechterdifferenz (bei 9 Punkten, d. h. Prädikatsexamen, liegt die Differenz bei 12 %; ab 11,5 Punkten – spätestens da beginnt ist im juristischen Staatsexamen das Sahnetortenbuffett – liegt die Differenz bei 32 %). Deutlich geringer fällt die Differenz übrigens aus, wenn eine Frau in der Prüfungskommission sitzt.

Ein weiteres Problem: Moot Courts. Dabei handelt es sich um Gerichtslabore, in denen Jurastudierende Gerichtsverhandlungen nachstellen und üben. Eine super Sache, bloß offenbar nicht für Frauen. Die kanadische Jura-Studentin Amanda Byrd erzählt exemplarisch davon, wie sie sich wochenlang auf den Moot Court vorbereitete und das Feedback darin bestand, dass sie häufiger lächeln solle, dann wirke sie weniger gelangweilt. Ihr Kommilitone hingegen bekam eine dezidierte inhaltliche Rückmeldung.

Meine wohl wichtigste Erkenntnis im Jurastudium bisher: Recht ist kein ideologiefreier Raum. Das Patriarchat urteilt immer mit. Es gibt auch nicht „die eine richtige Lösung“ im Recht. Manchmal erzähle ich meinen nicht-juristischen Freundinnen (also sprich: meinen Freundinnen) von Klausur- oder Hausarbeitsfällen und werde anschließend gefragt, was denn nun die Antwort sei. Klar, manche Sachverhalte sind recht eindeutig, aber in der Regel lautet die zugegebenermaßen unbefriedigende Antwort: „Es kommt darauf an“. Wenn es anders wäre, bräuchten wir ja gar keine JuristInnen mehr, sondern könnten Sachverhalte in Maschinen eingeben, die diese dann mit den entsprechenden Gesetzen abgleichen würden und automatisch zu einem Ergebnis kämen. 

Gesetze müssen immer ausgelegt werden. Ohne en detail in die juristische Methodenlehre einsteigen zu wollen: Es gibt vier Auslegungsmethoden- die Auslegung nach dem Wortlaut des Gesetzes, die historische Auslegung (in welchem geschichtlichen Kontext entstand das Gesetz?), die systematische Auslegung (welche Stellung hat die Norm innerhalb des Gesetzes; steht sie z. B. ganz zu Beginn wie die Menschenwürde im GG?) und die teleologische Auslegung (welchen Sinn und Zweck verfolgt der Gesetzgeber mit dem Gesetz?). Auslegung ist immer Argumentationssache. Letztlich gilt: Wer Gesetze auslegen kann, hat Jura verstanden. Klingt einfach, braucht aber sehr viel Übung. 

Ich bin noch mitten im Übungsprozess, aber so viel ist mir inzwischen klar geworden: Man darf sich von (scheinbaren) Autoritäten nicht einschüchtern lassen, gerade als Frau in der Rechtswissenschaft. JuristInnen sind oft sehr gut im Argumentieren und Einschüchtern- das ist ja auch meist ihr Job. Das heißt aber nicht, dass sie die „Wahrheit“ gepachtet haben, auch dann nicht, wenn sie BGH-Richter sind oder ein anderes hohes Amt innehaben. Nächste Woche findet am Landgericht Karlsruhe ein Prozess gegen die Journalistin Gaby Mayr statt- der ehemalige BGH-Richter Thomas Fischer hat wegen ihrer kritischen Berichterstattung zu den Prozessen gegen die wegen Verstoßes gegen § 219a StGB angeklagten Ärztinnen Unterlassungsklage gegen sie erhoben- und weil Mayr den Fischer StGB-Kommentar kritisiert. (Weitere Informationen zum Fall mit entsprechenden Verlinkungen finden sich z. B. auf der Solidaritätswebsite für Kristina Hänel). Kommentare sind so etwas wie die „Bibel“ der JuristInnen- dort stehen zu jedem Gesetz Anmerkungen zur Auslegung. Und ja, es ist richtig, dass in allen StGB-Kommentaren sinngemäß dasselbe zur Auslegung des § 219a steht- aber das Berufen auf Autoritäten allein (sei es BGH oder juristischer Kommentar) sollte kein Argument dafür sein, am Status Quo festzuhalten. Problematisch wird es immer dann, wenn die Sprechposition einer Person entscheidender ist als die hervorgebrachten Argumente.

Denn auch wenn sich Recht mit Veränderung relativ schwer tut, ist Veränderung nicht nur möglich, sondern sogar geboten. Recht ist immer ein Spiegel der Werte der Gesellschaft, und diese Werte verändern sich nun einmal mit der Zeit. Es sei nur exemplarisch erinnert an die bis 1996 straffreie Vergewaltigung in der Ehe bzw. den berüchtigten, inzwischen weggefallenen § 175 StGB (die Strafbarkeit von Homosexualität). 

Wenn ich Zweifel daran habe, warum ich mir all das antue – die Einsamkeit, die Versagensangst, das konservative Studium – dann führe ich mir vor Augen, was das Ziel meines Weges ist. Letztes Jahr war ich bei dem Gerichtsprozess gegen Nora Szász und Natascha Nicklaus, beide waren angeklagt wegen Verstoßes gegen § 219a StGB (“Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft”). Allein, dass es diesen Paragraphen immer noch gibt, macht mich gleichermaßen fassungslos und wütend. Aber: Es hat mir nochmal deutlich gezeigt, wohin meine Reise gehen soll. Ich möchte Frauen unterstützen, ihnen konkrete Lösungsmöglichkeiten aufzeigen, mein Wissen weitergeben. Ich möchte Frauen im Rahmen meiner Möglichkeiten ein Stück Gerechtigkeit zurückgeben in all diesem patriarchalen Unrecht, das uns widerfährt. Einen schöneren Beruf kann ich mir nicht vorstellen.

