Kategorie: Neues aus dem Ultrakaputtalismus

Graue Gesichter vor grauen Plattenbauten in natürlich grauem Nieselregen – Bilder von Ostdeutschland in Medien und westdeutschen Köpfen

(ein kleiner Rant von Anneli Borchert)

Letzten Winter hat mich eine Bekannte aus Westdeutschland in Dresden besucht. Sie fahre, äußerte sie, zum ersten Mal in den Osten und hoffe, dass trotz der 5 Grad minus „alles klappe, mit Strom und so“. Als ich daraufhin witzelte, sie habe Glück, diesmal seien die Rohre nicht eingefroren und wir hätten deshalb sogar mal fliessend Wasser, hat sie das erschreckenderweise nicht als Witz verstanden. Das hat mich schon irritiert.

Noch verstörter war ich, als ich ihr Dresden zeigte und sie immer wieder äußerte „Das hätte ich ja nicht gedacht, ihr habt ja hier richtige Häuser!“ (… what) und „Das ist ja voll schön hier, wirklich schön, ich bin erstaunt!“ Auf die Frage, warum sie das überrasche, dass es in Dresden schön sei, meinte sie: „Ich dachte halt, ihr wohnt hier alle in Plattenbauten, weil ihr doch alle arbeitslos seid.“

Für den Moment war ich wirklich geflasht davon, dass eine gebildete, kulturell interessierte Person nicht nur derart vorurteilsbehaftet ist, sondern sich nicht mal dafür schämt, derartige Blödigkeiten auch noch rauszuhauen (statt nur still zu denken).

Zunächst mal, 30 Jahre nach der Wende immer noch „nie im Osten gewesen“ zu sein ist halt doch eigentlich schon peinlich, oder? Ich meine hallo, das ist Ostdeutschland und nicht Südamerika jetzt. Man braucht kein halbes Jahr oder so, um herzukommen und sich zu vergewissern, ob wir nun nur Plattenbauten (etwas, dass  es im Westen ja so überhaupt nicht gibt) haben oder doch vielleicht auch paar schöne Landschaften (die Chefin einer Freundin neulich zu ihr ganz erstaunt: „Ich habe ja gehört im Osten soll es sogar auch ein paar schöne Ecken geben?“ – really…) und eventuell sogar Kulturstädte. Ich meine, hallo, Dresden zum Beispiel, das ist nicht Hinterhermsdorf, jedeR hat schonmal vom Zwinger gehört, und man kennt doch die Bilder von der Brühlschen Terrasse, von der Gemäldegalerie und der Semperoper, oder nicht?

Leider ist meine Bekannte da nicht die einzige Person, die es noch nie für nötig gehalten hat, sich Ostdeutschland mal anzuschauen, weil es da eh nichts zu sehen gibt außer halt Plattenbauten, in denen ungebildete, kulturlose Menschen wohnen.

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Patriarchale Verhältnisse benachteiligen Frauen systematisch am Arbeitsmarkt

Alfred T. Palmer [Public domain], via Wikimedia Commons

Dieser Artikel erschien zunächst bei der Huffington Post Deutschland

Wenn wir darüber sprechen, warum Frauen sich auch im 21. Jahrhundert noch überwiegend in einer prekären Situation wiederfinden, dann kommen wir nicht umhin uns mit dem Arbeitsbegriff auseinanderzusetzen, die historische Entwicklung zu betrachten und uns die Dynamiken im Feld der Ökonomie anzuschauen.

Frauenarbeit – Männerarbeit

Die Trennung der Arbeitswelt in einen öffentlichen Bereich (des Mannes) und den häuslichen Bereich (der Frau) wird traditionell als „natürlich“ angesehen, ohne dabei zu berücksichtigen, dass sich diese Arbeitsteilung erst mit der patriachalen Ordnung entwickelt hat.

In ihr werden Frauen definiert über ihre reproduktiven Funktionen, also über die Produktion von Babies.

Um den „Vorrang der Vaterschaft“ (künstlich) herzustellen, muss nach dem französischen Soziologen Bourdieu die „wirkliche Arbeit der Frau beim Gebären“ verschleiert werden. Die gleiche Gesellschaft, die häusliche Arbeit als „wichtigste Stütze der Gesellschaft“ glorifiziert, wertet sie als „Frauenarbeit“ ab.

So werden häusliche Tätigkeiten bei der Berechnung des Bruttoinlandsproduktes unsichtbar gemacht. „Hausfrauen“ gelten hier als „Nichtproduzierende“, „inaktiv“ und „unbeschäftigt“.

Zusammen mit der häufiger von Frauen abgeleisteten ehrenamtlichen Tätigkeit, würde das jeweilige BIP bei Berücksichtigung all dieser Tätigkeiten um 40% steigen.