Ob man bzw. frau Jura spannend findet, ist sicher Geschmackssache. Sicher ist, dass juristische Kenntnisse enorm dazu beitragen, Herrschaftsverhältnisse zu analysieren und zu verstehen- und das bildet die Basis für die Veränderung von Machtstrukturen. Ich möchte jede Frau, insbesondere jede feministische Frau, die Interesse an Jura hat, ermutigen, das Studium aufzunehmen und sich nicht beirren zu lassen. Frauen, werdet Juristinnen! Wir brauchen uns. Dringend.

Studie über Ungleichbehandlung im Jura-Studium:

http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/juristische-pruefung-diskriminierung-von-frauen-und-migranten-15560024-p2.html

Amandas Erfahrungsbericht über ihren Moot Court: https://www.cbc.ca/radio/thesundayedition/the-sunday-edition-june-3-2018-1.4685998/i-spent-hundreds-of-hours-preparing-for-moot-court-when-i-got-there-i-was-told-to-smile-more-1.4687442

Die alltägliche männliche Raumeinnahme

Manspreading (Stockholm Metro)

By Peter Isotalo (Own work) [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons

Eigentlich wollte ich ursprünglich das Zitat des Mannes, der mir heute “begegnete” verwenden, das da hieß: “Mädel, deine Titten wackeln!”, aber vermutlich zensiert uns dann Facebook oder ein ähnliches Szenario. Von den alltäglichen Lebensrealitäten dürfen Frauen ja nicht schreiben, ohne sexualisiert zu werden (Stillen z. B.). Es sei denn, es geht um den ultmativen Fun im Porno und nackte Ärsche, die für Autofirmen werben. Aber back to topic:

In der Straße, in der ich wohne, gibt es ein Bowling-Center. Und in dem ist ein Zigarettenautomat. Da ich rauche und meine Kippen aus waren, schlappte ich also gegen späten Nachmittag darunter und zog mir eine Schachtel Kippen. Vorher hatte ich mir über mein Spaghetti-Shirt, das ich in meiner Wohnung (ohne BH) trage, ein T-Shirt übergezogen. Immer noch ohne BH, hört, hört.

Ein Mann auf 12 Uhr, der mich passieren will, bleibt vor mir stehen und sagt: “Mädel, deine Titten wackeln, is asozial … aber ich mag’s”, dabei schmatzt er, während er irgendwas Fetttriefendes in sich reinschiebt, das Fett aus seinen Mundwinkeln läuft und er grinst.

Ich bin nicht sehr schlagfertig, wenn auch in vielen Punkten selbstsicherer geworden. Trotzdem fiel mir nichts anderes ein, als zu sagen, “verpiss dich!”. Nicht sehr originell, aber ich war ihn – wenigstens – los.

Weiterlesen

Cis mit *

Von Elisabeth-Elstop

Vorbemerkung: Es geht hier nicht um * für diverse Personen, also nicht um * für intergeschlechtliche. In deren Selbstbezeichnungen möchte ich mich in voller Solidarität nicht einmischen.

Es geht um das *, wenn es Frauen, die weder intergeschlechtlich sind, noch sich als irgendetwas anderes sehen als Frauen, aufgezwungen wird. Es geht um das „Cis“, das uns aufgezwungen wird.

Mit „Frauen“ sind in diesem Text die Menschen gemeint, die nicht zu den „Penisgeborenen“ gehören. Der Begriff „Penisgeborene“ ist nicht gerade poetisch, aber diejenigen, die für meinesgleichen „Uterusmensch“ oder „Endosexuelle“ oder „Menstruierende“ für angemessen halten, wenn der Begriff „Cisfrau“ dann doch ein paar häufig gegebene körperliche Merkmale oder Aktivitäten nicht abdeckt, haben sicher Verständnis dafür. Dieser Text bezieht sich auf Frauen und, falls gewünscht, auf diejenigen intergeschlechtlichen Menschen, die ihr Leben von Anfang oder von sehr früher Jugend an als Frau gelebt haben und die sich von „Frau“ nicht wegdistanzieren wollen. Penisgeborene, also solche mit Penis oder Penishintergrund, sind mit diesem Begriff in diesem Text nicht gemeint. Vielleicht verstehen Einige, die jetzt noch davon abgestoßen sind, nach der Lektüre des Textes, warum nicht.

Frau* oder Cisfrau oder die Farce, sich doch Pronomen einfach auszusuchen, haben als Begriffe bzw. Praktiken vier Bedeutungen, die sich aus dem Ansatz hinter ihnen ergeben. Das * soll u.a. auf „Konzeptionierungen“ oder Selbstbezeichnungen hinweisen. Doch es geht um mehr.

Dass aus dem Körper eines Menschen, auch aus dem geschlechtlich bestimmten Körper, nicht auf Fähigkeiten oder Eigenschaften geschlossen werden kann, ist Grundverständnis im Feminismus.

Das * oder das „Cis“ drücken aus, dass sich die einzelne Frau zwar (noch) als „Frau“ bezeichnen darf, aber nur unter der Bedingung, dass es eben mehrere „Konzeptionen“ davon gibt, nur unter der Maßgabe, dass sie sich selber nicht in diesem Begriff als Norm sieht. Denn Gott und Kaiser samt Vaterland bewahret, dass diese Wesen – Frauen! – sich irgendwo als Norm setzen.

Mit * oder als „Cisfrau“ (oder den „selbst ausgesuchten“ Pronomen) bleiben mir nur diese Möglichkeiten:

  • Ich erkenne an, dass ich nicht das Recht auf Normsetzung habe, nenne mich wie gefordert und akzeptiere damit meine eigene Unterdrückung. Das ist unattraktiv.
  • Ich erkenne an, dass ich in dieser Gesellschaft als Frau erkannt werde, weil ich den gesellschaftlichen Klischees oder Erwartungen zu „Frau“ entspreche. Der Körper der Frau darf ja als Referenzpunkt nicht genannt werden, also bleiben Klischees samt sozialer Rolle, wenn ich das * oder das „cis“ akzeptiere, identifiziere ich mich mit diesen gesellschaftlichen Klischees und dieser Rolle. Das ist eine Definition, die aus jedem Akt geschlechtsspezifischer Gewalt oder Diskriminierung ein (Cis-) Privileg macht.
  • Demgegenüber wird gesagt, dass ich individuell den Begriff „Frau“ für mich ja definieren kann, wie ich will, dass ich mich ja so nennen kann, wenn, wann und wie ich will, und alle anderen auch – um den Preis der Bedeutungslosigkeit der Lautfolge <frau>. Darauf lässt sich keine politische Bewegung gründen.
  • Die vierte Möglichkeit, die mir vor allem mit dem * bleibt, ist die Distanzierung nach dem Motto, dass Manche mich für eine „Frau“ halten mögen, ich mich aber anders empfinde – ein Akt der Entsolidarisierung und Klischeezuweisung an andere.
    Auch darauf lässt sich keine Bewegung gründen.

Im besten Fall landen wir damit, was unsere Rechte als Menschen angeht, im allgemein humanitären Bereich, und dass das für Frauenrechte nicht ausreicht, hat sich die letzten 7000–10000 Jahre und auch die letzten 7–10 immer wieder gezeigt.

Im schlimmsten und im wahrscheinlicheren Fall landen wir da, wo wir die letzten 7000–10000 Jahre immer wieder hindelegiert wurden: Im sprachlosen Bereich.

Auch darauf lässt sich keine politische Bewegung gründen.

Deswegen, und da capo, da capo, da capo crescendo –

zur Wiederholung folgende Feststellungen zu unserer Gesellschaft:

Radikaler Feminismus geht davon aus,

… dass die Benachteiligung und die Unterdrückung von Frauen eine gesellschaftliche Entscheidung nach Blick auf unseren Körper ist, eine Rollenzuweisung und eine Positionsanweisung in einer hierarchischen Gesellschaft und nicht eine Folge unserer Selbstzuschreibung, und dass wir davon auch nicht durch Abschaffen der Analysekriterien und einem Verschieben von Begriffen wegkommen.

… dass die Sozialisation von Frauen, die bis in konkrete Körpererfahrungen reicht, eine andere ist als die Sozialisation anderer Personen und dass daher die ohne Penis geborenen nach wie vor das Recht auf eigene Räume haben müssen – und auf eigene Definitionen in politisch tragfähigen Begriffen, die mehr zum Ausdruck bringen als allgemein humanitäre Anliegen und etwas anderes als die Akzeptanz unserer Unterdrückung.

… dass unsere pausenlose Sozialisation als mütterliche, verständnisvolle, nährende und bescheidene Personen, als nützliche Idiotinnen, die sich um alles kümmern, außer sich selber, unserer Befreiung im Weg steht und wir daher eigene Räume nach wie vor brauchen, Räume ohne die Profitierenden der jetzigen Ordnung, deren Privilegierung in der Akzeptanz sämtlicher Forderungen uns gegenüber dokumentiert ist, unabhängig von anderen Problemen oder Diskriminierungen, denen sie ausgesetzt sind. 

… dass wir anderen keine eigenen Räume streitig machen und keine individuelle Selbstbezeichnung, aber auf unseren Räumen und Begriffen bestehen. Das bedeutet auch einen Begriff „Frau“, der nicht jede Person einschließt, die das fordert.

Die Alternative zu diesen Forderungen können wir in der Entwicklung des LFT – des Lesbenfrühlingstreffens – ablesen. Es ist die gleiche Entwicklung, die JEDER Frauenraum und jede Fraueninitiative genommen hat, die sich geöffnet hat.

Am Anfang waren nur einzelne Männer da, bei Lesben einzelne Trans, die zunächst noch vorsichtig und solidarisch waren. Einige blieben und bleiben es auch. Gleichzeitig bedeutete sowohl die Sozialisation vieler dieser Männer und Transfrauen als auch die der Frauen eine Marginalisierung, ein Zurückdrängen, ein Verschieben der Frauenthemen und entsprechender Anliegen, ein ewiges Platzmachen, ein braves Zuhören durch die Frauen.

Im nächsten Schritt waren diese Männer und sind jetzt die Transfrauen erheblich prominenter vertreten – in den Vorständen, den entscheidenden Gremien, in der Vertretung nach außen, bei Entscheidungen nach innen – sie sind nicht nur informell maßgeblich, sondern bereits formell angekommen und dominieren jetzt die gesamte Struktur des Raumes oder der Gruppe.

Im letzten Schritt ist aus einer feministischen Initiative oder einem Frauenraum mit frauenpolitischen Schwerpunkten einfach eine weitere allgemeine Initiative geworden. Sei es bei den Gewerkschaften, sei in den Parteien und sei es bei Queer. Das Mittel dazu war immer der Verlass auf unsere Sozialisation und das Einschwören auf „gemeinsame“ Ziele, die Behauptung, dass wir „gemeinsam“ doch viel stärker sind.

Trans* sind durch Übernahme und Kolonisierung des Feminismus tatsächlich stärker. Ohne Feministinnen wären sie eine winzige Splittergruppe.  Bei Konservativen, Reaktionären und Rechten hat der jetzige, aggressive Transaktivismus nichts zu holen, da diesen Leuten der Blick auf die Zusammenhänge fehlt um zu verstehen, wie sehr ihre Anliegen durch diesen Aktivismus eigentlich bedient werden. Also sichern sich Trans die Linke und die Grünen und Antifa-Gruppen. Feministinnen haben bei den Linken nur oberflächliche Freunde, mehr als Zugang zu Abtreibungen und folgenlose Ablehnung allzu offener Gewalt ist selten drin. Der Gedanke, dass es den lauten Frauen endlich an den Kragen geht, jetzt, wo es bei Gleichstellungen nicht mehr „nur“ um Frauen geht, lässt die linke Blogosphäre richtiggehend schnurren, jauchzen und frohlocken.   