Studien zeigen deutlich, dass weltweit Frauen mehr arbeiten als Männer – und dass die Beteiligung an der Lohnarbeit zu kaum oder keiner Reduzierung ihrer häuslichen Tätigkeiten geführt hat: Frauen tragen weiterhin die hauptsächliche Sorge für die Erziehung von Kindern und Pflege von Älteren.

Nicht zuletzt ermöglicht die häusliche Arbeit von Frauen oft erst den beruflichen Erfolg des Mannes – hierher rührt das bekannte Sprichwort „Hinter jedem Mann, steht eine starke Frau, die ihm den Rücken frei hält“.

Der Umstand jedoch, dass die häusliche Arbeit von Frauen kein Geld-Äquivalent hat, trägt auch in den Augen der Frauen selbst zu ihrer Abwertung bei. „Nur“ Hausfrau und Mutter zu sein ist bis heute gleichbedeutend damit, „nichts aus seinem Leben zu machen“ und „unproduktiv“ zu sein.

Bourdieu weist die geläufige Betrachtung nur der produktiven Tätigkeiten als Arbeit als „ethnozentrisch“ und historische Erfindung zurück. Arbeit, so sagt er, sei eigentlich definiert als „Ausübung einer gesellschaftlichen Funktion, die man als „allumfassend“ oder undifferenziert bezeichnen kann, und die auch Tätigkeiten einschließt, die nicht durch Geld sanktioniert werden.“.

Die geschlechtliche Arbeitsteilung sei objektiv strukturiert in den Gegensatz männlich, öffentlich, diskontinuierlich und außergewöhnlich versus weiblich, privat bzw. verborgen, kontinuierlich und gewöhnlich.

Die Radikalfeministin Andrea Dworkin benannte in ihrem Aufsatz „Sexual Economics“ die maßgeblichen Mechanismen, die den untergeordneten Status der Frau auf dem Arbeitsmarkt aufrecht erhalten und die 1998 auch von Bourdieu in seinem soziologischen Spätwerk „Die Männliche Herrschaft“ bestätigt wurden.

Frauen erhalten geringere Löhne als Männer, für die gleiche Arbeit

Die unbereinigte Lohnlücke, die sich aus der unterschiedlichen Anerkennung verschiedener Berufe, unterschiedlichen Eingruppierungen oder Teilzeittätigkeit ergibt, liegt derzeit in Deutschland bei 22 Prozent. Aber auch aus dem Vergleich der Entgelte von Frauen und Männern mit gleichen Merkmalen (Ausbildung, Bildungsabschluss, Berufserfahrung) ergibt sich ein so genannter „unerklärter Rest“.

Frauen werden systematisch von Arbeit ausgeschlossen, die durch hohen Status, konkrete Macht und hohe finanzielle Anerkennung gekennzeichnet ist.

So weist der aktuell neu gewählte Deutsche Bundestag mit 30,7% einen nach wie vor sehr niedrigen (und von einem Rückgang gekennzeichneten) Frauenanteil auf. Bei Frauen in Führungspositionen liegt Deutschland mit 35% im europäischen Vergleich weit hinten.

In jedem sozialen Feld sind Frauen in der Feldhierarchie unten

Frauen üben die niedersten Tätigkeiten in einer Gesellschaft aus, egal was darunter jeweils verstanden wird. So sind Männer eher Ärzte, Rechtsanwälte oder haben eine Vollprofessur inne, Frauen sind eher Krankenschwestern, Rechtsanwaltsgehilfinnen oder wissenschaftliche Hilfskräfte.

Bourdieu weist darauf hin, dass sich die Lage der Frauen zwar sichtbar verändert hat, zum einen durch einen erweiterten Zugang zu Hochschulbildung und damit zu bezahlter Arbeit und der öffentlichen Sphäre, zum anderen durch eine gewachsene Distanz zu den häuslichen Tätigkeiten und Reproduktionsfunktionen durch eine verbreitetere Nutzung von Verhütungsmitteln, kürzere Unterbrechungen der Berufstätigkeit, eine steigende Scheidungs- und eine sinkende Heiratsrate.

Dennoch stellt er fest, dass die relativen Positionen unverändert geblieben sind: Bei gleichen Voraussetzungen nehmen Frauen stets die weniger günstigen Positionen ein und ihre Zugangschancen sind umso geringer, je seltener und gefragter eine Position ist.

Wenn Frauen in größerer Zahl in ein Arbeitsfeld strömen, wird dieses Feld feminisiert und damit an Prestige abgewertet

Stellen Frauen die Mehrheit in einem Feld, nimmt dieses den niedrigen Status der Frau an. Treten Männer in ein Feld ein, dann bringen sie Prestige hinein. Demnach wird eine Tätigkeit dadurch zu einer qualifizierten Tätigkeit, dass Männer sie ausüben.