Was passiert, wenn Frauen weiterhin einen Fokus auf Frauenthemen und Solidarität einfordern, konnten wir bei Michfest sehen, wir können es bei den Dykemarches sehen – eine gerne akzeptierte, weit unterstützte oder, falls die Taktiken zu sehr auffallen, geflissentlich übersehene Kampagne der Verleumdungen und der Gewalt beseitigen diese Veranstaltungen oder entstellen sie bis zur Unkenntlichkeit. Hierzulande dient der schnelle aalglatt hingeworfene Satz der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ als Einschüchterungstaktik. Die wirkt, auch wenn es absurd ist, wenn Bedenken zu eigenen Räumen und Sprache damit bedacht werden und noch absurder, wenn ausgerechnet denen, die sich für links halten, nicht anderes einfällt als „Feminazi“ ….

Was hier leider auch im Feminismus verwechselt wird, ist solidarisches Handeln mit Selbstaufgabe, Solidarität mit Zulassen von Übernahme bzw. Kolonisierung. Sich mit Trans* gegen die AfD zu stellen, geht auch ohne Aufgabe unserer Räume und Sprache. 

Dass unsere Solidarität immer nur eine Einbahnstraße ist, können Frauen immer dann beobachten, wenn wir nicht sehr dezidierte und laute Forderungen stellen, wenn wir nicht damit drohen, unsere Solidarität und Unterstützung von einer Berücksichtigung auch unserer Belange abhängig zu machen. Wenn wir unsere Forderungen nicht aufgeben, führt das hin- und wieder zu ermutigenden Ansätzen, Erlebnissen – die Entwicklungen, wenn wir das nicht tun, haben wir immer wieder und wieder gesehen.

Feministische Praxis nicht nur für die, die wir mögen

Zugegeben: Als ich die Schlagzeile las, dass die Betreiberin einer Escort-Agentur und “Sexarbeiterin” Salome Balthus von der Zeitung die Welt in der sie seit einigen Monaten eine Kolumne unter dem Titel “Das Kanarienvögelchen” schrieb, gefeuert wurde, dachte ich mir “Das wurde aber auch Zeit”. War es mir doch völlig schleierhaft, warum sie diese Möglichkeit überhaupt erst bekommen hatte. Ob einer die Inhalte oder der Schreibstil einer anderen Person gefallen oder nicht, ist ja eher subjektiv und Geschmackssache.

Politisch jedoch hatte ich in mehrfacher Hinsicht ein Problem mit dem Podium, welches ihr dort geboten wurde: Zum einen halte ich es nach wie vor für unerträglich, wie viel Raum Mainstream-Medien jenen Menschen einräumen, die sich für die Erhaltung einer der patriachalsten und frauenfeindlichsten Institutionen unserer Gesellschaft, der Prostitution, stark machen – ohne gleichermaßen auch jenen Frauen in und außerhalb der Prostitution diesen Raum zuzugestehen, die Prostitution als kommerzialisierte sexuelle Gewalt empfinden und für eine Welt ohne Prostitution und Frauenverachtung kämpfen. Dem Netzwerk Ella beispielsweise kommt dieses Privileg nicht zu. Dies ist jedoch den jeweiligen Medien und einer Gesellschaft anzulasten, die natürlich lieber jenen ein Sprachrohr verleiht, welche die gegebenen Machthierarchien stärken – und eben nicht jenen, die diese in Frage stellen.

Unklar ist, ob Balthus an der Prostitution der auf ihrer Agentur-Seite angebotenen Frauen verdient. Ist dem so, dann wäre dies in meinen Augen moralisch verwerflich und nach dem von mir und uns vertretenen Nordischen Modell kriminell und strafbar. Dass sie sich, ihre Agentur und ihre “Hetären”-Kolleginen angesichts des Bewerbungsfragebogens auf der Seite offensichtlich für besonders elitär und intellektuell hält: geschenkt.

Weiterlesen

Algerien-Aufbruch oder Salafismus

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/e/eb/Algiers_harbor_1899.jpg

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/e/eb/Algiers_harbor_1899.jpg

Seit mehreren Wochen ist Algerien erwacht. Es finden Massendemonstrationen gegen des fünfte Mandat des Präsidenten Bouteflika statt. Die Wahlen sind am 18 April geplant. Allerdings wird ein Systemwechsel gefordert, nicht nur das Ende seiner Präsidentschaft.

Abdelaziz Bouteflika befindet sich im Universitätskrankenhaus in Genf und mittlerweile hat amüsanterweise eine Algerierin eine gesetzliche Betreuung für ihn in der Schweiz beantragt, da er nicht mehr für sich selbst entscheiden können soll.

Bisher waren die Proteste friedlich, aus Angst vor davor, dass Algerien eine ähnliche Entwicklung wie Libyen oder Syrien nehmen könnte (das Ausland will an die Buletten sozusagen, an das Erdöl und an das Gasvorkommen), und aus Angst vor der Zeit des “schwarzen Jahrzehntes” in den 90er Jahren.

Ab heute beginnt ein Generalstreik in ganz Algerien. Am 08. März demonstrierten Frauen, Kinder und Männer friedlich gemeinsam, was deutlich in den Medien betont wurde. Die Ferien der Universitäten wurden gestern um eine Woche vorgezogen und beginnen ab heute, da die Studenten und Studentinnen maßgeblich an den Protesten beteiligt waren und dies weiter verhindert werden soll. An den Universitäten liegt der Frauenanteil der Studierenden übrigens auch bei über der Hälfte (in den wissenschaftlichen Studiengängen bei 54 Prozent).

Algerien ist reich an Erdöl und Erdgas, mit engen Verbindungen zu Frankreich. Wenn Algerien zerfällt,  betrifft dies Europa nochmals mehr wie Syrien und Libyen.

Im Moment wirken die Proteste einheitlich und dies wird betont gefeiert, als “ein vereintes Algerien”, dass den Aufbruch geschafft hat zu einer neuen Zeit.

Aber ist es das wirklich, vereint?

Nein, Algerien ist nicht wirklich vereint und eine Spaltung im Land bestand schon länger. Was wird also passieren wenn der gemeinsame “Feind”, Bouteflika und die “Macht/das System” (le pouvoir) besiegt sein sollten?

Es ist eine spannende Zeit. Wird dafür optiert, die Kandidatur von Bouteflika doch zu beenden, aus gesundheitlichen Gründen um die “Macht” fortführen zu können? Wer wird das Machtvakuum füllen?

Vor Allem, wie sah die Situation im Land vorher aus?. Was wird im Augenblick durch die Proteste überdeckt? Jede Thematisierung eines eventuellen internen Konflikts in Algerien wird im Moment als Gefahr gesehen, auch wenn dieser Konflikt, insbesondere die Zunahme des Salafismus, vorher ein offenes Thema war.

Viele bezeichnen Algerien seit längerer Zeit als Tschkoupistan-eine Wortmischung aus Scheiße/Idiotisch und Afghanistan. Das liegt auch an der Zunahme des religiösen Extremismus, es bezieht sich deshalb ja auf Afghanistan. Der Salafismus  nahm zu ohne nennenswerten Widerstand des Staates. Und angesichts der Auswirkung auf Frauen und zunehmende salafistische Übergriffe auf Frauen, sind die Strukturen im Hintergrund dieser Entwicklung spannend, für Frauen, für uns.

In Algier, auf den Straßen, waren 2018 mehrheitlich nur dunkel verschleierte Frauen zu sehen. Dies war noch vor wenigen Jahren nicht der Fall; es waren nur vereinzelte Frauen dunkel verschleiert. Es gibt mittlerweile eine ganze Reihe von Geschäften die dunkle muslimische Kleidung bis hin zur Burka verkaufen. Unverschleierte Frauen sind im Straßenbild wirklich nicht mehr präsent. In der Kabylei, Heimat der Imazighen, Berber, nur wenige hundert Kilometer von der Hauptstadt Algier entfernt, zeigt sich ein völlig anderes Bild. Nur wenige Frauen tragen ein Kopftuch, und mehrheitlich werden bunte kabylische Kleider getragen.

Allerdings stellt auch das Tragen kabylischer Kleider eine Art Zwang für Frauen dar. Die eigene Identität als Imazighen muss durch die weibliche Kleidung Aufrecht erhalten werden. Männer tragen westliche Kleidung, auch wenn man sie im Winter teilweise noch Burnus tragen sieht.

Kabylen wurden durch Araber im siebten Jahrhundert besiegt, und ihre Kultur sozusagen kolonialisiert. Viele Kabylen wünschen sich immer noch häufig die Trennung des Staates von der Religion, einen “etat laic”. Der Hass auf alles arabische ist groß. Viele bezeichnen sich offen als Rassisten gegenüber Arabern.

Umgekehrt ist die Abwertung auch groß. Es wird gesagt, dass Kabylen nicht gläubig sind, da sie Alkohol trinken (was sie tun) und Wildschwein essen. In einem Museum in Algier zum Beispiel sieht man in einer Ausstellung Figuren in einem Dorf der Kabylei, wie sie Wildschwein rösten. Das ganze wird untermalt durch bestialischen Schinkengeruch, damit es auch jede/r wahrnimmt.

Männer in der Kabylei trinken tatsächlich Alkohol in Mengen (im Vergleich zu dem Rest Algeriens, und natürlich nicht alle Männer), was zwar gegen eine Islamisierung spricht, aber das knappe Familieneinkommen wird trotzdem für den Alkohol ausgegeben und den Frauen sozusagen entzogen. Frauen „dürfen“ keinen Alkohol trinken, sofern sie als einigermaßen respektabel gelten möchten. Da das Leben in dörflichen Gemeinschaften stattfindet, sind die Optionen zu anderem Handeln gering. Die soziale Kontrolle ist stark. Frauen werden im öffentlichen Raum nicht belästigt, da jeder jeden kennt. Oder um einen Bekannten zu zitieren ” Ich weiß nicht, was die Männer hier machen würden, wenn sie bei Belästigungen keine auf das Maul bekommen würden..”

Es gibt, sehr wenige, Diskotheken mit Alkoholausschank, Orte der Prostitution. Die Welt ist geteilt, Algier und die Bergregion der Kabylei. Ja, es gibt noch andere Teile Algeriens, aber die Bevölkerung lebt mehrheitlich im Norden des Landes und der Unterschied der “Welten” ist hier besonders groß.

Die Träume über eine matrifokale Kultur der BerberInnen liegen weit in der Vergangenheit, Jahrhunderte weit. Und auch die Tuareg, die dies noch eher bewahren konnten, kämpfen durch die Klimaveränderung nur noch um ihr nacktes Überleben.

Männer können, im Geheimen, trinken und prostituierte Frauen kaufen. Mädchen und Frauen suchen ihren Ausweg im Bereich Bildung. Die Studiengänge in Algerien sind mehrheitlich besetzt durch Frauen und sie erreichen auch schon vorher in viel höheren Zahlen das Äquivalent des Abiturs.

Was diese Entwicklung bringen wird, wird spannend. Jetzt schon wird von gebildeten Frauen und „Eseln“ auf der Straße (Männern) gesprochen, wenn es um diese Bildungskluft zwischen Männern und Frauen geht. Immer mehr Frauen, ob mit Kopftuch oder ohne, drücken ihre Aversion gegen Männer in den sozialen Netzwerken aus, beschimpfen Sie für sexuelle Übergriffe in Algerien und im Ausland. Die Begeisterung in den sozialen Netzwerken bei Übergriffen von Algeriern im Ausland ist immer groß…”die Affen ruinieren unseren Ruf auch noch in Europa, überall wo sie herumhängen”.

Salafistische Frauen stellen das andere Spektrum dar.

Der Organisationsgrad der religiös extremistischen Strukturen ist bemerkenswert und wird ebenso zunehmend in den sozialen Medien thematisiert.

Moscheen werden mit verschiedenen Methoden von salafistischen Imamen übernommen, die Stadtteile Draria, Hydra, Kouba etc in Algier gehören dazu. Ein Gläubiger berichtet davon, dass seine Schwester, die Kopftuch trägt, in der Moschee zum Freitagsgebet von anderen Frauen wegen ihrer Kleidung zurückgewiesen wurde, da sie nicht komplett verschleiert war und keine Burka trug.