So wurde der Arztberuf in der ehemaligen Sowjetunion überwiegend von Frauen ausgeübt, die gegenüber den Männern in Handwerksberufen schlechter bezahlt wurden.

Falls sich jemals schon einmal gefragt hat, warum kochen zwar gemeinhin als weibliche Tätigkeit gilt, jedoch die meisten Sterneköche männlich sind: Gesellschaftlich kann sich ein Mann, nach Bourdieu, zu bestimmten, sozial als geringwertig qualifizierten Tätigkeiten nicht herablassen.

Indem er bislang als weiblich geltende Tätigkeiten jedoch an sich reißt und außerhalb der Privatsphäre erfüllt, kann er diese bei Frauen „qualitätslosen“ Tätigkeiten aufwerten und zu Ruhm verhelfen .

Auf diese Weise wird die Unterordnung der Frau gegenüber dem Mann endlos fortgesetzt, auch dann wenn Frauen Lohnarbeiten und unabhängig davon, welche Arbeit Frauen machen.

Quoten sind nicht die Lösung für das Problem

Der moderne Staat selbst reproduziert die männlich-weiblich Dichotomie in seiner Struktur, Bourdieu nennt es die „paternalistische und protektive rechte Hand“ (die nehmende) und die „sozial orientierte linke Hand“ (die gebende).

Da Frauen durch ihre Prekarisierung stärker auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, und neoliberale Kürzungen immer zuerst auf den Sozialstaat angewandt werden, sind Frauen immer stärker von Austeritätsmaßnahmen betroffen.

Der liberalfeministischen Ansatz, nach dem der Staat durch eine paritätische Beteiligung von Frauen zu deren kollektiver Befreiung beitragen können, ist ein Trugschluss: Eine Parität in politischen Instanzen kommt vorrangig jenen Frauen zugute, die aus denselben Regionen des sozialen Raumes (Klasse, Ethnie, …) stammen wie die Männer, die gegenwärtig die herrschenden Positionen einnehmen.

Eine amerikanische Soziologin und Feministin fasste dies zuletzt so zusammen:

„Indem ein paar (zumeist weiße) Frauen in den Club gelassen werden, hat das Patriarchat eine Abstreitklausel gegen das Argument der zweiten Welle des Feminismus, dass Frauen als Klasse unterdrückt sind eingeführt.

Systeme der Unterdrückung sind jedoch flexibel genug um ein paar Mitglieder der untergeordneten Gruppen zu absorbieren; sie ziehen sogar ihre Stärke aus der Illusion der Neutralität, die durch diese Ausnahmen generiert wird.

Eine Sheryl Sandberg bei Facebook oder eine Nancy Pelosi in der Regierung ändern jedoch nicht die strukturelle Realität des Patriarchats.“

Es lässt sich empirisch feststellen, dass hohe Positionen bei Frauen, also beruflicher Erfolg, in aller Regel in „Misserfolg“ im häuslichen Bereich resultieren: Höheren Scheidungsraten, Kinderlosigkeit oder späte Elternschaft, etc.

Auch umgekehrt ist ein Erfolg im privaten Bereich oft nur mit Misserfolg im beruflichen Bereich realisierbar, zum Beispiel durch eine Teilzeitbeschäftigung, die Frau als Konkurrentin der Männer ausschließt.

Immer häufiger wird heutzutage die Zwei-Job-Belastung von Frauen auch auf Kosten anderer Frauen gelöst:

Das berufliche Vorwärtskommen beruht entweder auf der Abhängigkeit von Familienangehörigen, beispielsweise bei der der Kinderbetreuung, auf der Verlagerung häuslicher Tätigkeiten in den Verantwortungsbereich des Staates (wo die Linie der „Frauenarbeit“ in Unterricht, Pflege und Dienstleistung fortgeführt wird) – oder in der Bezahlung osteuropäischer Arbeitsmigrantinnen, wodurch Frauen zu Komplizinnen der Ausbeutung von Frauen aus anderen Ländern werden.

Pierre Bourdieu und Radikalfeministinnen sind sich einig: Die patriarchalen Strukturen werden sich reproduzieren, solange sie bestehen.

Aufzulösen ist die Benachteiligung von Frauen in der Arbeitswelt, wie in jedem anderen sozialen Feld deshalb nur, durch die Ablösung der patriachalen Strukturen, die den Sexismus, Klassismus und Rassismus unauflösbar in sich tragen.

(Internalisierter) Neoliberalismus: Jetzt reiß dich halt zusammen!