Es wird davon gesprochen, dass Salafisten einen wahren Angriff auf Moscheen durchführen, die nicht der wahren Religionsauslegung folgen, sondern der algerischen Variante des Islam folgen.

Es wird von verschiedenen Methoden berichtet, die angewandt werden um die Kontrolle der Gesellschaft zu übernehmen, und die eigene Auslegung des Korans zu predigen. Imame berichten davon, dass ihnen zum Beispiel Geld geboten wurde, und sie schließlich mit körperlicher Gewalt bedroht wurden um Platz zu machen für Salafisten in ihren Moscheen.

Die Organisation der Salafisten ist extrem strukturiert und organisiert. Die einzelnen Teile des Landes sind in Regionen aufgeteilt, mit jeweils einem Verantwortlichen. Der Salafismus wird durch soziale Medien verbreitet und ebenso durch Fernsehkanäle, auf allen Ebenen. Professionelles Propagandamanagement sozusagen.

In den Moscheen wird eine unendliche Anzahl von Broschüren wahabistischen Inhalts verteilt. Die Broschüren werden überall ausgelegt, zwischen die ausliegenden Exemplare des Korans.

Es wird in den Broschüren zum Beispiel dazu aufgerufen nicht den Geburtstag des Propheten zu feiern, wie sonst üblich, denn dies sei eine Feierlichkeit Satans. Ebenso wird sich mit der möglichen Rocklänge von Frauenkleidern befasst, es wird verboten Musik zu hören, oder Photos zu machen. Sufismus wird auch als das Werk Satans angeprangert.

Die Beamte des algerischen Ministeriums für religiöse Angelegenheiten konfiszierten hunderttausende dieser Broschüren bei ihren Überprüfungen, die der „Reinigung“ der Moscheen von anderen Auslegungen des Islam dienen. Einige der Broschüren kommen aus Saudi- Arabien, andere haben keinen Hinweis auf die Herausgeber oder überhaupt den Ort der Druckerei.

Die Broschüren sind mittlerweile auch in Arztpraxen zu finden, in den Wartezimmern.

Die Salafisten versuchen größere Ansammlungen von Moscheen zu übernehmen. Sie bieten freiwillig ihre Hilfe an um sich leicht Zugang zu verschaffen.

Die Kabylei und der Süden des Landes wurden angeblich als Orte des Djihad gegen die Häretiker erklärt.

In einigen Orten in der Kabylei wurden die Kontrolle über Moscheen schon durch Salafisten übernommen, laut einer Quelle sind 8 von 10 Moscheen schon in der Hand der Salafisten. Die Kabylei hat die größte Konzentration von Moscheen im gesamten Land, so dass das Ministerium für religiöse Angelegenheiten nicht alle Imamstellen besetzen kann. Die Situation ist insgesamt bekannt. Kabylen selbst sagen, dass die Kabylei ein Unruheherd sei und deshalb versucht wird durch Moscheen über Religion die Kontrolle zu bekommen.

Der algerische Unabhängigkeitskrieg hatte auch seinen Ursprung in der Kabylei und die Kultur hat, wie gesagt, viele Stimmen, die Säkularismus als Staatsform fordern.

Kabylische Medien sind einfach zu lesen, da sie in der Regel in Französisch veröffentlicht werden. Arabisch ist in diesem Teil des Landes verpönt, auch wenn es jede/r spricht, wenn notwendig. Eine kulturelle Spaltung, die sich durch den Salafismus bis über die Schmerzgrenze hinaus verstärken kann.

Aber auch in der Kabylei sind die Moscheen zur Freitagspredigt voll, sehr viel voller wie vor Jahrzehnten. Die Predigten werden, netterweise, über Lautsprecher verbreitet, so dass es kein Entkommen gibt. Durch die große Anzahl der Moscheen hört man die Predigt der nächsten Moschee, wenn man sich von einer Moschee räumlich entfernt hat und diese leiser wird. Dies war wahrscheinlich der Traum eines jeden Dorfpfarrers vor Jahrzehnten-die Predigt direkt nach draußen schallen zu lassen…

Einige der Moscheen, mit unklarer Finanzierungsquelle, sind größer wie das ganze Dorf. Teilweise schürt sich Widerstand gegen neue Konstruktionen in der Bevölkerung der Kabylei. Vor kurzem wurde in einem Ort in der Kabylei mit Gewalt gedroht, sollte ein weiterer geplanter Moscheebau durchgeführt werden.

In der Kabylei wird davon berichtet, dass viele Salafisten nicht aus der Region kommen, sondern aus Algier oder Blida.

Die Kabylei und der Süden des Landes sind „sensible Orte“. Wenn der Salafismus hier weiter zunimmt, werden religiöse Konflikte geschaffen und einige gehen davon aus, dass dies geplant ist, von wem auch immer. Die Salafisten kommen nicht in den Süden oder in die Kabylei um Urlaub zu machen, so schön es dort ist, sondern verfolgen eine andere Agenda.

Vor einigen Jahren hat der Saudi-arabische Prinz Mohammed Ben Salmane in Zeitungsberichten behauptet, dass die Förderung des Wahabismus in anderen arabischen Ländern von amerikanischen und anderen Verbündeten vor Jahrzehnten gefordert wurde, um im kalten Krieg die Einflussnahme der Soviet Union auf arabische Länder zu verhindern und durch Religion selbst mehr Einfluss nehmen zu können. Eine wirklich spannende Idee, geostrategisch gedacht, vielleicht auch heute noch.

Seit einiger Zeit wird sich in Deutschland politisch und medial auf die Türkei konzentriert, aber was ist mit Saudi- Arabien angesichts der übergreifenden Einflussnahme? Ist dies nicht viel interessanter? Sollten wir nicht eher auf Saudi-Arabien achten?

Saudi-Arabien hat über Wohlfahrtsorganisationen (islamische Weltliga, Islamic Relief Organisation), schon im Kosovo, in Bosnien und in Albanien Moscheen und Imame finanziert, unter anderem.