Gleise Bahnhof Köln-Deutz

Gleise Bahnhof Köln-Deutz

Anmerkung: Dieser Text ist stellenweise zynisch. Das ist nicht unbedingt ein „literarisches Mittel“, sondern in erster Linie eine Überlebensstrategie.

Mein Rentenversicherungsträger hat mir kürzlich mitgeteilt, dass ich weder arbeits- noch rehabilitationsfähig bin. In der Konsequenz heißt das, dass er mich in Rente (auf Zeit) schickt. Das gibt Mitmenschen Anlass mir mitzuteilen, dass ich entweder faul bin oder mich nicht so anstellen soll oder zu sagen: „Ich schaffe es schließlich auch.“

In meinem Leben gibt es im Moment ein Tabu, einen Teil Alltag, den ich am liebsten immer und überall verschweigen möchte: Ich lohn-arbeite nicht, denn ich bin nur begrenzt gesellschaftlich verwertbar arbeitsfähig. Als ich vor ca. einem Jahr an einer schweren Depression erkrankte und sich zeitgleich die Symptomatik meiner Posttraumatischen Belastungsstörung (in der Ausprägung einer Dissoziativen Identitätsstruktur1) drastisch verschlechterte, musste ich ins Krankenhaus, in ein psychiatrisches versteht sich. Nach wenigen Monaten kündigte mir mein Arbeitgeber und meine Kund_innen aus selbstständiger Tätigkeit suchten sich eine andere Dienstleisterin (verständlich, zumindest Letzteres). Ca. 5 Monate war ich von der Bildfläche verschwunden, mein mir ohnehin nur spärlich möglicher (wegen meiner Erkrankung/en) politischer Aktivismus fror ein, soziale Kontakte brachen ab und Freund_innen (nicht alle! Es verfestigten sich zeitgleich andere <3.) suchten (mal wieder) das Weite. Als ich Mitte August nach Hause kam, war ich in noch desolaterem Zustand als vorher, denn ich hatte eine abgebrochene, versuchte Traumatherapie hinter mir (hierzu wird in nächster Zeit ein weiterer Artikel erscheinen, in dem dezidiert über das Erlebnis mit – missglückter – Traumatherapie berichtet wird). Diese wurde mir im Krankenhaus empfohlen, weil monatelanges Rumdoktern an meiner Psyche erfolglos blieb; hätte ich eine Traumatherapie erst einmal hinter mir, würde auch alles andere nach und nach besser.

Fehlsch(l)uss.

Dieser Tiefschlag im letzten Jahr war nicht der erste in den letzten Jahren. Er war vielmehr der dritte innerhalb der letzten 4 Jahre. Davor ging es mir lange Zeit einigermaßen gut (so gut es einer eben gehen kann mit Traumafolgestörungen und rezidivierender depressiver Erkrankung) und ich führte ein stabiles und gesellschaftlich (einigermaßen) unauffälliges Leben. Vor vier Jahren erreichte mich dann nach langer Zeit wieder ein massiver gesundheitlicher Einbruch. Von der Traumafolgestörung abgesehen: Eine schwere Depression ist unendlich schmerzhaft und mit ihr geht einher, dass eine sich genauso unendlich schämt. Dafür, einfach nichts mehr zu schaffen. Auch nicht, eine Packung Pommes in den Ofen zu schieben. Depressionen erzeugen Schmerzen in Körper und Seele, die unerträglich sind. Wenn ich jetzt an diese Zeit zurück denke, breche ich in Tränen aus, Tränen, die ich während der Depression nicht weinen konnte (ich hätte so gerne gewollt!). Und nachdem es mir wieder besser ging, dauerte es kein Jahr, bis der nächste Schub kam. Und dann, dann wurden die Abstände immer kürzer, die Abstände zwischen gut und schlecht gehen und durch einen Auslöser in meinem familiären Umfeld fiel ich Anfang des letzten Jahres so tief, dass ich, im Rahmen einer dissoziativen Amnesie, einen Haufen Medikamente aus meinem Tablettenfundus – von dem ich bis dato nicht mal wusste, dass er existiert – in mich reinstopfte.

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10 Jahre Hartz IV – Oder: Das Geschäft mit der Armut

Anti-Hartz4-Demo

By Björn Laczay from Moosburg, Germany (Flickr.com - image description page) [CC BY 2.0], via Wikimedia Commons

Reicher Mann und armer Mann / standen da und sahn sich an.  Und der Arme sagte bleich: »wär ich nicht arm, wärst du nicht reich«. Bertolt Brecht

Neulich saß ich im Zug und las in einer Kritik am Deutschen Tafelsystem (die ich vollumfänglich teile), dass es unter den Tafelbefürwortern Menschen gäbe, die tatsächlich meinen, dass nicht die Armut das Problem sei, sondern das Stigma. Da musste ich doch zunächst etwas schmunzeln. Diese Argumentation kennen wir doch alle nur allzu gut aus der Prostitutionsdebatte: Das Stigma muss weg und dann wird alles gut und Prostitution kann endlich als ein Beruf wie jeder andere anerkannt werden.

Das „Hartz IV“-Stigma – ein spannendes Thema. Keine Frage: Wer Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch in Anspruch nehmen muss ist stigmatisiert. In der Tat ist meine Erfahrung aus mehr als 5 Jahren ehrenamtlicher Beratung in diesem Bereich, dass die damit verbundenen psychischen Belastungen viel schwerer wiegen, als die Tatsache mit viel zu wenig Geld auskommen zu müssen. Beschämung ist weitverbreitet: Ob es die zahlreichen alten Menschen sind, für die es gar nicht in Frage kommt staatliche Unterstützung in Form von Grundsicherung überhaupt erst zu beantragen und die lieber von ihren 600 Euro Rente leben, wovon sie alles, inklusive der Miete bestreiten. Eine Frau, der ich neulich zum wiederholten Male dringend nahe legte, doch einen Antrag zu stellen, sagte zu mir: „Wissen Sie, ich habe den Krieg und wirkliche Not überlebt, dann überlebe ich auch das. Und eins habe ich gelernt: Wer was hat, der will immer mehr.“ Oder ob es die Kinder sind, die den Sportverein lieber vom Taschengeld bezahlen, als die (mickrigen) Leistungen für Bildung und Teilhabe in Anspruch zu nehmen – weil das nur in Direktzahlung an den Dienstleister geht (da die Eltern das Geld ja stattdessen sonst in Alkohol und Zigaretten anlegen würden, wie wir alle wissen) und damit mit einem Zwangsouting verbunden ist. Oder ob es der Leiharbeiter ist, der 40 Stunden die Woche arbeitet und trotzdem aufstocken muss und nur verlegen nickt, wenn wieder einer seiner Bekannten über die „faulen Hartzies“, die ihm „auf der Tasche liegen“ herzieht – und der Angst hat, dass auch über ihn so geredet wird, wenn jemand ihn zufällig im Warteraum des Jobcenters sieht und dies weitererzählt. Nein: 10 Jahre Hartz IV waren für die Betroffenen kein Zuckerschlecken und ich bin die Letzte, die sich über die Thematisierung des Stigmas durch Hartz IV lustig macht.

Dann wiederum frage ich mich: Wer davon redet und meint „Das Stigma muss weg“ sei eine sinnige politische Forderung, dem muss ich leider sagen ihm / ihr ist eine zentrale Tatsache entgangen. Nämlich die, dass es ein Kernelement der Agenda 2010 und ihrer neoliberalen Ideologie war und ist, eben dieses Stigma auf die Betroffenen zu legen. Und jetzt wird es spannend: Das Workfare Modell, mit dem Gerhard Schröder (und in England Tony Blair) mit seiner Agenda-Politik das Arbeitslosenversicherungssystem abgelöst hat, bedeutet doch nichts anderes als strukturelle Ursachen dem Individuum in die Schuhe zu schieben: Ungeachtet der Tatsache, dass es viel weniger offene Stellen als Arbeitssuchende gibt, ist das doch die zentrale Botschaft, die an Betroffene ausgesendet wird: „Jeder ist seines eigenes Glückes Schmied. Wenn du arm bist, dann hast du individuell versagt und dann bist du selbst schuld an deiner Situation“. In meiner Beratung habe ich erlebt wie das Jobcenter mit diesem Dogma aus aufrechten, selbstbewussten Menschen, gebrochene, mit Minderwertigkeitskomplexen beladene Menschen gemacht hat. Menschen, die beispielsweise aufgrund einer Firmeninsolvenz oder betriebsbedingten Kündigungen arbeitslos geworden sind, sagen oft „Hey, ich bin gut qualifiziert, ich habe jahrelange Berufserfahrung, ich finde ganz schnell einen neuen Job“. Wenn das dann jedoch nicht funktioniert, dann dauert es bei dem einen kürzer, dem anderen länger und bei so gut wie jedem setzen früher oder später die Selbstzweifel ein – selbst, wenn sie eigentlich ganz genau wissen, es liegt am Arbeitsmarkt und nicht an ihnen.

Diese neoliberale, politische Strategie strukturelle Missstände zu individualisieren hat Michel Foucault bereits in seiner Vorlesung zur Gouvernementalität eindrucksvoll beschrieben. Extrem verkürzt (Lektüre lohnt sich!): Dem Staat gelingt es Menschen zu führen und ihnen gleichzeitig jedoch zu suggerieren, dass sie es sind, die Entscheidungen für sich treffen und eben nicht der Staat und damit auch jede beliebige Lebenssituation selbst herbeigeführt wurde. Äußere Faktoren, komplexe Zusammenhänge werden einfach komplett ausgeblendet.