Vorfälle im Kontext wahabitischer Gruppen gibt es seit den 90er Jahren vermehrt; hunderte von Kosovoalbanern sind dem Djihad im mittleren Osten beigetreten. In Libyen wurden salafistische Gruppierungen gegen Ghaddafi auch mit Geld überhäuft, mit Geld aus Saudi-Arabien.

2018 gab es über 100 Köpfungen in Saudi-Arabien. Eine der bekanntesten Tötungen war die der Menschenrechtsaktivistin Esra Al Ghamgam am 20 August 2018. Das Schweigen der internationalen Medien und der Politik hierzu war bemerkenswert. Es gab keinen Aufschrei, nichts.

Es gab ein paar Diskussionen in Europa auf politischer Ebene angesichts der Kriegsführung im Jemen und deutscher Waffenlieferungen an Saudi-Arabien. Das war es aber auch schon.

Wieso interessiert sich der Westen nicht wirklich für Saudi- Arabien, auch angesichts des „Überschwappens“ des Salafismus in den Westen?  Die Übernahme der Definitionsmacht des Islams mit der strengen Auslegung des Wahabismus, der alle, die dieser Auslegung nicht folgen, zu Ungläubigen erklärt ist bedenklich. Dies erinnert irgendwie an den IS, denn die Rigidität des Glaubens ist ähnlich, irgendwie.

Und natürlich, wieso interessiert sich niemand für Saudi-Arabien und die wahabistische Auslegung der Frauenrolle, die plötzlich zu einer islamischen Rolle umdefiniert wurde. War nicht die Rolle der Frau in Afghanistan so wichtig für den Westen im Kampf gegen die Taliban? Fragen über Fragen.

Man mag sich fragen, welchen Europäer sollte es interessieren, wenn Algerien im Bürgerkrieg endet. Wer interessiert sich überhaupt für Algerien, das Land der Bakterien und 2018 der Cholera? Algerien hat eine Bevölkerung von 40 Millionen Menschen, von denen schon im Augenblick viele ihre Lebenssituation als so unerträglich finden, dass sie davon träumen „Harraga“ zu machen, das heißt ihr Leben mit einem „Glücksboot“ (Glück in Bezug auf am Leben zu bleiben) zu riskieren und über das Meer nach Europa zu fahren. Die Entfernung zu Europa ist nicht wirklich unüberbrückbar, wenn man den Tod in Kauf nimmt.

Sollte es durch die Islamisierung und Spaltung der Gesellschaft zu einem Bürgerkrieg kommen, nach den Demonstrationen der letzten Wochen,  oder zu einer Situation wie im „schwarzen Jahrzehnt“ in den 90er Jahren, als Menschen durch Terror ermordet wurden und Ausgangssperre herrschte, wird der Flüchtlingsstrom ein neues Ausmaß annehmen.

Insbesondere aber Frauen werden im Patriarchat des Wahabismus zu Grunde gehen, und sich für die Anpassung durch religiöse Unterwerfung entscheiden müssen. Vielleicht schafft Algerien aber auch den Weg zu einem neuen System, dass Staat und Religion trennt, da die Angst vor einem völligen Bürgerkrieg eine wahabistische Übernahme unmöglich machen könnte. Die Angst vor der “fremden Hand” ( “la main etrangere”), den ausländischen Geheimdiensten, ist ebenso groß. Es bleibt spannend in den nächsten Wochen und Monaten.

Patriarchat und Neoliberalismus

Vortrag von Inge Kleine bei der FILIA-Konferenz in Salford/Manchester am 21. Oktober 2018. Originaltext hier

Zu allererst möchte ich FILIA, das heißt dem großartigen Organisationsteam dafür danken, dass sie diese Konferenz und diese Möglichkeit geschaffen haben, so viel großartige Aktivistinnen und Feministinnen zu treffen.

Mein Thema ist die Widerstandsfähigkeit des Patriarchats und wie schwierig es ist, ihm auf unserem Kampf dagegen nicht auf den Leim zu gehen.

In seiner fortlaufenden Selbstbestätigung gelingt es im Patriarchat, unsere Kämpfe, zumindest in westlichen Ländern oder denen des globalen Nordens, als obsolet, als überkommen darzustellen (1), womit es uns direkt in die erste Reihe an Fallen schickt. Männer deuten dabei auf andere Länder, „woanders“ hin, am liebsten nach Süden or „Osten“ und auf dortige Gesellschaften. Dies ist ein sehr alter Trick, da Liberalismus und Kolonialismus zusammengehören (2), und er funktioniert so: „Hier haben wir keine wirklichen Probleme, aber schaut mal dorthin! Da solltet ihr hinschauen. Arabische Länder!“ Die unmittelbare Reaktion zumindest einer deutschen Feministin könnte darin bestehen klar zu stellen, dass Algerien mehr weibliche Abgeordnete im Parlament hat als Deutschland, samt dem sofortigen Genuss die Selbstgefälligkeit aus dem Gesicht der Herrklärer verschwinden zu sehen. Aber diese Reaktion enthält Fehler, weil sie uns sofort zu typischen wenn auch indirekten Fehlschlüssen führt, die „unserer“ Überlegenheit, denn warum sollte Algerien nicht mehr Frauen als Abgeordnete haben als Deutschland und was für Einstellungen sind nötig, damit wir davon ausgehen, dass Algerien als Beleidigung für selbstgefällige Deutsche genutzt werden kann? Und dies geht noch weiter. Nachdem ich meinen rechten Fuß tief in den Morast des Patriarchats gestellt habe, lasst mich den linken Fuß gleich nachziehen. Unterschiede abzustreiten oder darauf zu bestehen, dass das Patriarchat überall herrscht und dass unsere Kämpfe überall die gleichen sind, kann uns dazu verleiten, wichtige Informationen über unsere Schwestern zu übersehen, es kann uns dazu bringen – in diesem Fall westliche Feministinnen – nicht zu sehen, wo ihre Kämpfe andere sind oder wo die konkreten Rahmenbedinungen andere sind. Es dient auch dazu, Aufmerksamkeit abzuziehen und sie wieder hübsch auf uns selber zu lenken. Und während ich spüre, wie ich immer tiefer im Matsch versinke, lasst mich noch die dritte Falle dazu stellen, wenn eine Anerkennung von Unterschieden in unseren täglichen Herausforderungen und Kämpfen zu Ansichten führt, die mal ein „Lieblings-“artikel von mir verbreitete, in dem stand, dass muslimische Mädchen in Pakistan Werte der Familiensolidarität hätten, die bedeuteten, dass sie keine individuelle Freiheit wollen oder brauchen.