Wenn ich diese Sichtweise durch das entwürdigende, halbjährliche Gespräch beim Fallmanager/der Fallmanagerin so massiv internalisiere, von allen Seiten mit dem Klischee des Arbeitslosen konfrontiert werde, wundert es dann eigentlich wirklich, wenn der Massenprotest gegen diese menschenunwürdige Sozialpolitik ausbleibt?

Das bewusst erzeugte Stigma hat jedoch noch einen weiteren Effekt: Es spaltet die Gesellschaft und macht sie empfänglich für das Geschäft mit der Armut. Dieses hat zwei Ebenen:

Zum einen übt es massiven Druck auf all jene aus, die durchschnittlich verdienen und Angst davor haben, in „Hartz IV“ abzurutschen. Es macht sie erpressbar zu miserablen Löhnen zu arbeiten und zähneknirschend Bedingungen zu akzeptieren, für die sie vor der Agenda 2010 jedem Chef den Vogel gezeigt hätten. Das Damoklesschwert über dem Kopf hat einen extrem disziplinierenden Effekt und bringt Menschen dazu, tatsächlich fast jede Arbeit anzunehmen. Den ArbeitgeberInnen wird dadurch das Geschäft ihres Lebens ermöglicht. Sie können sparen an Löhnen, Zusatzzahlungen und so genannten „Lohnnebenkosten“ (diese Kosten sind das, was den Betroffenen dann eben fehlt in der Krankheit, in der Arbeitslosigkeit, in der Rente, … welch schöner Euphemismus).

Zum anderen gedeiht das Geschäft mit der Armut auch im Bereich der so genannten „Maßnahmen“. Vor „Hartz IV“ erfolgreich arbeitende und tatsächlich auch sinnvolle Träger wurden häufig durch diese Konkurrenz schlicht platt gemacht. Oder können ihre ursprünglichen Angebote nur dann noch aufrechterhalten, wenn sie auch in den Markt mit „Arbeitsgelegenheiten“ (so genannte „Ein-Euro-Jobs“), Bewerbungstrainings, Coachings, etc. einsteigen und damit querfinanzieren. Viele kleine aber (in Wirklichkeit gar nicht so) feine Träger schaffen viele kleine, schöne und gar nicht schlecht bezahlte GeschäftsführerInnenpöstchen (in denen gerne auch mal die eigenen Parteikollegen versorgt werden) und vor allem: zahlreiche Ausbeutungsstrukturen für billige und leicht erpressbare (Sanktionskeule!) Arbeitskräfte. Offizielles Ziel: „Wiedereingliederung in den 1. Arbeitsmarkt“ Dass ich nicht lache. Wenn ich nur (vereinfacht ausgedrückt) 10 Jobs im Angebot habe, kann ich 200 Menschen durch so viele Coachings, Bewerbungstrainings und Selbstwertstärkungsmaßnahmen jagen wie ich will, es bekommen trotzdem nur 10 einen Job. Das kleine Einmaleins sollte doch nun wirklich jedeR beherrschen. Sollte man meinen. Aber nein: Teile und herrsche, ein bekanntes Spiel. Solange die Gesellschaft das Lied von der Armut als individuell und selbst verschuldetem Schicksal laut mitträllert, wird weiter munter die große Kohle mit den Ärmsten der Armen gescheffelt.

Diese monströse Hartz-IV-Maschinerie braucht das Stigma auf den Betroffenen. Genauso übrigens, wie die Sexindustrie und vor allem die Sexkäufer das Stigma auf den prostituierten Personen brauchen, um weiter zu machen wie bisher, bzw. das Ganze immer doller zu (be)treiben.

Natürlich ist es legitim, hier wie dort, zu fordern „Das Stigma muss weg“. Wer aber nur an dieser Oberfläche zu kratzen bereit ist und nicht bereit ist die strukturellen Rahmenbedingungen radikal zu verändern, wird nicht und niemals in der Lage sein die Ausbeutung zu stoppen. Die Ausbeutungsstrukturen leben von Hierarchien und sie nähren sich vom Stigma. Sie fressen sich dick und fett und immer fetter und verteilen den in unserer Gesellschaft zweifellos vorhanden Reichtum immer weiter von unten nach oben. Nur handelt es sich beim Kapitalismus nicht um ein essendes Lebewesen und die Hoffnung, irgendwann, wenn er das Fressen übertrieben hat, platzt er schon von alleine, wird leider niemals erfüllt werden. Hier ist es schon an uns „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“

Manuela Schon ist Stadtverordnete der Fraktion LINKE&PIRATEN in Wiesbaden und Gründungsmitglied der Linken Hilfe Wiesbaden e.V.

Bertelsmann – die Krake aus Gütersloh

Bertelsmann Gebäude

By Bertelsmann Media Relations [CC0], via Wikimedia Commons

Viel wurde geschrieben und gesagt über die Machtausübung in Deutschland durch den Bertelsmann Konzern oder die entsprechende Stiftung. Aber kaum jemand macht sich bewusst, wie weit diese Macht wirklich reicht.

Immer wieder wird eine neue Sau durchs Mediendorf gejagt, und das Ganze wirkt wie abgesprochen und geplant. Wie ist das möglich, tatsächlich, fragen wir uns oft. Allerdings wird im Falle von Bertelsmann nicht nur eine Sau durch die Medien gejagt, sondern dazu noch durch alle gesellschaftlichen Institutionen.

Die Bertelsmann SE & Co. KGaA mit Hauptsitz in Gütersloh ist ein internationaler Medienkonzern und wurde vor kurzem vom Institut für Medien- und Kommunikationspolitik (IfM) im internationalen Ranking für 2013 auf Platz 8 geführt. Was den Gesamtumsatz betrifft, ist Bertelsmann eines der größten Medienunternehmen weltweit und ist in über 50 Ländern präsentiert.

Zum Bertelsmann-Konzern gehören seit dem 1. Juli 2013 fünf Unternehmensbereiche: Gruner und Jahr, die  RTL Group, die Verlagsgruppe Penguin Random House, Arvato, und Be Printers Group, ebenso das BMG Rights Management.

Im Jahr 2000 entstand unter dem Namen RTL Group der größte Hörfunk- und Fernsehveranstalter Europas. Im selben Jahr wurde der Verkauf der Anteile an AOL Europe für 6,75 Milliarden US-Dollar verkündet durch Bertelsmann.

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Meine Bilanz zur Wende

Juggling on the Berlin Wall

By Yann Forget (Own work) [GFDL, CC-BY-SA-3.0 or CC BY-SA 2.0], via Wikimedia Commons

Mit der Wende hat sich die Zahl derjenigen vervielfacht, die mich für ziemlich mißraten halten. Meine DDR-Sozialisation wirkt sich für Beobachter nicht zu meinem Vorteil aus. Dabei hat sich an mir oder meinem Leben nicht viel geändert: Ich reagiere auf geänderte Umstände und mehr und andere Menschen reagieren auf mich.

Ich wohne in der gleichen Plattenbauwohnung, in der auch schon meine Eltern wohnten, zahle aber das Fünffache an Miete, im verharmlosten Verhältnis Ostmark gegen Euro. Verdiene aber nur das Doppelte, wieder Ostmark gegen Euro. Allerdings arbeite ich genauso lange, mindestens 40-Wochenstunden und habe dabei mehr Angst, es morgen nicht mehr zu dürfen. Unser Haus ist jetzt cremetortenfarbig, nicht mehr rostschotterrot. Es wohnen noch ein paar Leute da, die schon immer da gewohnt haben. Man kennt sich. Wir borgen uns Zucker und Mehl und gießen im Urlaub die Blumen. Heute habe ich zwei Kinder, aber das war schon in der DDR so geplant. Die Wende hat mich politisiert, ich bin jetzt Anarchistin. Daß darf ich heute sein, aber das muß ich auch heute sein, weil auch die BRD nicht die blühende Landschaft ist, die uns versprochen wurde, und auch sonst liegt vieles im Argen…

Den Artikel weiterlesen könnt ihr hier: http://das-blaettchen.de/2010/09/meine-bilanz-2381.html

Flüchtlinge: Beliebte Opfer von Menschen- und Organhändlern

Wien: Demo für alle

By Haeferl (Own work) [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons

Es gibt einen weltweit florierenden Welthandel mit Organen. Zunehmend wird auch die Notsituation von Flüchtlingen ausgenutzt um an „Nachschub“ zu kommen.

So ist zum Beispiel Ägypten zum regionalen Knotenpunkt für Organhandel geworden. Im Jahr 2010 wurden beispielsweise, wie die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) berichtet, ca. 14.000 Flüchtlinge aus Eritrea, dem Sudan und Äthiopien von Schleusern über die Grenze nach Israel gebracht und auf dem Weg dorthin von organisierten Kriminalitätsbanden abgefangen um Lösegeld zu erpressen. Zentral sind hier u.a. die Flüchtlingslager Mai Aini in Äthiopien und Shagarab im Sudan. Flüchtlinge, die nicht von ihren Familienmitgliedern freigekauft werden konnten wurden an Banden im Nord-Sinai verkauft, getötet und ihrer Organe beraubt. Ausgelöste Flüchtlingsfrauen berichten u.a. davon mit Elektroschockern traktiert und mit Stöcken vergewaltigt worden zu sein – teilweise mussten die Angehörigen dies zu Hause über das Telefon mit anhören. Ein CNN-Bericht aus dem Jahr 2012 berichtet davon, dass ein Menschenhändler seine eigene, aus einer Vergewaltigung entstandene drei Monate alte Tochter brutalst gefoltert und auf den Kopf geschlagen habe.