Weiterlesen

Feministischer Porno oder das übliche in rosa?

Frau am Computer

CC0

Erika Lusts Film Live Love Lust

(Radikal)Feministinnen von Andrea Dworkin bis Gail Dines kritisieren Pornographie seit Jahrzehnten und sie haben gute Argumente: Die „Arbeitsbedingungen“ in der Branche sind für die Darstellerinnen unzumutbar, dargestellt wird nicht Sex, sondern Männergewalt gegen Frauen, und es ist diese Gewalt an der sich die Konsumenten – größtenteils Männer – aufgeilen, deren Frauenbild von den Darstellungen beeinflusst und geprägt wird.

Trotzdem hält sich hartnäckig das Gerücht, es ließen sich doch wohl auch „feministische Pornos“ produzieren, für ein weibliches Publikum. Als Paradebeispiele werden meist die Filme der 1977 in Schweden geborenen studierten Politikwissenschaftlerin Erika Lust genannt, die seit 2004 „Pornos für Frauen“ dreht, die auch diverse Preise bekommen haben. Ob sie ihre Darstellerinnen wirklich besser behandelt als andere Produzenten, ist fragwürdig, die Dokumentation Hot Girls Wanted lässt eher auf das Gegenteil schließen. Auch das Interesse der Frauen an den Filmen scheint sich in Grenzen zu halten: Das Unternehmen schätzt, dass lediglich 15-25 % der KonsumentInnen weiblich sind, die meisten sind also Männer, von denen manche eventuell noch ihre Partnerinnen dazu überreden können, gemeinsam einen Porno zu schauen. Das Label „feministisch“ bzw. „frauenfreundlich“ hilft dabei natürlich, Widerstände zu brechen.

Weiterlesen

Eine radikalfeministische Perspektive auf die ‚freie Wahl‘

Feministisches Symbol

By weegaweek - File:Feminist philosophy.png, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=72704008

Ein Gastbeitrag von Ines

Früher hielt ich, wie viele Menschen das tun, BDSM für eine Facette des privaten Sexlebens, die man ausleben kann oder auch nicht. Die meisten verbinden damit die gängigen Utensilien wie Peitschen, Handschellen und Fetischoutfits, auf die man sich in der Gesellschaft teils humorvoll teils verschämt bezieht. Deutlich seltener kommen die zugrundeliegenden Mechanismen von Unterwerfung und Unterworfenwerden öffentlich zur Sprache. Diese symbollastige Verklärung sorgt dafür, dass BDSM gemeinhin als eine Frage des persönlichen Geschmacks deklariert wird. Auch der Nachdruck, mit dem von BDSM-Seite bisweilen auf den Unterschied zwischen den BDSM-Praktiken und dem ‚eigentlichen Leben‘ hingewiesen wird, den sogenannte Vanillas nicht richtig verstünden, verstärkt diesen Eindruck. Setzt man sich mit BDSM (theoretisch oder auch praktisch in der Szene) auseinander, wird einem allerdings bewusst, dass dort ähnliche asymmetrische Geschlechterverhältnisse bestehen, wie man sie von clichéhaftem Vanilla-Sex und auch grundsätzlich in den Gesellschaftsstrukturen kennt.

Leider gibt es wenige aussagekräftige Statistiken zu dem Thema – was meine Annahme, dass BDSM als Privatsache gilt, verstärkt –, daher muss ich mich auf meine Eindrücke und die anderer, in BDSM involvierter Menschen sowie die spärlichen zur Verfügung stehenden Quellen zum Thema und gängigen Portale (fetlife, joyclub) beziehen. Dabei erhärtet sich der Eindruck, dass sich mehr Männer relativ gesehen zum (insgesamt größeren1) männlichen Anteil in der BDSM-Szene als „(extrem) dominant und sadistisch“ beschreiben, hingegen deutlich mehr Frauen2 relativ gesehen zum (insgesamt kleineren) weiblichen Anteil in der BDSM-Szene sich als „(extrem) devot und masochistisch“ beschreiben.3 Noch signifikanter wird die Asymmetrie, wenn man nur heterosexuelle Menschen berücksichtigt. Manche Quellen, die etwas vereinfacht in dominante und submissive Rollen unterschieden, sprechen von einer 75%igen dominanten Präferenz bei Männern und gar bis zu 96%igen submissiven Präferenz bei Frauen4 – ein Verhältnis, das ungeachtet der genauen Zahlen meinen Eindruck der beiden Tendenzen bestätigt.

So sehr unterscheidet sich das Bild der BDSM-Szene also auch nicht von den anderweitig anzutreffenden stereotypen Rollenverteilungen. Dass es auch sogenannten außererotischen BDSM gibt, macht zudem deutlich, dass BDSM keineswegs nur eine sexuelle Präferenz ist, sondern mit dem ‚eigentlichen Leben‘ fest verwoben ist. Die Besonderheit von BDSM liegt vielmehr darin, dass Verhaltensweisen und Machtverhältnisse, die man aus dem alltäglichen Leben kennt, im BDSM explizit gemacht werden. Hierin sehe ich übrigens den großen Vorteil von BDSM gegenüber den impliziten alltäglichen Formen, Menschen zu unterwerfen oder sich ihnen zu unterwerfen: Die Machtverhältnisse werden expliziert und somit verhandelbar. Aber wo werden diese Machtverhältnisse und ihr Kontext zum alltäglichen Leben letztlich verhandelt? Erstaunlich selten wie mir scheint. Weiterlesen