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Sterbehilfegesetz 2015: Sauberes Sterben im Kapitalismus

Seestern

By Britt1014 (Own work) [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons

 

Eine breite Auseinandersetzung mit diesem Thema, dem Sterben und dem Sterbehilfegesetz, ist unangenehm, besonders im Sommer und in diesen schönen Tagen. Leider ist es aber notwendig, denn nicht alle von uns haben ein schnelles, sanftes, und  überraschendes Einschlafen zu unserem Lebensende zu erwarten. Die Chance ist sehr groß, dass auch uns dieses Thema mehr betreffen wird, als wir hoffen. Verdrängung des Themas Tod und des Sterbens erlaubt uns zwar ein ruhiges Leben, aber es holt uns dann doch irgendwann ein. Vielleicht durch unsere eigene schwere Krankheit (oder lebenslimitierende, wie ich einmal in einer Klinik las), oder die schwere Erkrankung von FreundInnen oder Familie. Und das neue Sterbehilfegesetz kann uns dann selbst, direkt oder indirekt, auf überraschende Art und Weise selbst treffen.

Im Herbst 2015 soll ein neues Sterbehilfegesetz in Deutschland im Bundestag verabschiedet werden.

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„Das virtuelle Schlachtfeld – Videospiele, Militär und Rüstungsindustrie“

Buchcover: Das virtuelle Schlachtfeld

Michael Schulze von Glaßer: Das virtuelle Schlachtfeld - Videospiele, Militär, Rüstung, PapyRossa, 2014

Die Störenfriedas kritisieren nicht nur die Gewalt im Porno, die Gewalt gegen Frauen, sondern jede Art von Gewaltverherrlichung. Gerade in Computerspielen nimmt diese zum Teil erschreckende Formen an. Militarisierung, Militainment, die Verbindung von Krieg und Unterhaltung sind inzwischen Alltag. Deshalb freuen wir uns über den Gastbeitrag von David Redlberger aus Kassel mit einer Buchrezension zu „Das virtuelle Schlachtfeld“ von Michael Schulze von Glaßer. Dieser Artikel erschien zuerst auf sozialismus.info am 01. Juli 2014.

Andere Games sind möglich

Ego-Shooter werden immer anspruchsvoller und realistischer, Kooperationen zwischen Rüstungs- und Videospielindustrie nehmen zu, genau wie bewaffnete Auseinandersetzungen und imperialistische Konflikte. Diese und weitere Verbindungen beleuchtet Michael Schulze von Glaßer in seinem neuen Buch “Das virtuelle Schlachtfeld – Videospiele, Militär und Rüstungsindustrie“.

Es gibt politische GamerInnen und gamende AktivistInnen – ich kann mich mit beiden Begriffen identifizieren. Nicht nur deshalb habe ich mich sehr gefreut, dieses Buch zu lesen, denn es stößt in ein Vakuum. Meiner Erfahrung nach neigen viele GamerInnen dazu, beim Spielen komplett abschalten zu wollen, während einige politische AktivistInnen den Sinn von Videospielen, in welchen Militarismus und Kapitalismus gutgeheißen werden, nur schwer nachvollziehen können und deshalb auf (zu weite) Distanz zur Gaming-Szene gehen. Michael Schulze von Glaßers Buch richtet sich sowohl an GamerInnen als auch an AktivistInnen und ist dementsprechend angenehm einsteigerfreundlich geschrieben.

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Architekturpreis für Menschenfeindlichkeit?

anti-SDF, anti-homeless

By DC (Own work) [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons

Die Bilder der Metallspitzen vor Häusereingängen und Supermärkten in London, die zur Vertreibung obdachlos gewordener bestimmt waren, haben diesen Monat entschiedenen Protest erregt, der Wirkung zeigte.

Dass diese Praktiken, welche in besagten Spikes nur auf die Spitze getrieben werden, seit Jahren Teil unserer Realität sind, ist den wenigsten bekannt, die sich nicht selbst einmal in dieser Situation befunden haben.

Man gebe einmal „anti-homeless“ oder „anti-SDF“ bei Google Images oder Flickr ein, um ein Gefühl für das Ausmaß jener städtebaulichen Errungenschaften zu bekommen. Weiterlesen